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„Wir steuern auf eine sehr beängstigende Zukunft zu“

„Wir steuern auf eine sehr beängstigende Zukunft zu“

21. August 2021

Der Überschuss an Arbeitskräften zeigt sich in vielen Phänomenen: Druck auf die Lohnabhängigen, zunehmende Migrationsströme, veränderte Kampfformen der Klasse, reaktionäre Antworten auf das Unheil. Die Logik des Surplus-Proletariats zu verstehen, ist eine Voraussetzung für die Deutung der Gegenwart. Zugleich wurde die Kategorie häufig falsch interpretiert und zum Generalschlüssel für das Verständnis der Welt verklärt. Im Interview schildert Aaron Benanav von Endnotes Geschichte, Ursachen und Zukunft der folgenreichen Erscheinung.

Communaut: Vor gut zehn Jahren habt ihr in Endnotes den Text „Misery and Debt“ veröffentlicht, der auf Deutsch in Kosmoprolet 4 als „Elend und Schulden“ erschienen ist. Die darin entwickelte Analyse des Surplus-Proletariats hat die Debatte zum Thema mitgeprägt. Zugleich missverstanden einige LeserInnen die Kategorie. Ihnen galten etwa die wachsenden Slums als Zeichen dafür, dass immer mehr Menschen für das Kapital absolut überflüssig würden. Du argumentierst hingegen, dass man insbesondere den Einfluss des Surplus-Proletariats auf das Verhältnis von Kapital und Arbeiterinnen verstehen muss. Kannst du das etwas ausführen?

Aaron: Der Begriff der Überschussbevölkerung stammt aus dem ersten Band des Kapital und hat eine interessante Geschichte. Karl Marx hat wichtige Aspekte aus dem Text „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ von Friedrich Engels übernommen. Engels wiederum hatte die Idee der „industriellen Reservearmee“ von den Frühsozialisten in der Tradition Robert Owens entlehnt. Diese schrieben über die Reservearmee der Arbeit, die bei ihnen ein „Außen“ darstellt, das zugleich in das System integriert ist. Es geht dabei nicht um Menschen, die von der Arbeit ausgeschlossen sind und ganz aus dem Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit herausfallen. Vielmehr prägt ihr Status dieses Verhältnis, indem er die Löhne für die Arbeiterschaft niedrig hält und damit dem Profit zugute kommt.

Viele Leserinnen haben unseren Text so verstanden, dass wir die überschüssige Bevölkerung als ganz ausgeschlossen, also überhaupt nicht mehr in das Kapitalverhältnis einbezogen betrachten würden. Das war aber nie unsere Absicht. Und es ist es auch nicht die Argumentation von Marx, der im ersten Band des Kapital das unterste Segment der relativen Überschussbevölkerung als eine „stockende“ bezeichnete. Heute arbeiten diese Menschen unter einem sogenannten Verlagssystem. Sie leisten produktive Arbeit zu Hause und stehen an vielen Orten der Welt am Anfang der Lieferketten. Sie sind also nicht ausgeschlossen. Aber ihre Lebensbedingungen werden systematisch und dauerhaft unter die Norm ihrer Gesellschaft gedrückt. Diese Gruppe wächst beständig.

Marx behandelt diese Gruppen im ersten Band des Kapital im Kapitel „Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“. Dort bestimmt er drei Kategorien der relativen Überflussbevölkerung: flüssig, latent und stockend. Nun hast du für dein Buch viele Daten ausgewertet; sind diese Kategorien noch gültig? Was hast du hier seit „Elend und Schulden“ revidieren müssen?

Ich habe seitdem die Geschichte der Arbeitslosigkeit und des Wohlfahrtsstaates viel intensiver studiert. Im neuen Buch geht es mehr darum, wie der Sozialstaat die Überschussbevölkerung formt. Zu Marx‘ Zeiten gab es den schlicht noch nicht. In dieser Hinsicht sind die Formen, die die Überschussbevölkerung heute annimmt, anders. Allerdings habe ich während der Untersuchung der Arbeitsmärkte des 20. Jahrhunderts festgestellt, dass die grundlegenden Kategorien in der Forschungsliteratur unter anderen Begriffen immer wieder auftauchen.

