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„Wir dürfen nicht resignieren und uns mit den erdrückenden Verhältnissen abfinden“ - Communiqués zur Polizeibrutalität

„Wir dürfen nicht resignieren und uns mit den erdrückenden Verhältnissen abfinden“ - Communiqués zur Polizeibrutalität

05. April 2023

Die soziale Bewegung gegen die Rentenreform in Frankreich hält, trotz rückläufiger Zahlen bei Streik- und Demonstrationsbeteiligung, nach wie vor das Land in Atem. Am letzten Dienstag, den 28 März, begingen erneut zahlreiche Menschen den mittlerweile zehnten Streiktag. Das Innenministerium spricht von 740000, die Gewerkschaften von 2 Millionen Teilnehmer:innen. Eine neue große Mobilisierung ist für den 6. April angesetzt. Seit der Annahme des Reformprojekts durch den Verfassungsparagrafen 49.3 am 16. März stellt sich das Verhältnis von Bewegung und Regierung als immer feindlicher dar. Die Straße antwortete auf die Annahme der Rentenreform mit erhöhter Militanz, worauf der Staat mit Repression konterte.

Die brutale Repression des Staates, die das Verhältnis der Regierung Macron zu den sozialen Bewegungen seit ihrer Wahl im Jahr 2017 auszeichnet, wirft seit dem 25. März ihr Dämmerlicht auch noch auf einen anderen Kampf. An diesem Samstag protestierten ca. 30.000 DemonstrantInnen in der Gemeinde Sainte Soline gegen den geplanten Bau eines künstlichen Bewässerungsbeckens. Die von dem umweltaktivistischen Kollektiv « Les Soulèvements de la Terre » („Die Aufstände der Erde“) angeführte Bewegung richtet sich gegen den Bau eines gigantischen Wasserspeichers. Dieser soll in Phasen der Wasserknappheit, d.h. insbesondere in Dürreperioden und bei starkem Druck auf die Wassernachfrage aufgrund von Knappheit in den Sommermonaten, den Bedarf der Agrarindustrie decken. Bei diesen „mégabassines“ handelt sich um riesige künstliche, plastifizierte und wasserundurchlässige Teiche, die sich im Durchschnitt über eine Fläche von acht Hektar erstrecken, was circa zehn Fußballfeldern entspricht. Doch diese Teiche werden nicht einfach durch Regenwasser gespeist, sondern erfordern das Abpumpen von Wasser, sei es aus dem bereits gestörten Grundwasserzyklus oder aus Flüssen. Sie haben damit Auswirkungen auf die sie umgebende Umwelt und die biologische Vielfalt, denn das normalerweise in den Boden versickernde Wasser wird den umliegenden Ökosystemen entzogen. Die Verdunstungsverluste infolge derartiger Anlagen sollen zwischen 20 und 60 Prozent betragen. Dies würde die Wasserknappheit in lokalen Zyklen noch weiter verschärfen. Laut des Ökomarxisten Andreas Malm handelt es sich bei diesen Vorhaben um kapitalistische Anpassungsprojekte an den Klimawandel, die die Verfügbarkeit von Wasserresourcen vor allem in Südeuropa bzw. der südlichen Hemisphäre einschränken werden.

In der Tat sind derartige Projekte Teil des Problems und nicht der Lösung. Die Wasserspeicher sollen das vorherrschende agrokapitalistische Modell in Landwirtschaft und Tierhaltung vor dem Horizont der Folgen des Klimawandels stabilisieren. Sie zielen insbesondere auf die Aufrechterhaltung der Produktion von wasserintensivem Mais, der überwiegend für die Massentierhaltung bestimmt ist und dienen daher vor allem den kapitalistischen Privatinteressen des landwirtschaftlichen Großkapitals. Im Jahr 2016 wurden lediglich 24 Prozent des Getreides in Europa angebaut, um Menschen direkt zu ernähren und mehr als 71 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche der EU werden zur Viehfutterproduktion verwendet.

Auf ihrem Weg zu einem dieser geplanten Wasserbecken in Sainte Soline in der Region Nouvelle-Aquitaine wurden die Protestierenden am 25. März von den französischen Repressionseinheiten brutal gestoppt. 3200 Bullen schossen innerhalb einer Stunde mehr als 5000 sprengstoffgeladene GM2L-Granaten und Dutzende LBD-Gummigeschosse ab. Diese Polizeibrutalität führte zu zahlreichen schweren Verwundungen: Mehr als 200 Personen wurden verletzt, davon 40 schwer (eine Person erblindete auf einem Auge, eine andere droht es derzeit zu verlieren; eine weitere Person verlor ihre Gehfähigkeit wegen einer Fußverstümmelung und einer anderen wurde der Kiefer abgerissen). Viele Menschen wurden an Beinen und Händen schwer verletzt oder leiden seitdem unter Gehörschäden - auch zahlreiche psychische Traumata und Angstzustände sind zu beklagen. Zwei Personen wurden mit einer lebensbedrohlichen Prognose ins Koma versetzt: Mickaël, der von einem LBD-Schuss an der Luftröhre getroffen (er ist scheinbar inzwischen wieder aufgewacht), und Serge, der von einer GM2L-Granate am Kopf getroffen wurde (er liegt nach wie vor im Koma und seine Prognose ist immer noch lebensbedrohlich).

