Kämpfe nicht für „dein“ Land!
Das Schlachten in der Ukraine geht weiter, und ein erheblicher Teil der deutschsprachigen Linken ergreift Partei für den militärischen Widerstand des überfallenen Landes. Ein Angriffskrieg, geführt von einem finsteren Regime, teilweise völkisch legitimiert und gegen einen Staat gerichtet, der zwar nicht sozialistisch, ja nicht einmal astrein demokratisch-liberal ist, aber doch deutlich weniger autoritär als der russische – wer wollte da noch zögern? Zumal offenbar die gewaltige Mehrheit der Linken vor Ort sich in den militärischen Widerstand einreiht, ihn mit der Waffe in der Hand oder anderweitig unterstützt; antinational-defätistische Stimmen wie die, die wir auf COMMUNAUT (Siehe: Fragmente zum Krieg, Ukraine-Korrespondenzen I & II, Ukraine-Korrespondenzen III) dokumentiert haben, scheinen völlig randständig zu sein.
Und so befürworten nicht nur hierzulande Trotzkisten wie Feministinnen, sogenannte Antideutsche wie Anarchosyndikalistinnen und viele andere Linke Waffenlieferungen an die Ukraine, sammeln teilweise sogar selbst Geld dafür. Der folgende Text, bereits im März bei INTERNATIONALIST PERSPECTIVE erschienen, erhebt Einspruch dagegen. Seine Stärke besteht weniger in einer umfassenden Auseinandersetzung mit der Situation vor Ort, sondern eher in grundsätzlichen Erwägungen, die in den letzten Monaten in der Linken verblüffend schnell und vollständig an den Rand gedrängt worden sind. Er erweitert den Blickwinkel über das eigentliche Kriegsgeschehen hinaus, betrachtet die weltweite Aufrüstung vor dem Hintergrund der weltwirtschaftlichen Malaise, erinnert an die Geschichte des revolutionären Defätismus.
Wir veröffentlichen ihn als Beitrag zur Debatte, nicht aufgrund völliger Zustimmung. Ob zum Beispiel Krieg per definitionem „das größte aller Verbrechen“ darstellt, kann man bezweifeln; von der Sklaverei in den amerikanischen Südstaaten über den deutschen Nationalsozialismus bis zum massenmörderischen Regime der Roten Khmer in Kambodscha hat es in der Geschichte immer wieder andere Verbrechen gegeben, die auch revolutionären Linken den Krieg als kleineres Übel erscheinen ließen oder sie zumindest vor riesige Dilemmata stellten. Ebenso ist es zwar richtig und in der jetzigen Situation dringend geboten, an die Kriegspropaganda im sogenannten freien Westen zu erinnern; doch dass zwischen der Gleichschaltung der Medien in Russland und der öffentlichen Debatte in westlichen Ländern ein Unterschied besteht, man hierzulande selbst aus dem Staatsfunk ein wesentlich treffenderes Bild des Krieges erhält als aus den Kanälen des Putin-Regimes, droht in dem Beitrag verwischt zu werden.
Weitere Beiträge zum Krieg in der Ukraine sind in Vorbereitung; wir hoffen auf rege Diskussion.
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Alle hassen den Krieg. Vor allem die Menschen, die andere Menschen aufs Schlachtfeld schicken, wo sie ihr Leben hingeben. Sie verabscheuen den Krieg, behaupten sie, aber leider zwinge die andere Seite sie dazu. Die andere Seite, die in unsere traditionellen Jagdgebiete eindringt. Die andere Seite, die in ein „souveränes“ Land einmarschiert. Wir haben keine Wahl! Wir müssen uns verteidigen... Die unerbittliche Propaganda beider Seiten zwingt jeden, sich für eine Seite zu entscheiden, zum aktiven Teilnehmer oder Befürworter des Krieges zu werden. Denn die andere Seite ist wirklich grauenhaft. Und das ist sie tatsächlich immer.
Der russischen Armee werden „Kriegsverbrechen“ vorgeworfen – ein seltsamer Begriff. Im Grunde ist er redundant, denn Krieg ist per definitionem ein Verbrechen, das größte aller Verbrechen. Was auch immer das Ziel ist, die Mittel bestehen stets in Massenmord und Zerstörung. Es gibt keinen Krieg ohne grausame Massaker. Der Begriff suggeriert, dass es zwei Arten der Kriegsführung gibt: eine zivilisierte und eine verbrecherische. Sollte es einen solchen Unterschied jemals gegeben haben, dann haben die Fortschritte der Militärtechnologie ihn verwischt. Seit dem frühen 20. Jahrhundert ist der Anteil der zivilen Opfer in Kriegen stetig gestiegen. Im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) waren noch mehr als 90 Prozent aller Kriegstoten Kombattanten. Im Ersten Weltkrieg stieg der Anteil der zivilen Opfer auf 59 Prozent, im Zweiten Weltkrieg auf 63 und im Vietnamkrieg auf 67 Prozent. In den diversen Kriegen der 1980er Jahre lag er bei 74 Prozent, um im 21. Jahrhundert auf 90 Prozent zu klettern. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurden noch nie so viele Menschen durch einen Krieg vertrieben wie heute. Der Unterschied zwischen Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen, zwischen militärischen und zivilen Zielen ist in der heutigen Kriegsführung weitgehend verschwunden. Je mehr Zerstörungskraft jede Seite einsetzt, umso größer die „Kollateralschäden“ in der Zivilbevölkerung. Je mehr der Krieg in der Ukraine eskaliert, umso mehr einfache Menschen kommen ums Leben, umso mehr wird das Land zu einem Trümmerfeld.
