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Ukraine-Korrespondenzen: Teil III

Ukraine-Korrespondenzen: Teil III

14. April 2022
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Im Folgenden dokumentieren wir den dritten und voraussichtlich letzten Teil der Ukraine-Korrespondenz. Der Text wurde von der Redaktion leicht gekürzt. Das englische Original findet sich unter https://endnotes.org.uk/other_texts/en/andrew-letters-from-ukraine-part-3. Teil 1 und 2 findet ihr hier: https://communaut.org/de/ukraine-korrespondenzen-teil-i-und-ii.

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Wie hat sich die Situation in der letzten Woche entwickelt?

Obwohl sich der Vormarsch verlangsamt hat und die Wochen sich immer ähnlicher werden, gibt es eine bemerkenswerte Veränderung. Die Nachrichten über die erfolgreichen Gegenangriffe der ukrainischen Armee rund um Kiew und die Tatsache, dass Russland einige seiner Forderungen in den Friedensgesprächen fallen ließ, haben das Bild einer erfolgreichen ukrainischen Militärkampagne verstärkt. Nachdem Russland angekündigt hatte, seine militärischen Anstrengungen rund um Kiew zurückzufahren, feierte die ukrainische Öffentlichkeit einen Krieg, der "bereits gewonnen" ist. Noch ist unklar, wie Russland sich an den Friedensgesprächen beteiligen wird und ob sie nur ein vorübergehendes Ablenkungsmanöver sind. Genauso wie sich das Ausmaß des "Rückzugs" erst noch zeigen muss. Aber wir sollten auch die andere Seite betrachten. Die ukrainische Verteidigung stützt sich weiterhin auf Wehrpflichtige und Freiwillige ohne jegliche militärische Ausbildung, während die NATO einen unaufhörlichen Nachschub an Waffen liefert. Ihre Erfolge werden das Bild von Normalität hinter den Frontlinien verstärken. Unterdessen müssen sich die Geflüchteten auf eine Katastrophe einstellen, wenn die Hilfsmaßnahmen langsam versiegen. Die Menschen in den eingekesselten Städten werden sich weiterhin vor den täglichen Bombardements verstecken müssen und Russland wird die frei gewordenen Kräfte wahrscheinlich zur Verstärkung von Angriffen auf andere Ziele einsetzen. Im Gegensatz zu denjenigen, die die falsche Dichotomie zwischen Krieg und Frieden verteidigen wollen, wissen wir, dass der Krieg noch nicht vorbei ist.

Die ukrainische Regierung hat unter Anwendung des Kriegsrechts eine Reihe von Gesetzen erlassen, die die Rechte der Lohnabhängigen stark einschränken. Die Unternehmer können die Wochenarbeitszeit von 40 auf 60 Stunden erhöhen und Urlaubstage streichen. Befürchtest du, dass das Arbeitsrecht im Namen des Krieges noch radikaler umgestaltet wird?

Vor dem Krieg hatte die Ukraine bereits eine hohe Arbeitslosenquote von etwa 10 Prozent, bei einer Erwerbsquote von 65 Prozent im Jahr 2021. Das Problem einer extrem unsicheren Zukunftsperspektive, das sich in der starken Präsenz von Studierenden auf dem Euromaidan ausdrückte, hat sich durch die Kürzungen an den Universitäten noch verschärft. Die informelle Beschäftigung war bereits in allen Altersgruppen verbreitet, die Renten allenfalls mager; für den Großteil der Bevölkerung gab es keinen Weg aus der Armut. In einem stagnierenden und hoffnungslosen Land wusste man, dass die eigenen Pläne nicht aufgehen würden. Sie fielen aber nur langsam in sich zusammen, deshalb konnte man so tun, als gäbe es noch Optionen und Sicherheiten. Durch den Krieg wird man jedoch völlig desorientiert und fühlt sich absolut machtlos. Man wird in ein Meer neuer Ungewissheiten geworfen, in dem alles verloren und jeder verwirrt ist. Nach einem Monat bin ich immer noch nicht sicher, ob ich jemals von einem "Danach" dieses Krieges sprechen kann. Er vernichtet nicht nur Aktienwerte und Millionen von beruflichen Existenzen, sondern ganz allgemein die Zukunft. Während meine Genoss:innen in die Reihen einer patriotischen Armee getrieben werden – und dabei überwältigt sie nicht nur die Tradition aller toten Geschlechter, sie feiern diese Wiederholung der Geschichte auch noch –, scheint die Möglichkeit der Befreiung ausgeschlossen.

