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Kommentare zum Krieg II

Kommentare zum Krieg II

22. Dezember 2023

Im Folgenden veröffentlichen wir eine Reaktion von Robert Schlosser auf unsere Einleitung zu und den Text von Internationalist Perspective. Robert zitiert darin Passagen aus einer Mail-Debatte mit einem Genossen, die sich darum drehen, einige Gedanken, die Marx in seinem frühen Text „Zur Judenfrage“ formuliert hat, auf den Nahost-Konflikt zu beziehen.

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Habe gerade den neuen Beitrag in Communaut gelesen. Euer Vorwort spricht mir ziemlich aus der Seele!! Das finde ich besser als den Artikel, der dann folgt. Aus meiner Sicht drückt der dann an entscheidenden Stellen gerade die Ohnmacht, von der ihr sprecht, sozusagen inhaltlich aus.

Gearbeitet wird da mit den üblichen linksradikalen Schlagwörtern: „die Krise“ als Ursache von all dem Elend, Rassismus usw. Es wird nicht einmal der Versuch unternommen, genauer zu kennzeichnen, was da denn aktuell eigentlich in der Krise ist. (Das grundlegende Bewegungsmuster der „friedlichen, freien Konkurrenz“ dem Weltmarkt, ausgetragen als Wettstreit um die höchste Arbeitsproduktivität. Dieses Bewegungsmuster wird immer stärker in Frage gestellt durch staatlichen Protektionismus und „Wirtschaftskrieg“... – militärische Austragung der Konkurrenz nicht ausgeschlossen.)

Was den Rassismus anbetrifft, so habt ihr ja selbst schon ein dickes Fragezeichen dahinter gesetzt. Das Grundproblem des religiösen Fundamentalismus, der politische Islam und das politische ultraorthodoxe Judentum spielt eigentlich keine Rolle in dem Artikel. Auf jeden Fall wird der der Bedeutung dieser Scheiße nicht gerecht. Weltweit ist das ultraorthodoxe Judentum natürlich kein Problem, der politische Islam schon!

In der Diskussion mit einem Genossen habe ich mir ein paar Gedanken zum Konflikt im nahen Osten gemacht, auf der Basis des Textes von Marx „Zur Judenfrage“. Die wichtigsten Sachen kopiere ich dir hier mal rein:

[Beginn der Mail von Robert an den Genossen] In seiner sehr frühen Schrift „Zur Judenfrage“ diskutiert Marx die „Judenemanzipation“ im Kontext der Diskussion über politische und wirkliche, menschliche Emanzipation. In dieser Schrift finden sich neben Fragwürdigkeiten über den „praktischen Juden“ (das osteuropäische jüdische Proletariat kommen da gar nicht vor) sehr erhellende Gedanken. Hier zunächst ein paar Zitate, die ich dann sozusagen „anwende“:

„Die politische Emanzipation ist allerdings ein großer Fortschritt, sie ist zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, aber sie ist die letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen Weltordnung. Es versteht sich: wir sprechen hier von wirklicher, von praktischer Emanzipation.
Der Mensch emanzipiert sich politisch von der Religion, indem er sie aus dem öffentlichen Recht in das Privatrecht verbannt. Sie ist nicht mehr der Geist des Staats, wo der Mensch – wenn auch in beschränkter Weise, unter besonderer Form und in einer besonderen Sphäre – sich als Gattungswesen verhält, in Gemeinschaft mit andern Menschen, sie ist zum Geist der bürgerlichen Gesellschaft geworden, der Sphäre des Egoismus, des bellum omnium contra omnes (Krieges aller gegen alle). Sie ist nicht mehr das Wesen der Gemeinschaft, sondern das Wesen des Unterschieds. Sie ist zum Ausdruck der Trennung des Menschen von seinem Gemeinwesen, von sich und den andern Menschen geworden – was sie ursprünglich war. Sie ist nur noch das abstrakte Bekenntnis der besonderen Verkehrtheit, der Privatschrulle, der Willkür. Die unendliche Zersplitterung der Religion in Nordamerika z.B. gibt ihr schon äußerlich die Form einer rein individuellen Angelegenheit. Sie ist unter die Zahl der Privatinteressen hinabgestoßen und aus dem Gemeinwesen als Gemeinwesen exiliert. Aber man täusche sich nicht über die Grenze der politischen Emanzipation. Die Spaltung des Menschen in den öffentlichen und in den Privatmenschen, die Dislokation der Religion aus dem Staate in die bürgerliche Gesellschaft, sie ist nicht eine Stufe, sie ist die Vollendung der politischen Emanzipation, die also die wirkliche Religiosität des Menschen ebenso wenig aufhebt, als aufzuheben strebt.“