Was ein Kriegsverbrechen darstellt oder nicht, ist insofern Ansichtssache. So wie „Terrorismus“ zu einem billigen Schimpfwort geworden ist, das in jedem Konflikt dem Gegner entgegengeschleudert wird, ist die Rede von Kriegsverbrechen ein als Anschuldigung getarnter Vorwand. „Terrorismus“, von Massenmedien und Politiker*innen zum größten aller Übel erklärt, impliziert, dass zu seiner Bekämpfung jedes Mittel recht ist: der perfekte Vorwand, um selbst Terror einzusetzen. Genauso rechtfertigt der Vorwurf der „Kriegsverbrechen“ die Verbrechen, die „unsere“ Seite begeht und die „unsere“ Medien kaum oder gar nicht erwähnen. Man denke an den Jemen, wo die saudischen Streitkräfte die Zivilbevölkerung viel schlimmer bombardiert und ausgehungert haben, als es die russische Armee bisher in der Ukraine getan hat. Ohne britische und amerikanische militärisch-technische Unterstützung und Waffenlieferungen hätte die saudische Luftwaffe kaum eine Woche durchgehalten. Ist das auch „ein Krieg für die Demokratie“? Diese Gräueltaten finden bis heute statt, aber die Medien interessieren sich nicht dafür: Gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen. Hier gibt es keine Kriegsverbrechen.
Moderner Krieg
In Kriegszeiten lässt sich die Grenze zwischen Propaganda und Berichterstattung bekanntlich nur schwer ziehen. Wenn die russische Armee einen (fehlgeschlagenen) Raketenangriff auf den Fernsehturm in Kiew durchführt, sprechen die westlichen Medien von einem Kriegsverbrechen; als die NATO 1999 den Belgrader Radio- und Fernsehturm (erfolgreich) bombardierte, war dies „ein legitimes militärisches Ziel“.
Dass die „speziellen Militäroperationen“ der russischen Armee verbrecherisch sind, wurde in Grosny und Aleppo hinlänglich bewiesen, um nur die drastischsten jüngeren Beispiele für Städte zu nennen, die sie in Schutt und Asche gelegt hat. In der Ukraine ist sie noch nicht so weit gegangen, vielleicht weil der Vorwand für den Einmarsch lautet, dass die Ukrainer ein „Brudervolk“ seien, das es zu befreien gelte. Aber um seine militärischen Ziele zu erreichen, muss Russland den Krieg verstärken und das „Brudervolk“ mit seiner überlegenen Zerstörungskraft bezwingen. Die Logik des Krieges treibt den russischen Einmarsch zu einer Eskalation der Verwüstung.
Wir sollten nicht so tun, als sei dies ein russisches Phänomen. In den Golfkriegen haben die Amerikaner Bunker in Bagdad mit eigens dafür geschaffenen Bomben angegriffen, Hunderte von zivilen Todesopfern waren die Folge. Viele weitere Tote waren 1991 zu beklagen, als irakische Soldaten, die sich auf dem Rückzug befanden, auf dem „Highway of Death“ durch Luftangriffe massakriert wurden. In den Kriegen, die der Westen im Irak und in Afghanistan geführt hat, sind mehr als 380 000 Zivilist*innen umgekommen. Auch die zahllosen Drohnenangriffe, die das US-Militär seither durchgeführt hat, lassen keine Rücksicht auf den Unterschied zwischen Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen erkennen. Ganz zu schweigen von dem, was Washingtons treuester Vasall Israel in Gaza getan hat. Sie sind alle dazu fähig. So sieht moderne Kriegsführung aus.
Krieg bietet dem Staat einen idealen Rahmen, um die Kontrolle über seine Bürger*innen zu verstärken. Sehr deutlich zeigt sich das zurzeit in Russland, wo man 15 Jahre Gefängnis riskiert, wenn man den Krieg einen Krieg nennt, wo Proteste gegen den Krieg brutal niedergeschlagen und alle Medien, die kein Kreml-Sprachrohr sind, zum Schweigen gebracht werden. Aber es zeugt von der Schwäche des Regimes, dass es solche nackte Repression braucht. In der Ukraine ist das natürlich nicht der Fall. Dort stehen alle hinter Selenskyj. Zumindest, soweit man uns Einblick erlaubt. In den vielen Interviews mit Ukrainer*innen in westlichen Medien hört man nie jemanden, der Opposition oder gar Zweifel am Krieg bekundet, obwohl wir aus sozialen Medien und eigenen Quellen wissen, dass es solche Menschen gibt. Aber laut den Medien sind in der Ukraine alle bereit, für die Nation zu sterben. Selenskyj hielt es trotzdem für notwendig, ein Ausreiseverbot für alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren zu erlassen. Jeder muss als Kanonenfutter für das Vaterland zur Verfügung stehen. Er hielt es auch für notwendig, Oppositionsparteien zu verbieten und alle Fernsehkanäle per Dekret zu einer „einzigen Informationsplattform für strategische Kommunikation“ zusammenzulegen. Alles im Namen der Verteidigung der Freiheit. Die Medien, die die ukrainische Bevölkerung dazu aufrufen, so viele „russische Kakerlaken“ wie möglich zu töten, dürfen natürlich weiter ihr Gift versprühen. Viele westliche Medien haben sich entschieden, über Selenskyjs autoritäre Maßnahmen nicht zu berichten – selbst die New York Times mit ihrem berühmten Motto „All the news that‘s fit to print“. Da solche Nachrichten nicht zum Bild eines Kriegs für die Demokratie passen würden, sind sie eben nicht „fit to print“.