So kehrt etwa die latente Überschussbevölkerung im Landarbeiter wieder, der immer mit einem Fuß im Pauperismus steht und zugleich von der Stadt abhängig bleibt. Das sind etwa die überschüssigen Arbeitskräfte, die der bekannte Entwicklungsökonom Arthur Lewis beschrieb. Die flüssige Überschussbevölkerung umfasst heute die offiziellen Arbeitslosen. Im 20. Jahrhundert bildete sich die Vorstellung heraus, dass dies die normale und auch normative Form sei, keine Arbeit zu haben. Die stockende Überflussbevölkerung schließlich kehrt später im 20. Jahrhundert als das zurück, was man heute den „informellen Sektor“ nennt. Diese Begriffe tauchen also wieder auf, aber sie sind natürlich vor allem im Westen stark vom Sozialstaat mitgeprägt.

In das neue Buch „Automation and the Future of Work“ ist viel mehr empirisches Material zur Industrialisierung eingeflossen als in „Elend und Schulden“. Bestimmten Aspekten wie der Finanzialisierung, den Stagnationstendenzen der Wirtschaft und dem Niedriglohnsektor habe ich mehr Gewicht eingeräumt. Zugleich bedauere ich, dass ich die Problematik der Nachfrage nicht herausgearbeitet habe. Es gibt bei Marx die Idee einer reifenden Industrie, die nicht nur wegen des technologischen Wandels, sondern auch wegen der Entwicklung der Nachfrage auf einen Kipppunkt zusteuert. Das neue Buch erzählt vor allem die Geschichte der Technologie und des internationalen Wettbewerbs. Das hat seinen Grund auch darin, dass ich es für ein breiteres Publikum konzipiert habe, die Geschichte der Nachfrage aber sehr komplex ist.

Kannst du das etwas ausführen? Wie zeigt sich dieses Problem der Nachfrage, wie wird es erzeugt?

Das ist eine große Frage, auf die ich keine fertigen Antworten habe. Für „Elend und Schulden“ haben wir Statistiken aus Großbritannien ausgewertet, weil sie dort am weitesten zurückreichen. Darin erkennt man Wellen der Beschäftigung, jede neue Welle erzeugt aber proportional weniger industrielle Arbeitsplätze als die vorhergehende. Eine mögliche Interpretation könnte lauten: Je mehr die Menschen im Laufe der Zeit verdienen, desto geringer der Anteil ihres Lohns, den sie für Industriegüter ausgeben. Die Entwicklung ist aber kompliziert, denn während die Preise für Industriegüter eher fallen, werden Dienstleistungen tendenziell teurer.

Man kann den Zahlen aber entnehmen, dass die industrielle Beschäftigung insbesondere in den reichsten Ländern schon vor dem verschärften internationalen Wettbewerb der 1970er Jahre stagnierte. Daraus könnte man schließen, dass eine Art Marktsättigung die Expansion der Industrie in diesen wichtigen Nationalökonomien bereits ab den 1950er Jahren zu bremsen begann. Da diese Länder die Hauptmärkte für internationale Exporte sind, hat diese Reifung natürlich auch Konsequenzen für den Weltmarkt. Diese Frage thematisieren wir in „Elend und Schulden“ zumindest. In meinem neuen Buch habe ich sie unterbelichtet gelassen und stattdessen den Auswirkungen des internationalen Wettbewerbs mehr Raum gegeben. Ich denke, man muss diese beiden Geschichten zusammendenken.

Untersucht man die Entwicklung des Surplus-Proletariats, dann findet man dazu eine ganze Reihe von Statistiken. Die greifbarste ist vermutlich die Erwerbslosenquote, die von der International Labour Organization (ILO) erhoben wird. Sie macht aber nur einen Teil der Entwicklung kenntlich. Worauf sollte man achten, wenn man das Phänomen verstehen will?

Die Kennziffer der Erwerbslosenquote wurde ursprünglich geschaffen, damit Staaten ihren Arbeitskräfteüberschuss messen können. Sie ist auf eine sehr spezifische Art konstruiert. Die Umfragen, die den Zahlen zugrunde liegen, sind so konzipiert, dass sie nur bestimmte Bevölkerungsgruppen erfassen. Es gibt immer Lohnabhängige, die nicht mehr aktiv nach Arbeit suchen, weil sie entmutigt sind. Sie tauchen in den Erwerbslosenzahlen nicht auf. Andere Lohnabhängige finden zwar Arbeit, aber sie entspricht nicht ihren Fähigkeiten und dem, was sie eigentlich bräuchten. Das kann verschiedene Gründe haben: Manche haben eine Ausbildung, die nicht genutzt wird, andere werden schlechter bezahlt als in ihrem vorherigen Job, wieder andere arbeiten nur wenige Stunden oder ihr Job ist befristet. Das sind alles Formen von Unterbeschäftigung.