„Wir haben also gezeigt: Die politische Emanzipation von der Religion lässt die Religion bestehen, wenn auch keine privilegierte Religion. Der Widerspruch, in welchem sich der Anhänger einer besonderen Religion mit seinem Staatsbürgertum befindet, ist nur ein Teil des allgemeinen weltlichen Widerspruchs zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft. Die Vollendung des christlichen Staats ist der Staat, der sich als Staat bekennt und von der Religion seiner Glieder abstrahiert. Die Emanzipation des Staats von der Religion ist nicht die Emanzipation des wirklichen Menschen von der Religion.
Wir sagen also nicht mit Bauer den Juden: Ihr könnt nicht politisch emanzipiert werden, ohne euch radikal vom Judentum zu emanzipieren. Wir sagen ihnen vielmehr: Weil ihr politisch emanzipiert werden könnt, ohne euch vollständig und widerspruchslos vom Judentum loszusagen, darum ist die politische Emanzipation selbst nicht die menschliche Emanzipation. Wenn ihr Juden politisch emanzipiert werden wollt, ohne euch selbst menschlich zu emanzipieren, so liegt die Halbheit und der Widerspruch nicht nur in euch, sie liegt, in dem Wesen und der Kategorie der politischen Emanzipation. Wenn ihr in dieser Kategorie befangen seid, so teilt ihr eine allgemeine Befangenheit. Wie der Staat evangelisiert, wenn er, obschon Staat, sich christlich zu dem Juden verhält, so politisiert der Jude, wenn er, obschon Jude, Staatsbürgerrechte verlangt.“

Die jüdische Emanzipationsbewegung in der bürgerlichen Gesellschaft hat zunächst politische Emanzipation angestrebt, indem sie Staatsbürgerrechte verlangte. Das hatte nach meiner Kenntnis auch bis zu einem gewissen Grade Erfolg in Ländern Westeuropas, so auch in Deutschland. Soweit das Erfolg hatte, gab es auch „Assimilation“. Die Dreyfuß-Affaire in Frankreich zeigte aber beispielhaft, wie weit her es wirklich war mit der politischen Emanzipation. In Osteuropa war die Situation aber noch weit schlimmer. Hier fanden immer wieder Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung statt. Vor diesem Hintergrund entstand die zionistische Bewegung, die in der Gründung eines jüdischen Staates die einzig mögliche Garantie für politische Emanzipation sah. Innerhalb der zionistischen Bewegung gab es unterschiedliche Tendenzen und Strömungen, die sich zum Teil auch darin unterschieden, wo dieser Staat entstehen sollte. Es gab sozialistische Tendenzen, die es nicht bei der politischen Emanzipation bewenden lassen wollten usw.

Für die Entwicklung der jüdischen Emanzipationsbewegung in Gestalt des Zionismus erlangte die Wendung zu einem rassistischen Antisemitismus speziell in Deutschland, der schließlich im Holocaust gipfelte, entscheidende Bedeutung. Die Existenz eines jüdischen Staates wurde aus einer Frage der politischen Emanzipation sozusagen zu einer Existenzfrage für das Judentum. Die Gründung eines solchen Staates versprach die Lösung der ungelösten Probleme, das Ende von Verfolgung und Vernichtung.

Wie die Geschichte des Staates Israel aus meiner Sicht zeigt, ist die Gründung eines selbständigen jüdischen Nationalstaates eine trügerische Lösung, weil sie den mit Vernichtungswillen ausgestatteten Antisemitismus nicht aus der Welt geschafft hat. Die unmittelbare Bedrohung durch den rassistischen Antisemitismus wurde zwar durch die Niederschlagung des nationalsozialistischen Deutschland durch die internationale Antihitlerkoalition abgewendet, aber die Entstehung des Staates Israel konnte nicht verhindern, dass ein religiöser Antisemitismus mit Vernichtungswillen unter Muslimen sich ausbreitete. Dieser war sogar ein Produkt der Einwanderung nach Palästina und der Staatsgründung, weil Einwanderung und Staatsgründung nicht in und auf einem Territorium passierte, das ohne Bevölkerung war. Es kam zu eskalierenden Auseinandersetzungen mit den einheimischen Muslim:innen, die ihrerseits nicht davor zurückschreckten, sich mit den rassistischen Nazis zu verbünden. Der islamistische, mit Vernichtungswillen ausgestattete Antisemitismus ist aber nicht rassistisch begründet, sondern religiös. Er ist Teil des Dschihad gegen „die Ungläubigen“. Die politischen Emanzipationsbestrebungen der Juden und Jüdinnen produzierten so selbst eine neue große Bedrohung. Die Kriege, die seit 1948 gegen Israel geführt wurden, und der islamistische Terror demonstrieren die große Bedrohung für die – ich betone – legitime Existenz des Staates Israel als ein Produkt von Verfolgung und Vernichtung und des Kampfes um politische Emanzipation der Jüdinnen und Juden.