Lügner
Die russische und die ukrainische Regierung behaupten beide, Zensur sei notwendig, um die Bevölkerung vor Desinformation zu schützen. Auch das ist ein heikler Begriff. Wie bei „Kriegsverbrechen“ und „Terrorismus“ liegt es „im Auge des Betrachters“, wann er zutrifft. Natürlich wimmelt es in den sozialen und anderen Medien von Desinformationen. Aber wer befindet darüber? In Russland entscheidet der Staat, wer sprechen darf und wer schweigen muss. Im Westen ist diese Aufgabe weitgehend an die Privatunternehmen ausgelagert, denen die Massenmedien und Social-Media-Plattformen gehören, aber auch sie stehen unter dem Druck der Regierung. „Wir werden die Medienmaschine des Kreml in der EU verbieten. Die staatlichen Unternehmen Russia Today und Sputnik sowie ihre Tochtergesellschaften dürfen nicht länger ihre Lügen verbreiten, die Putins Krieg rechtfertigen. Wir entwickeln Instrumente, um ihre giftigen und schädlichen Desinformationen in Europa zu verbieten“, erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Tatsächlich sind staatsloyale russische Nachrichtensender und andere Quellen, die nicht der prowestlichen Linie folgen, auf Facebook und anderen großen Social-Media-Plattformen nicht mehr zugänglich. Aber Zensur soll man es nicht nennen, die betreibt allein der Feind.
In Russland und im Westen wird der Bevölkerung jeweils ein ganz unterschiedliches Bild des Krieges vermittelt. Sie wird belogen, insbesondere durch die Entscheidung der Medien, was sie zeigen oder besser nicht zeigen. Die russische Zuschauerin sieht zum Beispiel immer wieder Bilder von Menschen in der Ukraine, die schildern, dass sie von Ultranationalisten geschlagen und bedroht wurden, weil sie Russisch gesprochen haben; der westliche Zuschauer sieht immer wieder, wie sich Mütter mit Tränen in den Augen von ihren Ehemännern verabschieden, die ihre Bereitschaft beteuern, für die Ukraine zu sterben. Beide Arten von Bildern sind vermutlich real, aber jede Seite wählt aus, was in ihre Propagandaerzählung passt.
Im Westen handelt die Geschichte von einem standhaften Underdog, der sich mutig gegen einen bösartigen Tyrannen verteidigt. Natürlich jubeln wir den tapferen Helden zu, natürlich helfen wir ihnen, natürlich schwenken wir die gelb-blaue Flagge. So einfach ist das.
Die russische Version ist nicht besonders subtil, sie besteht aus einem Sammelsurium von Anschuldigungen im plumpen Stil der Sowjetpropaganda: Die Ukraine leidet unter einem korrupten, neonazistischen, völkermörderischen Regime; wir führen keinen Krieg gegen die Ukraine, wir verhindern nur, dass sie zu einem Außenposten der NATO wird, zu einer Bedrohung für unser Heimatland. Wir kämpfen für eine Welt ohne Nazis. Mit denselben fadenscheinigen Vorwänden rückten einst sowjetische Panzer in Budapest und Prag ein.
Wie jede Propagandageschichte enthält auch diese ein Körnchen Wahrheit. Die NATO-Ostexpansion ist real, und in der Ukraine gibt es tatsächlich eine ultranationalistische Strömung und faschistische Gruppen wie Swoboda und das (mittlerweile in die ukrainische Armee integrierte) Asow-Bataillon, die Schwule, Feministinnen, Roma und Russisch sprechende Menschen angreifen. Wie in zahllosen anderen Ländern erhebt die extreme Rechte in der Ukraine ihr hässliches Haupt. Aber das heißt nicht, dass das politische System dort faschistisch ist. Zumindest nicht so sehr wie in Russland. Und völkermörderisch? Was das russische Militär in Syrien und Tschetschenien getan hat, war unendlich schlimmer.
Wer einen Hund prügeln will, findet immer einen Stock. Alle Staaten lügen, wenn ihre Armeen in den Krieg ziehen, die USA ebenso wie Russland. Die Begründung für den US-Einmarsch in den Irak waren Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen und seine Verbindungen zu Al Qaida; beides gab es nicht.