Die moderne Erwerbslosenquote geht auf das Jahr 1940 zurück. Ihre Einführung war nicht nur ein Versuch, Arbeitslosigkeit zu messen, sondern sollte auch die Erfahrung, keine Arbeit zu haben, als etwas Normales darstellen. Mitte des 20. Jahrhunderts gab es große Bestrebungen, die Beschäftigung von Arbeitskräften zu regulieren, etwa über Gesetze zum Mindestlohn oder zu Tarifverhandlungen, aber auch durch Arbeitslosenversicherungen. Keynesianische Beschäftigungsprogramme sollten sicherstellen, dass Arbeiter entweder in Standardjobs arbeiten, offiziell als erwerbslos gezählt werden oder nicht mehr als Teil der Erwerbsbevölkerung gelten. Es sollten also klare Kategorien geschaffen und voneinander abgegrenzt werden. Als sich das Wirtschaftswachstum ab den 1970er Jahren aber abschwächte und nicht mehr so rasch neue Arbeitsplätze entstanden, bauten viele Regierungen Schutzbestimmungen und Arbeitslosenhilfen ab. Das führte dazu, dass die Kategorien wieder stärker verschwammen.

Das geschieht in stagnierenden Nationalökonomien fast zwangsläufig. Aber besonders die Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Abbau von Sozialleistungen hatten starke Auswirkungen. Zahlreiche Menschen wurden entmutigt, Arbeit zu suchen oder sich bei staatlichen Stellen zu melden. Viele sind unterbeschäftigt. Sie werden von den Zahlen nicht mehr adäquat erfasst. Die Arbeitslosigkeit verliert damit ihre Norm und kann nicht mehr in einer einzigen Statistik kenntlich gemacht werden. Damit nähert sich die Welt aber wieder der von Marx beschriebenen an, in der es unterschiedliche Formen der Überschussbevölkerung gibt.

Kannst du das in Zahlen etwas fassbarer machen? Wie hat sich das Verschwinden der Norm geltend gemacht?

Die niedrigste Zahl für die globale Arbeitslosigkeit bietet die Erwerbslosenquote. Sie liegt bei rund sechs Prozent, in der Pandemie vermutlich etwas höher. Diese Zahl ändert sich im Lauf der Zeit nur wenig. Niemand, der sich mit dem Thema befasst, glaubt aber, dass sie den tatsächlichen Überschuss an Arbeitskräften erfasst. Es ist einfach die altbekannte Kennziffer, die man relativ einfach erfassen kann und die deshalb auch immer wieder publiziert wird. Die reale Entwicklung bildet sie aber nicht ab.

Die ILO, die für diese Statistiken zuständig ist, publiziert auch eine Zahl zur weltweiten Unterbeschäftigung. Sie beläuft sich demnach auf zwölf Prozent. Damit werden aber keine Selbständigen erfasst, obwohl mehr als die Hälfte der Arbeitskräfte weltweit selbständig tätig sind. Eine weitere wichtige Statistik ist die zum informellen Sektor: Rund 60 Prozent aller Arbeiter weltweit sind informell beschäftigt. Sie arbeiten entweder ohne formellen Vertrag für ein Unternehmen oder sie leisten Heimarbeit. Beide Kategorien sind von großer Bedeutung für die Lieferketten und den Weltmarkt.

Wir haben also zwei Extreme: Sechs Prozent der Weltbevölkerung gelten als arbeitslos und 60 Prozent sind informell beschäftigt. Das zeigt, dass die Frage der Überschussbevölkerung komplex ist und sich nicht auf eine einzige Zahl reduzieren lässt.

Die ILO hat auch Zahlen dazu herausgegeben, wie viele Arbeitsstunden die Pandemie vernichtet hat. Allein im zweiten Quartal 2020 sind demnach Arbeitsstunden entfallen, die fast einer halben Milliarde Vollzeitarbeitsplätze entsprechen. Wie muss man das deuten?