Als Antwort auf diese brutale Repression wurden am 30. März überall in Frankreich Versammlungen abgehalten. Es wurde sich mit den Opfern der Gewalt und den im Koma liegenden Genossen solidarisiert, zudem wurden die Medien scharf kritisiert, die aus den Protestierenden schnell Kriminelle machten, die diese Gewalt verdient hätten. Das Kollektiv «Les Soulèvements de la Terre», welches seit 2021 aus einer heterogenen Allianz von Umweltorganisationen, der französischen Bauerngewerkschaft Confédération paysanne und Autonomen getragen wird, steht derzeit im Fokus des Innenministeriums um Gerald Darmanin und soll im Namen des Kampfes gegen den «Ökoterrorismus» verboten werden. Eine Petition gegen dieses Verbot hat bereits 40.000 Unterschriften eingeholt, darunter die Autorin Annie Ernaux und der Anthropologe Philippe Descola.

Die Ereignisse in Sainte Soline hatten große Wirkung auf die Bewegung gegen die Rentenreform. Diese richtet sich nun auch gegen die staatliche Repression, da für viele deutlich geworden ist, dass es dieselbe repressive Staatsmacht ist, die Zwangsrekrutierungen von Arbeiter:innen anordnet, Streikposten und Blockaden vor den Fabriktoren der Müllverbrennungsanlagen und Raffinieren gewaltsam räumt und Umweltaktivist:innen verstümmelt.

Aus Solidarität mit den Kämpfenden in Frankreich wollen wir im Folgenden drei von uns ins Deutsche übersetzte Communiqés veröffentlichen. Die Stellungnahmen antworten auf die Hetzkampagne von Staat und Medien gegen die Bewegung bzw. die Opfer der staatlichen Gewalt. Die ersten beiden Communiqés wurden von den Eltern des lebensgefährlich verletzten Serge verfasst, im zweiten Statement reagieren seine Genoss:innen auf die Feindkonstruktionen.

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Communiqés der Eltern von Serge:

29. März 2023

Unser Sohn Serge befindet sich momentan mit “lebensbedrohlichen Verletzungen” im Krankenhaus. Er wurde am 25. März auf einer Demonstration gegen ein geplantes Bewässerungsbecken in Sainte Soline durch eine GM2L-Grante der Polizei schwer verletzt.

Wir haben Anzeige erstattet wegen versuchten Mordes und vorsätzlicher Behinderung der Rettungsmaßnahmen; desweiteren wegen Verletzung der Schweigepflicht im Rahmen einer polizeilichen Untersuchung und Missbrauch von Akteninformationen.

Diverse Presseartikel verbreiten Unwahrheiten oder sind ungenau. Daher möchten wir Folgendes klarstellen :

Ja, Serge hat einen Eintrag in der Gefährder-Datenbank Fiche S - wie Tausende von Aktivisten heutzutage in Frankreich
Ja, Serge hatte juristische Probleme - wie die meisten Menschen, die gegen die herrschende Ordnung kämpfen.
Ja, Serge hat an zahlreichen antikapitalistischen Versammlungen teilgenommen - wie Millionen junger Menschen auf der ganzen Welt, die der Meinung sind, dass eine ordentliche Revolution nicht zu viel verlangt wäre, und wie die Millionen von Arbeitern, die derzeit in Frankreich gegen die Rentenreform kämpfen.

Wir sind der Ansicht, dass diese Taten aus unserem Sohn keinen Kriminellen, sondern einen ehrenhaften Menschen machen.

Serges Eltern

 

4. April 2023

Serge liegt seit nunmehr 10 Tagen im Koma. Er wurde während der Demonstration gegen die Bewässerungsbecken am 25. März in Sainte-Soline von einer Polizeigranate getroffen. Sein Zustand ist weiterhin lebensbedrohlich.

Wir und seine Lebensgefährtin danken allen Menschen (Genoss:innen, Freund:innen, Bekannten und Anonymen), die uns ihre Unterstützung und ihre Solidarität mit ihm bekundet haben.