Worum es wirklich geht
In Wirklichkeit geht es um imperialistische Rivalität. Denn so global die Welt auch geworden ist, sie beruht auf wirtschaftlicher Konkurrenz, die zu einer militärischen wird und sich je nachdem, was die Umstände erfordern, als kalter oder heißer Krieg darstellt – Umstände wie Machterosion, Eroberung oder drohender Verlust von Märkten, Wirtschaftskrisen. Wir leben in einem System, das mit den Bedürfnissen der Menschheit brutal kollidiert, das sich im Krieg mit dem Planeten, mit dem Leben befindet. Der einzige Krieg, der Sinn ergibt, besteht darin, sich zu wehren und das kapitalistische System zu stürzen.
Der Kalte Krieg ist nicht zu Ende, er wurde allenfalls unterbrochen. Der Warschauer Pakt hat sich aufgelöst, die NATO nicht. Jelzins Vorschlag, auch Russland könne ihr beitreten, war natürlich nicht praktikabel: Die Daseinsberechtigung der NATO bestand darin, Russland in Schach zu halten. Es entbrannte eine heftige Diskussion darüber, ob es die NATO noch brauche, nachdem nun auch Russland ein kapitalistisch-demokratisches Land geworden war. In der Praxis wurde die Frage bejaht. Entgegen früheren Versprechen rückte die NATO bis an die Grenzen Russlands vor; 14 ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten sind dem antirussischen Bündnis beigetreten, in Polen und Rumänien entstanden US-Raketenbasen. Die Ukraine war die letzte Etappe dieser Offensive, aus Profitgründen, aber mehr noch zur Eindämmung Russlands. Zwar wurde sie noch nicht Mitglied der NATO, begann jedoch, militärisch mit dem Westen zusammenzuarbeiten.
Mit der NATO erweiterte sich auch der Markt für die amerikanische und übrige westliche Rüstungsindustrie, da die neuen Mitglieder ihre Waffenarsenale an die Standards des Bündnisses anpassen müssen. Um diese Normen zu erfüllen, stiegen Polens Militärausgaben von 2011 bis 2020 um 60 Prozent und Ungarns von 2014 bis 2020 um 133 Prozent. Die Kassen klingelten. Die NATO-Osterweiterung war aber auch von der Erkenntnis getrieben, dass Russland mit seiner Militärmacht und insbesondere seinem Atomwaffenarsenal eine potenzielle Bedrohung für die pax americana bleibt. Es ist noch immer das einzige Land, gegen das die USA keinen Krieg führen können, ohne ihre eigene praktisch totale Zerstörung zu riskieren – genau wie während des Kalten Krieges, der insofern nicht zu Ende gegangen ist. Washingtons Strategie hat sich nicht geändert: Es gilt Russland einzudämmen, seine Einflusssphären zu beschneiden und seine Macht zu schwächen, ohne in eine direkte Konfrontation zu treten. Während des Kalten Krieges wurde dieser Konflikt mit Staatsstreichen und nationalen Befreiungsbewegungen ausgetragen. Heute ist die Ukraine der eifrige Freiwillige, der für den „freien Westen“ stirbt, angeführt von dem „sympathischen“ Schauspieler und Millionär Selenskyj, der so kämpferisch gestimmt ist, dass er genau wie Che Guevara während der Kuba-Krise den Konflikt notfalls bis zum Weltkrieg eskalieren lassen würde. Darin nämlich bestünde die Gefahr, würde seiner Forderung nach einer „Flugverbotszone“ – einem Luftkrieg zwischen der NATO und Russland – nachgekommen. Wie Che wird er seinen Willen nicht durchsetzen können: Die direkte Konfrontation bleibt tabu. Das ist ein Grund, warum es irreführend sein kann, Parallelen zu Kriegen vor dem Atomzeitalter zu ziehen.
Der Feind lässt sich nicht mehr als „kommunistische Gefahr“ zeichnen, aber das macht Russland nicht zu einem gewöhnlichen kapitalistischen Land wie dem unseren. Die Reichen dort sind keine Kapitalisten wie bei uns, sondern „Oligarchen“. Wer sind sie, diese Oligarchen? Milliardäre, die durch Korruption, Ausbeutung und Spekulation reich geworden sind und ihr Vermögen gerne durch protzigen Luxuskonsum zur Schau stellen. Mit anderen Worten: Kapitalisten. Das Sprichwort „Hinter jedem großen Vermögen steht ein großes Verbrechen“ wurde nicht in Russland erfunden, aber dort ist „das große Verbrechen“ noch ganz frisch. Die neue kapitalistische Klasse in Russland besteht zu einem großen Teil aus Mitgliedern der alten kapitalistischen Klasse, aus ehemaligen Fabrikdirektoren, Parteibossen und Bürokraten der pseudokommunistischen UdSSR, die bei der Privatisierung von Staatsvermögen wie Gauner abkassiert haben. Die privilegierte Klasse blieb die privilegierte Klasse, nunmehr als private Kapitaleigner. Aber auch als Manager des Staates. Die Interessen der Privatkapitalisten sind mit dem Staatsapparat verflochten und ihm unterworfen; Putin scheint ihn bislang fest in der Hand zu haben.