Die ganzen Zahlen deuten zwar die Dramatik der Krise an, aber sie kranken an einem Messproblem. Die informellen Heimarbeiterinnen etwa verlieren bei einem Einbruch der Arbeitsnachfrage Teile ihres Einkommens. Aber man feuert nicht seine Verwandten, weil es zu wenig Nachfrage gibt. Im betroffenen Haushalt haben dann alle weniger zu essen. Diese Menschen arbeiten weiter, erzielen aber weniger Einkommen. Und wenn ihr Einkommen auf null fällt, haben sie dennoch ihr Geschäft: Ihre Rikscha oder ihr Auto. In großen Teilen der Welt erleben die meisten Menschen den Rückgang der Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft auf diese Weise. Sie tauchen in den Statistiken zur Arbeitslosigkeit nicht angemessen auf.

In deinem Buch beschreibst du auch näher, was du eben schon angeschnitten hast: wie sich die mangelnde Nachfrage nach Arbeitskräften über die Zeit von der Arbeitslosigkeit zur Unterbeschäftigung verschiebt. Menschen werden also weniger Stunden arbeiten, sind überqualifiziert für eine Stelle oder bloß befristet angestellt. Wie vollzieht sich dieser Prozess? Und was erwartest du in den nächsten Jahren?

Auch in schnell wachsenden, industriellen Nationalökonomien kommt es immer wieder zu kurzen Abschwüngen, in denen Menschen ihre Arbeit verlieren. Während der Boomphase der 1950er und 1960er Jahre verloren in Europa aber auch bei Flauten nur wenige Menschen ihren Arbeitsplatz – im Unterschied zu den USA. Ab den 1970er Jahren wurden die Abschwünge allerdings länger und die Prosperitätsphasen schwächer. Mehr Menschen hatten nun Schwierigkeiten, Arbeit zu finden.

Wenn es weniger Jobs gibt, auf die man sich bewerben kann, oder wenn sich viele um dieselbe Stelle bemühen, enden mehr Menschen in der Unterbeschäftigung. Sie müssen niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen akzeptieren. Dieses Phänomen haben Marxistinnen als Verelendung bezeichnet. Es zeigt sich im schwindenden Anteil der Löhne am Volkseinkommen, wie das auch in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Das ist eine fast zwangsläufige Folge der zunehmenden Überschussbevölkerung.

Im Zuge dieser Entwicklung kann ein Teil der Arbeitslosigkeit abgebaut werden. Es gibt dafür eine ganze Reihe von Mechanismen. So können reichere Menschen die Armen als Bedienstete einstellen, wie das etwa der preisgekrönte koreanischen Film Parasite zeigt. Wenn Arbeiterinnen für niedrigere Löhne Dienstleistungen verrichten, können diese billiger verkauft werden, was die Beschäftigung erhöhen kann. Ihr Einkommen bleibt dann aber systematisch hinter der wachsenden Gesamtwirtschaft zurück, was die Ungleichheit verschärft. Unterbeschäftigung und Ungleichheit sind also eng miteinander verbunden.

Häufig wird die wachsende Überschussbevölkerung mit dem technologischen Wandel, mit Robotern, Automatisierung, künstlicher Intelligenz erklärt. In deinem Buch widerlegst du diese Erzählung und betonst, dass sich der technologische Wandel sogar verlangsamt habe. Die Zunahme des Surplus-Proletariats führst du stattdessen auf das schwache Wirtschaftswachstum zurück. Kannst du das etwas erläutern?

Etwas vereinfacht kann man sagen: Wenn die Produktivität wächst, wenn also eine Arbeiterin mehr Waren oder Dienstleistungen in einer Stunde erzeugt, werden Arbeitsplätze vernichtet. Wenn die Wirtschaft wächst, werden hingegen Arbeitsplätze geschaffen. Es gibt also diese beiden Tendenzen, was Ökonomen dazu verleitet hat, von einer Balance auszugehen: Technologien haben immer Arbeitsplätze vernichtet, aber durch das Wachstum wurden ebenso viele neue geschaffen. Das ist eine unzulässige Vereinfachung der Geschichte. Es gab immer wieder Phasen, in denen mehr Arbeitsplätze vernichtet als geschaffen wurden, etwa in der Großen Depression der 1930er Jahre. Wir leben in so einer Zeit, in der diese Faktoren aus dem Gleichgewicht geraten sind: Es werden mehr Arbeitsplätze vernichtet als geschaffen.