Weder staatsbürgerliche Rechte für Juden in „christlichen Staaten“ noch die Gründung eines jüdischen Nationalstaates konnten und können einen rassistischen oder religiösen Antisemitismus verhindern, der auch vor der „Endlösung der Judenfrage“ nicht zurückschreckt. Rassismus und religiöser Fundamentalismus als Ideologien zur Rechtfertigung von Herrschaft wurzeln letztlich in Klassenverhältnissen, bürgerlichen wie vorbürgerlichen. Sie können letztlich auch nur mit diesen verschwinden.

Wenn Marx sagt, dass die politische Emanzipation die wirkliche Religiosität des Menschen nicht aufhebt, so ist damit die Frage nach der Wechselwirkung ausgespart. D.h. es stellt sich vor dem Hintergrund gerade heutiger Vorgänge in der Welt und speziell des „Nahostkonfliktes“ die Frage, inwieweit die „wirkliche Religiosität“ auf die erreichte politische Emanzipation zurückwirkt bzw. sie in Frage stellt. Wie das geschieht, sehen wir z.B. in den USA, wo der religiöse Fundamentalismus das Recht auf Abtreibung beseitigt. Wir sehen es in Israel in der politischen Wirksamkeit des ultraorthodoxen Judentums (mittlerweile 10 Prozent der israelischen Bevölkerung) und des muslimischen Fundamentalismus, deren Auseinandersetzungen etwa um „heilige Stätten“ die Errungenschaften politischer Emanzipation in Frage stellen.

Weil die politische Emanzipation die wirklich soziale Ungleichheit nicht aufhebt, kann die wirkliche Religiosität zum Ausdruck des Kampfes gegen die soziale Ungleichheit werden und auf die politische Emanzipation zurückwirken. Sie gibt vor, Reaktion auf die Ungleichheit zu sein, schöpft aber tatsächlich ihre Legitimation ganz autonom aus religiösen Grundüberzeugungen. Das ist so bei den islamistischen Palästinenser:innen und bei den ultraorthodoxen Jüdinnen und Juden. Ihre Ziele ergeben sich aus den jeweiligen religiösen Überzeugungen, die kompromisslos formuliert werden. Verständigung ist dabei ausgeschlossen.

Solange das so ist, kann es keine Lösung des „Nahostproblems“ geben. Der permanente Krieg ist vorprogrammiert, solange die orthodoxen Juden Einfluss auf die Regierungspolitik in Israel haben und solange arabische Staaten oder auch der Iran oder die Türkei die islamistischen Terrorgruppen unterstützen.

Soweit meine verkürzte Analyse, die eine „klare Positionierung“, eine „kompromisslose“ Parteinahme für die eine oder andere Seite ausschließt. Mit einer Delegitimierung des Staates Israel hat das nichts zu tun. Sie soll nur deutlich machen, dass der permanente Krieg bis zum „endgültigen“ Sieg der einen oder anderen Seite keine Lösung bringen wird.

Ich hatte dir wohl mal meine Thesen zu Nationen und Nationalstaaten geschickt. Darin vertrete ich die Position, dass die Bildung von Nationen und Nationalstaaten ihr fortschrittliches Potential mit dem Eintritt der ‚geschichtslosen Völker‘ in die Geschichte (antikoloniale Revolution) erschöpft haben und dass Nationalismus nur noch eine reaktionäre Rolle spielt. Israel ist eine Ausnahme, aufgrund der besonderen Umstände, die sich speziell aus Antisemitismus und Holocaust ergeben.

Die Verteidigung der Existenz des Staates Israel ist vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrung eine Notwendigkeit. Daraus ergibt sich für mich nicht, dass ich alles unterstütze, was dieser Staat bzw. die jeweilige Regierung so treibt. [Ende der Mail]

Das mal dazu. Im von euch publizierten Artikel von Internationalis Perspective heißt es dann:

"Wie die Zunahme von großen Streiks in den letzten zwei Jahren zeigt, ist die globale Arbeiter:innenklasse – die einzige gesellschaftliche Kraft, die eine solche Bewegung hervorbringen kann – nicht bezwungen."

Das ist dann sozusagen Beruhigungspille und Rettungsanker zugleich. Das sehe ich jedenfalls ganz anders! Eine „globale Arbeiter:innenklasse“, die schon lange ihre politische Selbständigkeit verloren hat – wenn sie die denn jemals besaß – wie sollte die „nicht bezwungen“ sein?