Die Auflösung der Sowjetunion und die Privatisierung der staatskapitalistischen Zentralverwaltungswirtschaft war das Ergebnis einer Krise, die in erster Linie durch die erdrückenden Kosten der Aufrechterhaltung ihres Imperiums und den Unwillen der Arbeiterklasse verursacht wurde, mehr zu arbeiten und weniger zu verdienen. Aber auch das Verlangen von Mitgliedern der herrschenden Klasse, nicht nur Kapitalverwalter, sondern auch private Kapitaleigner zu sein, die Zugang zur gesamten Welt des Kapitals haben, war ein wichtiger Faktor.
Sie plünderten die Wirtschaft, während der durchschnittliche Lebensstandard drastisch sank. Russlands BIP betrug 1998 nur noch ein gutes Drittel des Wertes im letzten Jahr der UdSSR, die Industrieproduktion war um 60 Prozent zurückgegangen. Doch ab 1999 begannen die Preise für seine wichtigsten Exportprodukte Öl und Gas zu steigen. Das führte zu einem Aufschwung, der die Lebensbedingungen verbesserte. Der Staat konsolidierte sich, wobei der Sicherheitsapparat im Zentrum der Macht stand. Unter der Führung Putins, einem ehemaligen KGB-Offizier, ließ Russland erneut die Muskeln spielen. Das Militär wurde in einem solchen Ausmaß wieder aufgebaut, dass die russische Rüstungsindustrie (in der mehr als 2,5 Millionen Menschen beschäftigt sind) mit Überproduktion zu kämpfen hatte. Dieses Militär stellte im Inland (Tschetschenien), in Nachbarländern (Georgien, Kasachstan) und in weiter entfernten (Syrien) auf blutige Weise die „Ordnung“ wieder her.
Im Jahr 2015 lag die Industrieproduktion jedoch immer noch unter dem Niveau von 1990. Nur der Öl- und Gassektor übertraf das Produktionsniveau vor der Privatisierung. Doch 2015 begann der Ölpreis erneut zu sinken und mit ihm die russische Wirtschaftsleistung. Das BIP fiel von 2,29 Billionen Dollar (2013) auf 1,48 Billionen Dollar (2020) und damit auf weniger als das von Texas.
Die Herausforderungen für das russische Kapital waren also vielfältig: Es musste die Marktposition seiner wichtigsten Exportindustrie, Öl und Gas, verteidigen, gleichzeitig seine Abhängigkeit von ihr verringern – aufgrund wilder Preisschwankungen und einer ungewissen Zukunft sind Öl und Gas eine unzuverlässige Stütze für eine schwächelnde Wirtschaft – und entweder die Überkapazitäten in der Rüstungsindustrie abbauen oder ihre Produkte tatsächlich verbrauchen; und es musste die Tatsache verbergen, dass es der Arbeiterklasse nichts zu bieten hat, und die Proletarier*innen von ihren elenden Zuständen ablenken, indem es sie in eine nationalistische Kampagne gegen einen ausländischen Feind verwickelt, dem es die Schuld an den immer schlechteren Lebensbedingungen gibt. Alles Faktoren, die eine imperialistische Aggression nahelegen.
Die Ukraine ist eine attraktive Beute. Sie verfügt über die größten Eisenerzvorkommen der Welt, Gas und andere Bodenschätze, hervorragendes Ackerland, Industrie, Schiffbau, Häfen... Sie hat auch eine moderne Rüstungsindustrie, die mit der russischen konkurriert, was einer der Gründe ist, warum Moskau auf der „Entmilitarisierung“ der Ukraine besteht. Und dann sind da noch die Pipelines, die das russische Gas und Öl durch die Ukraine nach Westeuropa leiten. Natürlich will Russland sie kontrollieren.
Russland liefert 45 Prozent der europäischen Gaseinfuhren über diese Pipelines, aber in den letzten Jahren haben die USA an seinen Marktanteilen genagt. Es ist der drittgrößte Erdgasproduzent der Welt; die USA sind der größte, und ihre Gasindustrie hat dank neuer und umweltschädlicher Fördermethoden (Fracking) ein rasantes Wachstum erlebt. In letzter Zeit kämpft sie jedoch mit Überkapazitäten und sucht aggressiv nach neuen Märkten. Seit 2018 ist der Export in die meisten EU-Länder und Großbritannien stark gestiegen. Die Ausnahme war Deutschland, die Endstation der neuen Nordstream-2-Pipeline unter der Ostsee, die die Ukraine umgeht. Sie ist noch nicht in Betrieb genommen worden, und so wie es jetzt aussieht, wird sie es wohl nie werden. Sie war die Hoffnung des deutschen Kapitals auf eine stabile und kostengünstige Energieversorgung und auf eine Ausweitung der Handelsbeziehungen mit Russland im Allgemeinen. Jetzt ist Deutschland wieder zurück ins Glied getreten und investiert in neue Terminals für die Lieferung von Flüssiggas aus den USA, derweil stark umweltbelastende Kohlekraftwerke neue Laufzeiten erhalten. Die EU-Kommission hat einen Plan angekündigt, um russische Gasimporte bis zum nächsten Winter um zwei Drittel zu reduzieren und bis 2027 ganz einzustellen. Und auch wenn dieses Ziel vielleicht nicht ganz erreicht werden kann, ist die Richtung klar. Soweit der Krieg in der Ukraine ein Krieg um den europäischen Energiemarkt ist – und das ist eindeutig ein Teil des Gesamtbildes –, haben die USA ihn bereits gewonnen.