Das drückt sich in mangelnder Nachfrage nach Arbeitskräften, Unterbeschäftigung und steigender Ungleichheit aus. Die Theoretiker der Automatisierung erklären dieses Phänomen mit der technologischen Entwicklung. In ihrer Erzählung wächst die Produktivität wahnsinnig schnell und vernichtet Arbeitsplätze, weil das Wirtschaftswachstum nicht mithalten kann.

Ein Blick in die Geschichte zeigt aber, dass diese Erzählung falsch ist. Ab den 1950er bis in die 1970er Jahre nahm die Produktivität viel schneller zu als heute. Nur wuchs die Wirtschaft so stark, dass trotzdem genug neue Arbeitsplätze geschaffen wurden. In dieser Phase gab es auch einen starken Wandel der Jobs: Viele Berufe verschwanden und neue wurden geschaffen. Die heutige Situation ist ganz anders. Weder sehen wir einen besonders raschen technologischen Wandel noch ein starkes Produktivitätswachstum. Im Gegenteil: Die Produktivität nimmt langsamer zu, bloß ist das Wirtschaftswachstum so schwach, dass es nicht einmal dieses Tempo der Arbeitsplatzvernichtung kompensieren kann.

Man kann das als ein Relativitätsproblem beschreiben. Wenn ich in einem Zug sitze, der seine Geschwindigkeit drosselt, dann scheint sich ein parallel fahrender Zug zu beschleunigen. Und nur weil die Wirtschaft langsamer wächst, scheint es, als habe sich der technologische Wandel beschleunigt. Das lässt sich einfach statistisch belegen.

Es gibt aber Gründe, warum das Narrativ der technologischen Entwicklung dominant ist. Wenn das Problem in der Technologie gründet, dann ist die Lösung einfacher: Es geht um gesellschaftliche Verteilung. Ein schwaches Wirtschaftswachstum oder Stagnation stellen hingegen deutlich schwerwiegendere Probleme dar. Sie erfordern tiefgreifende soziale Veränderungen.

Du argumentierst in deinem Buch, dass das schwache Wirtschaftswachstum eine Folge industrieller Überkapazitäten ist. Das könnte man als zyklisches Phänomen auffassen, das durch Kapitalvernichtung in einer Krise mit anschließendem Aufschwung gemildert werden könnte. Dann würden auch mehr Arbeitsplätze entstehen. Nach deinen Befunden ist die wachsende Überschussbevölkerung aber ein langfristiger Trend, der weiter anhält. Wie begründest du diese Prognose?

Das ist eine sehr komplexe Frage, auf die zu viele Leute schnell eindeutige Antworten parat haben. Ich würde erst mal Fakten und Interpretation trennen. Wir sehen in der Geschichte eine Deindustrialisierung: Global betrachtet werden Arbeiter aus der Industrie verdrängt. Die industrielle Beschäftigung wächst langsamer als die Gesamtbeschäftigung, obwohl viele Länder arm und kaum industrialisiert sind.

Damit hat sich ein historischer Trend umgekehrt. Lange wurden Arbeiterinnen aus wenig produktiven Tätigkeiten wie der Landwirtschaft oder aus Dienstbotenjobs in die Industrie gesogen. Sie arbeiteten dort deutlich produktiver und die Wirtschaft wuchs sehr schnell. Der Strukturwandel beschleunigte also das Wachstum. Mittlerweile hat sich das aber radikal verändert: Immer mehr Menschen werden aus hochproduktiven Tätigkeiten in deutlich weniger produktive Bereiche verdrängt.

Das verhindert, dass nach einer starken Krise der Wachstumsmotor wie in früheren Zeiten wieder anläuft und es zur Vollbeschäftigung kommen kann. Weil ein kleinerer Anteil der globalen Arbeitskräfte in Industrien mit hoher Produktivitätszunahme arbeitet, würde ein erneuter Aufschwung dieser Industrien weniger Einfluss auf die Wachstumsrate haben. Dadurch verlangsamt sich auch das Wachstum des Kapitalismus mehr und mehr.

Dazu kommt, dass mittlerweile zu viele Länder für den Weltmarkt produzieren und sich einen Konkurrenzkampf liefern. In der Vergangenheit hatten Marktbereinigungen einen starken Effekt, weil ein großer Teil der Welt kolonialisiert und gewaltsam von der Industrialisierung abgehalten worden war. Nur wenige Länder produzierten Industriegüter für die globalen Märkte, sie konnten sich nach Krisenprozessen erholen. Auch wenn wir heute insgesamt einen größeren Markt vorfinden, intensiviert sich nach Erschütterungen der globale Wettbewerb rasch wieder, was die Erholung dämpft.