Wir danken den Zehntausenden von Genoss:innen, die am Donnerstag, den 30. März, auf der Straße, vor den Polizeiwachen und an anderen Orten ihre Stimme gegen den in Frankreich errichteten Polizeistaat erhoben haben.

Wir danken all jenen, die den Verletzten während der Demonstration geholfen haben oder die über die Repression in Sainte-Soline berichtet haben, insbesondere in Bezug auf Mickaël und Serge.

Schließlich danken wir dem medizinischen Team, das an ihrer Seite steht, um für ihr Leben zu kämpfen.

Serge ringt mit dem Leben mit derselben Entschlossenheit, die er im Kampf gegen eine Gesellschaftsordnung aufbringt, deren einziges Ziel in der Aufrechterhaltung der eisernen Herrschaft der Bourgeoisie über die Ausgebeuteten liegt.

Seien wir solidarisch mit allen, die Gérald Darmanin töten, auflösen, einsperren und verstümmeln will - von der Rentenbewegung bis zu den Antirepressionskomitees, von den künftigen ZAD (zone à défendre - temporäre, zu verteidigende autonome Zonen) bis zur Blockadebewegung. Nicht diejenigen, die ihre Ablehnung einer zerstörerischen Ordnung zum Ausdruck bringen, agieren gewalttätig und terroristisch, sondern der Staat.

Die Eltern von Serge.

 

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Genoss:innen von Serge über die polizeiliche Feindkonstruktion um Serge und andere Verletzte von Sainte Soline:

29. März 2023

Während unser Genosse Serge noch mit aller Kraft um sein Leben kämpft, das ihm der Staat nehmen will, werden wir Zeugen eines zweiten Gewaltausbruchs. In diesem Falle macht die mediale Gewalt aus ihm eine Person, die man legitimerweise töten darf. Er liegt heute immer noch im Koma und sein Zustand ist weiterhin lebensbedrohlich. Unsere Solidarität gilt auch Mickaël und all jenen, die in irgendeiner Weise der Polizeigewalt ausgesetzt waren.

Die Worte der Staatsmacht werden von den bürgerlichen Medien unermüdlich wiederholt, um den Feind zu konstruieren, den sie bekämpfen wollen. Diese Nebelwand wird den Dutzenden von Erzählungen, die den Ablauf der Ereignisse neu darstellen, jedoch nicht standhalten. Die Polizei verwendete Granaten mit dem Ziel, Demonstranten zu verwunden, zugleich sorgte sie für das Versagen der Rettungskräfte und riskierte damit den Tod von Genoss:innen.

Die Geheimdienste verteilen Serges Akte reihenweise an die Presseredaktionen, um sicherzugehen, dass über uns die polizeiliche Erzählung verbreitet wird. Wir werden uns hier nicht die Mühe machen, jeden dieser bewusst verkürzten Polizeiberichte zu widerlegen, da wir nicht glauben, dass innerhalb der Verdunkelungen der staatlichen und medialen Propaganda die Wahrheit darüber einen Platz hat. Seit vielen Jahren nimmt Serge als Revolutionär mit all seinem Willen an verschiedenen Klassenkämpfen teil, die gegen unsere Ausbeutung kämpfen, stets mit dem Ziel, diese Kämpfe zu erweitern, zu stärken und Siege für das Proletariat zu erringen.

Denn ja, wir dürfen nicht resignieren und uns mit den erdrückenden Verhältnissen abfinden.

Wir rufen all diejenigen, die Serge kennen, dazu auf, in ihrem Umfeld zu erzählen, wer er ist. Dabei sollte eines nicht vergessen werden: Serge lehnte die spalterische Strategie der Herrschenden ab, die zwischen Guten und Schlechten unterscheidet. Wir halten mit ihm an dieser Linie fest.

Aus dem Innern der Bewegung gegen die Rentenreform in Frankreich haben am Dienstag, den 28. März, Menschen von überall ihre Solidarität bekundet. Wir haben auch viele Nachrichten von Genossinnen und Genossen aus anderen Ländern erhalten. Wir danken ihnen aufrichtig dafür und ermutigen sie, den Kampf fortzusetzen und auszuweiten. Weitere Initiativen sind bereits geplant und wir rufen alle dazu auf, sich diesen anzuschließen und sie, ohne Zurückhaltung, zu vervielfältigen, in Frankreich und weltweit.

Wir rufen dazu auf, diese Erklärung massiv zu verbreiten.

PS: Derzeit kursieren viele Gerüchte über Serges Gesundheitszustand. Verbreitet diese nicht weiter. Wir halten euch über die Entwicklung der Situation auf dem Laufenden.

Genoss:innen von Serge