Der aktuelle Waffengang kommt nicht aus heiterem Himmel. Der Kampf um die Ukraine schwelt schon seit 2008, und im Jahr 2014 wurde er zu einem offenen Krieg. Seitdem wird die ukrainische und die russische Bevölkerung mit patriotischer Kriegspropaganda überschwemmt. Die Ukrainer*innen haben das Pech, in einem Land zu leben, das weder Moskau noch Washington der Gegenseite überlassen will. Es erinnert an das Urteil König Salomons, als zwei Frauen gleichermaßen die Mutterschaft für ein Kind beanspruchten. Salomo sagte: „Dann werde ich das Kind in zwei Hälften schneiden und jeder eine Hälfte geben.“ Darauf sagte die echte Mutter: „Nein, gebt es ihr ganz.“ Aber im Fall des Babys Ukraine sagen beide Frauen: „Zerhack es!“
Desertiert!
Fake News und seriöse Nachrichten sind inzwischen so vermischt, dass es schwierig ist zu verstehen, was genau in der Ukraine und in Russland passiert. Am 27. Februar hieß es zum Beispiel, dreizehn ukrainische Soldaten auf der „Schlangeninsel“ hätten sich entschieden, für das Vaterland zu sterben. „Fick dich“, sollen sie auf die Aufforderung eines russischen Kriegsschiffs, sich zu ergeben, geantwortet haben. In den ukrainischen und allen westlichen Medien wurde ihr Heldentum in den höchsten Tönen gelobt, ihre Statuen waren sozusagen schon in Auftrag gegeben. Man konnte es kaum glauben. Waren diese Soldaten so von der Propaganda berauscht, dass sie einen sinnlosen Tod in Kauf nahmen? Hofften sie, wie Selbstmordattentäter, im Jenseits belohnt zu werden? Niemandem nützt ihr Tod. Sie sollten nicht als Helden gefeiert, sondern als Opfer des patriotischen Wahnsinns betrauert werden.
Zum Glück stellte sich aber ziemlich schnell heraus, dass die Soldaten sich klugerweise doch ergeben hatten. Doch auch nachdem sie im russischen Fernsehen lebendig und wohlauf gezeigt wurden, versäumten es viele westliche Medien, darüber zu berichten.
Für die Heimat zu kämpfen, liegt nicht im Interesse der großen Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung. Was auch immer die Vorteile sein mögen, in einem Land zu leben, das in die NATO und die EU integriert ist, sie wiegen die Nachteile des Krieges nicht auf. Wenn in ein paar Wochen, Monaten oder Jahren die Waffen schweigen und sich der Rauch über den bombardierten Städten verzogen hat, werden die Ukrainer*innen ein vergiftetes Land voller Ruinen und Massengräber haben. Und die westlichen Staaten dürften dann weniger großzügig mit Geld für den Wiederaufbau sein, als sie es jetzt mit Waffenlieferungen sind.
Angenommen, die Ukraine „gewinnt“ den Krieg: Was werden die Menschen dort gewonnen haben? Die „Ehre der Nation“? Die Freiheit? Nach dem Ende des Krieges werden Selenskyj und die ukrainischen „Oligarchen“ immer noch reich sein, aber auf die „normale“ Bevölkerung wartet nur tiefes Elend.
Die bislang beste Nachricht über den Krieg lautet, dass einige russische Soldaten ihre eigene Ausrüstung sabotieren und desertieren. Wie viele, ist unklar. Wir können nur hoffen, dass es zu massenhafter Desertion kommt – auf beiden Seiten; dass sich russische und ukrainische Soldaten verbrüdern und ihre Waffen gegen ihre Führer richten, die sie in den Tod geschickt haben; dass russische und ukrainische Arbeiter*innen gegen den Krieg streiken. Friedensdemonstrationen allein können den Krieg nicht beenden, solange die Bevölkerung ihn mit all seinen Folgen weiter erträgt. Das wird erst dann möglich, wenn sich die große Masse, die Arbeiterklasse, gegen den Krieg wendet. Der Erste Weltkrieg wurde durch den Aufstand der Arbeiterklasse gegen den Krieg gestoppt, zuerst 1917 in Russland und ein Jahr später in Deutschland. Doch das ist lange her. Heute liegt in Russland keine Massenrevolte in der Luft, aber die katastrophalen Folgen des Krieges könnten einen schlafenden Riesen wecken.
Sowohl in Russland als auch in der Ukraine hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich stark vergrößert. In beiden Ländern verstecken die „Oligarchen“ (Putin und Selenskyj eingeschlossen) ihr Vermögen in Offshore-Finanzplätzen und zahlen wenig oder gar keine Steuern. Unterdessen sind die realen Durchschnittslöhne in der Ukraine seit zwölf Jahren nicht mehr erhöht worden, die Preise hingegen stark gestiegen. Die Sozialausgaben wurden von mehreren ukrainischen Regierungen von 20 Prozent des Haushalts im Jahr 2014 auf heute 13 Prozent gekürzt. Die große Mehrheit der Bevölkerung war bereits arm und wird nach dem Krieg noch viel ärmer sein. Ihre Interessen und die der herrschenden Klasse sind nicht die gleichen. Genau wie in Russland. In der Ukraine töten sich russische und ukrainische Soldaten gegenseitig für Interessen, die ihren eigenen zuwiderlaufen.