Wie würdest du diese Trendumkehr erklären? Was hat dazu geführt, dass Menschen aus der Industrie verdrängt werden?

Marx war meines Erachtens ein Theoretiker der Deindustrialisierung. Er hat einen Wendepunkt vorausgesehen, an dem die Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe nicht mehr zunimmt. Arbeiter werden dann in Branchen verdrängt, die unproduktiv oder dem Kapital bloß formell subsumiert sind. Vermutlich deshalb ging Marx davon aus, dass es eine Reifung des Kapitalismus gibt. Man findet bei ihm etliche Hinweise darauf, unter anderem in den Manuskripten und Notizen zum dritten Band des Kapital. Er zeigte auch an englischen Statistiken, dass bereits zu seiner Zeit die Zahl der Hausangestellten schneller zunahm als die Zahl der Beschäftigten in der Produktion. Marx lebte allerdings in einer Zeit, in der die industrielle Beschäftigung abnahm. Das extrapolierte er und erwartete die Entwicklung darum zu früh, auch weil er die Industrien falsch einschätzte, die in der zweiten industriellen Revolution aus dem Boden schossen. Der von ihm beschriebene Prozess der Deindustrialisierung hat aber eingesetzt, bloß über hundert Jahre später.

Erklärungen dafür bieten etwa konkurrierende marxistische Theorien zu den langfristigen Trends. Es gibt aber auch eine Stagnationstheorie des Ökonomen John Stuart Mill, die auch John Maynard Keynes aufgegriffen hat. Dessen Erklärung lautet, auf lange Sicht gebe es einen solchen Überfluss an Kapital, dass die Profitrate gegen Null tendiere. Dann winkten für Investitionen keine zulänglichen Profite mehr und die Wirtschaft stagniere. Das wird das Ende der Kapitalknappheit genannt. Es gibt weitere Ansätze wie etwa den von William Baumol, der das Wachstum der Dienstleistungen thematisiert. Die Ansätze sind alle zumindest interessant und man findet Anhaltspunkte in der realen Entwicklung. Was von dieser hingegen gar nicht gedeckt wird, ist die Vorstellung des marxistischen Ökonomen Henryk Grossmann. Laut Grossmann wird das Kapital so teuer, dass sich die Kapitalisten schlicht die Erweiterung ihres Produktionsapparates nicht mehr leisten können. Tatsächlich sehen wir einen riesigen Überfluss an Kapital.

Die Erklärung wird wichtig, wenn man Prognosen aufstellen will. Derzeit hört man oft, dass die Pandemie die Automatisierung vorantreibe. Zugleich stecken wir in einer tiefen Krise und Budgets werden gestrichen. Was siehst du in den nächsten Jahren auf uns zukommen?

Die Krise, in der wir uns befinden, ist unglaublich tief. Ökonomen und politische Berater tendieren immer dazu, rosige Vorhersagen zu treffen. Die haben sich wegen der zweiten Welle der Corona-Pandemie schlicht als falsch erwiesen. Die Auswirkungen der Krise werden gewaltig sein und lange andauern, aber sie werden aufgrund der unterschiedlichen politischen Ordnungen verschiedene Folgen nach sich ziehen.

Seit der Großen Depression der 1930er Jahre wurden nicht mehr so viele Länder von einer Krise getroffen. Zugleich entfallen aber fast 90 Prozent der fiskalischen Maßnahmen, der Rettungspakete, auf die reichen Länder. Dort wird eine große Frage sein, ob dadurch etliche Zombiejobs geschaffen wurden: Arbeitsplätze, die etwa mit Kurzarbeitergeld staatlich finanziert werden, aber längerfristig verschwinden. In großen Teilen der Welt gibt es trotz der Dramatik der Krise kaum Hilfe. In diesen armen Ländern wird sie besonders bitter und lange anhaltend sein.