Ein Zufall?
Wir wissen nicht, wie dieser Krieg enden wird. Vielleicht wird es eine Art Kompromiss geben, der es beiden Lagern erlaubt, zu behaupten, sie hätten gewonnen, und der in Wirklichkeit nur eine Atempause in Erwartung des nächsten Krieges ist.
Seit der Großen Rezession von 2008 befindet sich die Weltwirtschaft in einer tiefen Krise, ihre Rentabilität ist auf einen historischen Tiefststand gesunken. Der Zusammenbruch konnte schließlich nur durch eine gigantische Geldschöpfung und eine massive Verschuldung auf Kosten der Zukunft vermieden werden. Zur Jahrtausendwende belief sich die weltweite Schuldenlast auf 84 Billionen Dollar. Als die Krise 2008 begann, lag sie bei 173 Billionen, und seitdem ist sie um 71 Prozent auf 296 Billionen (2021) gestiegen. Das sind 353 Prozent des gesamten Jahreseinkommens aller Länder zusammengenommen!
Die Inflation schießt in den Himmel, und es gibt keinen Plan, keine Aussicht, mit „normalen“ Mitteln wieder aus dem Tief herauszukommen. Steuern erhöhen oder senken, Ausgaben steigern oder eindämmen, die Geldmenge reduzieren oder ausweiten – nichts hilft gegen die Krise des Systems, das auf Wachstum, auf Wertakkumulation angewiesen, aber zunehmend unfähig ist, sie zu erreichen. Die Wiederherstellung günstiger Bedingungen für die Wertakkumulation erfordert eine Entwertung des vorhandenen Kapitals, eine Beseitigung von „totem Holz“ in großem Umfang.
Ist es ein Zufall, dass in einer Zeit wachsender wirtschaftlicher Unsicherheit und auswegloser Krisen zugleich die weltweiten Militärausgaben Jahr für Jahr gestiegen sind und die Zahl der militärischen Konflikte stark zugenommen hat?
Auf nahezu allen Kontinenten wüten Kriege und nehmen die Spannungen zu. Die USA und China haben ihre Aufrüstung beschleunigt und rechtfertigen sie unter Verweis auf die der jeweils anderen Seite. Die weltweiten Rüstungsausgaben sind im vergangenen Jahrzehnt um 9,3 Prozent (in konstanten Dollars berechnet) gestiegen und überschreiten nun jährlich die Marke von 2 Billionen Dollar. Die mit Abstand größten Ausgaben tätigen die USA mit rund 778 Milliarden Dollar im Jahr 2020, bei einem Anstieg von 4,4 Prozent zum Vorjahr; alle anderen, auch die Russlands (61,7 Milliarden im Jahr 2020 mit einem Anstieg von 2,5 Prozent zum Vorjahr) nehmen sich daneben winzig aus. Die gesamten Militärausgaben in Europa waren 2020 um 16 Prozent höher als 2011. Selbst die durch die Pandemie ausgelöste Rezession konnte den Trend nicht bremsen. Während das globale BIP im Jahr 2020 um 4,4 Prozent schrumpfte, stiegen die weltweiten Rüstungsausgaben um 3,9 Prozent und 2021 um 3,4 Prozent. Der Krieg in der Ukraine beschleunigt diesen Prozess. Das Geschäft der Waffenproduzenten wird in den kommenden Jahren boomen.
Europa ist wieder einmal der Ausgangspunkt eines möglichen Weltenbrandes. Aber es gibt wichtige Unterschiede zu vergleichbaren Momenten in der Geschichte des letzten Jahrhunderts. Erstens bremst der Faktor Atomwaffen die Eskalation, und zweitens ist die Wirtschaft so globalisiert wie nie zuvor. Die Interessen sind derart miteinander verflochten, dass niemand einen Feind wirtschaftlich bestrafen kann, ohne sich ins eigene Fleisch zu schneiden. Russland ist nur die elftgrößte Volkswirtschaft und sein Hauptexportgut, Öl und Gas, ist von Sanktionen vorerst weitgehend verschont geblieben. Während Europa massenhaft Waffen in die Ukraine schickt, um Russland zu bekämpfen, fließen russisches Öl und Gas weiterhin über die Ukraine nach Europa. Auch diese gegenseitige Abhängigkeit setzt der Eskalation Grenzen.
Diese beiden Hemmnisse für eine Eskalation sind jedoch keine absolute Garantie. Wo die rote Linie verläuft, die der Gegner keinesfalls überschreiten darf, kann zu einer Auslegungssache werden, insbesondere für die unterlegene Seite. Russland hat 2020 eine neue Präsidialdirektive zur atomaren Abschreckung veröffentlicht, in der die Schwelle für den Einsatz von Nuklearwaffen gesenkt wurde, „um eine Eskalation militärischer Operationen oder ihre Beendigung unter für Russland und seine Verbündeten inakzeptabelen Bedingungen zu vermeiden“. Die Schwelle kann zunächst durch den Einsatz von „schmutzigen Bomben“ (die konventionellen Sprengstoff mit radioaktivem Material kombinieren), chemischen oder biologischen Waffen gesenkt werden. Von dort aus scheint dann eine Eskalation zu taktischen Atomwaffen kein allzu großer Schritt mehr zu sein. Und so weiter. Es wäre jedenfalls töricht, auf die Vernunft der herrschenden Klasse zu vertrauen, solche Schritte nicht zu unternehmen.
Auch die Verflechtung der wirtschaftlichen Interessen bietet keine Garantie, wie die gegenwärtige Situation verdeutlicht. Der Krieg ist für die Wirtschaft sowohl Russlands als auch der Ukraine katastrophal, in beiden Ländern wird die Kapitalistenklasse weniger Profit machen, und auch die Weltwirtschaft als Ganzes wird darunter leiden, vor allem unter den Wirtschaftssanktionen, die in ihrer Härte überraschend sind. Das alles ist schlecht für den Profit, und doch ist es die Jagd nach Profit, die den Krieg in Gang setzt. Zusammen mit den Sanktionen wird er die kommende Rezession, die ohnehin unvermeidlich war, beschleunigen und vertiefen, doch jetzt kann man ihm die Schuld dafür geben. Biden wird sie „Putins Rezession“ nennen, und Putin wird den Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland dafür verantwortlich machen.
Mit der Verschärfung des Sanktionsregimes nach dem Krieg wäre der Keim für zukünftige Konflikte gelegt. In der gegenwärtigen Dynamik des Kapitalismus hieße dies, die Profite zugunsten des Sieges im Krieg zu opfern. Da die Sanktionen protektionistisch sind, richten sie sich gegen die Globalisierungstendenz des Profitstrebens. Die Handelsbeziehungen werden unterbrochen, die logistischen Verbindungen gekappt. Die Kriegswirtschaft legt aber auch ihre Neuordnung nahe. Die von den Sanktionen betroffenen Länder – Russland, Iran, Nordkorea und in Zukunft möglicherweise China – könnten sich gegen den gemeinsamen Feind verbünden. Die geostrategischen Auswirkungen des Krieges werden Gegenstand eines anderen Artikels sein. Worauf es hier ankommt, ist, dass wir uns nicht auf die Globalisierung als Schutz vor einem globalen Krieg verlassen können.
Aber es gibt einen dritten, entscheidenden Unterschied zu der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Er betrifft das Bewusstsein. Was jede herrschende Klasse benötigt, um die eigene Bevölkerung für eine rückhaltlose Kriegsanstrengung zu gewinnen, ist die Zerstörung von Klassenbewusstsein, die Atomisierung der Individuen und ihre Einbindung in die falsche Gemeinschaft der Nation. Putin ist noch nicht so weit. Er hat das russische Volk nicht so in der Tasche wie Hitler damals das deutsche. Es stimmt, dass trotz der zahlreichen Proteste in Russland gegen den Krieg der Widerstand gegen ihn vorerst begrenzt geblieben ist. Aber patriotische Unterstützungsbekundungen für Putin waren nirgends zu sehen, abgesehen von einer Massenveranstaltung, zu deren Teilnahme viele von staatlicher Seite gedrängt wurden. Ganz abgesehen von seinen militärischen Fähigkeiten kann Putin den Krieg nicht wie Hitler eskalieren, weil seine ideologische Kontrolle über die Bevölkerung zu schwach ist. Andererseits muss er ihn gerade deshalb eskalieren: Ohne einen Sieg droht er vom Sockel zu stürzen wie die argentinische Junta nach der Niederlage im Falkland-Krieg.
Auch in den meisten anderen Ländern mit einer Tradition sozialer Kämpfe ist die ideologische Kontrolle zu schwach, um die Bevölkerung für einen Krieg von größerem Ausmaß zu begeistern. Aber es wird daran gearbeitet. Wir werden erzogen. Wir lernen, Soldaten wieder als Helden zu verehren, wir lernen, Siege auf dem Schlachtfeld wieder zu bejubeln, wir lernen zu akzeptieren, dass wir für die Kriegsanstrengungen Opfer bringen müssen. Und während es für keines unserer Probleme – Wirtschaftskrise, Klimakrise, Pandemien, Verarmung usw. – nationale Lösungen gibt, lernen wir, dass es nichts Schöneres gibt, als für Grenzen zu kämpfen und für die Heimat zu sterben.
Last euch nicht zurechtbiegen. Erinnern wir uns stattdessen an die Worte, mit denen Karl Liebknecht 1915 seinen Aufruf zum revolutionären Defätismus schloss: „Genug und übergenug der Metzelei! Nieder mit den Kriegshetzern diesseits und jenseits der Grenze! Ein Ende dem Völkermord!“
Sander, 23. März 2021
Quellen für militärische Angaben: Sipri, IISS, Ruth Leger Sivard. Wirtschaftliche Quellen: IWF, Weltbank, Bloomberg News, Macrotrends.