Die letzten Jahrzehnte vor der Pandemie waren von einer starken Unterinvestition geprägt, das zeigen etwa Zahlen der Weltbank. Dieses Problem haben die Staaten auch mit großen Geldspritzen für Unternehmen oder der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und des Lohnniveaus nicht in den Griff gekriegt. Die Pandemie wird dies noch verschlimmern. Sie wirkt nicht wie ein Krieg, der Innovationen vorantreibt und Kapital vernichtet, worauf ein Wiederaufbau folgen kann. Eine Pandemie hat auf andere Weise zerstörerische Auswirkungen. Sie hinterlässt eine kränkere Bevölkerung und einen Berg an Schulden. Zudem verstärkt sie die Unsicherheit. Es steht zu vermuten, dass wir eine längere Stagnation sehen werden und der Aufschwung auf sich warten lässt. Weil die Krise so tief war, wird es natürlich eine gewisse Erholung geben. Aber ich gehe davon aus, dass die Wachstumsraten in den 2020er Jahren niedrig sein werden. Und gegen Ende des Jahrzehnts werden wir bereits einige massive Auswirkungen des Klimawandels erleben.

Wir steuern auf eine sehr beängstigende Zukunft zu. Da der Kapitalismus stagniert, haben Staaten viel weniger Spielräume, um Probleme zu lösen. Das politische Management wird sehr zerstörerische Formen annehmen. Das zeigt sich kurzfristig in der Pandemie-Politik, wird aber vor allem in Hinblick auf die Abmilderung der Folgen der Klimaerwärmung fatal sein. Es scheint, als würde sich das Motto „nach mir die Sintflut“ durchsetzen.

Welche Folgen haben diese Entwicklungen auf die Zusammensetzung und die Macht der Arbeiterklasse? Siehst du auch Licht am Ende des Tunnels?

Die Situation vieler Arbeiterinnen, die ohnehin schon in unsicheren Verhältnissen leben, wird sich weiter verschlechtern. Ihre Zukunftsaussichten werden sich weiter eintrüben, ihr Leben wird noch stärker von Entbehrungen geprägt sein. Die Krise wird bereits bestehende Trends beschleunigen: die Ausweitung prekärer Sektoren, die Zunahme der Ungleichheit, das Wachstum der wenig produktiven Bereiche. Die Pandemie könnte auch eigentümliche Auswirkungen haben, die wir heute noch nicht absehen können. Entscheidend wird sein, wie umfangreich die Maßnahmenpakete der Staaten ausfallen.

Die große Frage lautet, ob es zu proletarischen Revolten kommt und wenn ja, wie sie aussehen werden. Nach einer langen Phase abnehmender Kämpfe haben wir in den 2010ern eine ungeheure Zunahme der Gegenwehr gesehen, insbesondere unmittelbar vor der Pandemie. In den USA kam es zu den größten sozialen Kämpfen seit mindestens sechzig Jahren. Das beeindruckt mich und veranlasst mich zu der Hoffnung, dass wir große Kämpfe sehen werden – gerade auch, weil die Zukunftsaussichten düsterer werden. Damit ist aber längst nicht ausgemacht, welchen Verlauf diese Kämpfe nehmen und ob sie auf einen Bruch mit dem Kapitalismus zusteuern.

Wie könnte ein emanzipatorisches Projekt im 21. Jahrhundert aussehen? Und was hat zum Verschwinden der Visionen einer Gesellschaft ohne Mangel geführt? Mit diesen Fragen beschäftige ich mich gerade. Ich mache das nicht, weil Theoretiker bei der gesellschaftlichen Veränderung eine besondere Rolle spielen sollen. Aber man kann immerhin dazu beitragen, die Überzeugung am Leben zu erhalten, dass eine bessere Welt immer noch realistisch ist. Ich fürchte, das ist bei vielen verloren gegangen. Darum lese ich auch die Theoretiker der Automatisierung mit großem Interesse. Man kann eine Menge aus ihrer Vorstellung der Zukunft lernen, in der die Arbeit nicht mehr das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens ist. Nur ihre Grundannahmen halte ich für falsch, darum arbeite ich an einer realistischeren Vorstellung.

Aaron Benanav ist Teil der Gruppe Endnotes, die die gleichnamige Zeitschrift herausgibt. Er befasst sich als Wirtschaftshistoriker insbesondere mit der Geschichte der Weltökonomie seit dem 19. Jahrhundert, wirtschaftlicher Entwicklung, Arbeitsmarktdynamik, Arbeitslosigkeit und Ungleichheit. Sein Buch „Automation and the Future of Work“ ist kürzlich bei Verso erschienen und wird im Herbst in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp veröffentlicht.