Die angeblich befristeten Gesetzesänderungen formalisieren wohl nur bereits übliche Praktiken. Niemand kümmert sich mehr um rechtmäßiges Handeln; Millionen von Menschen haben ihre Heimat verlassen und die Arbeitgeber:innen haben die Lohnzahlungen ausgesetzt. Das System wurde kurz erschüttert, hat sich aber schnell wieder angepasst und seine Herrschaft behauptet: Geflüchtete versuchen irgendeine Arbeit zu finden und in so schweren Zeiten können alle Beschränkungen der Ausbeutung aufgehoben werden. Es ist schwer zu sagen, ob diese Verschärfungen nach dem Krieg fortbestehen werden. Wenn man bedenkt, dass die recht schwachen ausländischen Investitionen profitable Branchen finden müssen, wäre es jedoch nicht verwunderlich. Die Gewerkschaften werden sich wohl kaum gegen diese Gesetze wehren, da es in der Ukraine so gut wie keine unabhängige Gewerkschaftsbewegung gibt und die offiziellen postsowjetischen Organisationen nur ausgehöhlte konservative Strukturen sind. Es gab keine Streiks, nicht einmal während des Aufstands 2014, und es ist unwahrscheinlich, dass die weitgehend patriotischen Gewerkschaften die Kriegsanstrengungen des Landes untergraben werden.

In welchem Verhältnis stehen die Ereignisse der letzten Jahre in der Ukraine zu der jüngsten Welle von Aufständen in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion?

Wie alle guten Revolutionäre sollten wir „nicht an das Gute Alte anknüpfen, sondern an das schlechte Neue“. Auch wenn die Entwicklung der historischen Partei keineswegs ein gleichmäßiger und linearer Prozess ist, lernen die Bewegungen voneinander. Während des Januaraufstands in Kasachstan kam es im postsowjetischen Raum zum ersten Mal zu groß angelegten Plünderungen. Es war der erste Aufstand dieser Art, der nicht durch ein politisches Ereignis ausgelöst wurde. Bei den Protesten in Weißrussland 2020/21, die vor allem auf faire Wahlen abzielten, gab es überhaupt keine Plünderungen, 2014 in der Ukraine wurden nur Polizeiwachen und Regierungsbüros angegriffen und die erbeuteten Waffen sofort zurückgegeben.1 In Kirgisistan kam es nach den Wahlen 2020 vereinzelt zu Plünderungen, aber die Bevölkerung hat der Polizei dabei geholfen, die Geschäfte zu verteidigen. Der kasachische Aufstand war der jüngste in einer ganzen Reihe von Aufständen, die durch steigende Gaspreise ausgelöst wurden. Inwieweit künftige Unruhen in ehemals sozialistischen Ländern von ihm lernen können, was schnelle Massenkoordination und Plünderungen betrifft, bleibt eine offene Frage.

Wenn man sich die Ereignisse nach dem Maidan in der Ukraine ansieht, fällt es schwer, nicht in Depressionen zu versinken. Nationalistische Aufmärsche und Krawalle, bei denen ein paar Reifen verbrannt und Statuen demoliert werden, aber nicht mehr gefordert wird als ein etwas anderer, jüngerer Minister, haben auch liberale Menschenmengen angezogen. Auf der anderen Seite haben selbst die Einschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie keine nennenswerte Mobilisierung hervorgerufen. Die einzigen, die es gewagt haben zu protestieren, waren einige Unternehmer:innen: Während die Regierung die Gesundheitsversorgung weiter abbaute und den Kampf gegen das Virus im Grunde aufgab, forderten sie die Zurücknahme aller Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. So gern wir auch verkünden würden, dass die sozialen Widersprüche jetzt endlich aufbrechen, die Realität sieht anders aus. .

Die Sabotage der belarussischen Eisenbahnlinien und die gelegentlichen russischen Desertionen zeigen die Stärke eines Widerstands, der nicht auf eine demokratische Mobilisierung zielt. Die von Radikalen gestellte Frage "Sollen wir die Todesmaschine sabotieren?" war immer dann falsch gestellt, wenn damit eine sofortige Mobilisierung der breiten Bevölkerung gemeint war. Aber auf die Frage gab es auch immer eine Antwort: "Das Leben hätte keinen Sinn, wenn es keine Unterbrechungen in den Kreisläufen der allgemeinen Warenproduktion gäbe." Die ukrainische Wehrdienstverweigerung bleibt vorerst atomisiert, sie findet zwangsläufig stillschweigend statt und kann die patriotische Nation, in deren Namen die Bevölkerung massakriert wird, nicht zerstören.

Bevor es wirklich zu einem Bruch kommt, mag der Prozess des verallgemeinerten sozialen Krieges, den wir „die wirkliche Bewegung“ nennen, schwer zu erkennen sein, aber wir sehen immerhin Spuren der erstickten Revolte.  Vereinzelte Plünderungen in Städten in der ganzen Ukraine stoßen vorerst auf den Widerstand der Bürgerinnen und Bürger. Doch wenn sie Fahrkartenautomaten zerstören und Geschäfte plündern, zeigen diejenigen, die vom Prozess der Kapitalverwertung ausgeschlossen sind, das Ausmaß ihres Hasses. Die Geschäfte symbolisieren die totale Beherrschung unserer Umgebung durch das Kapital: Sie dienen nur dem Handel und befinden sich oft auf einem Boulevard aus sowjetischer Zeit, dessen Ausmaße sich Haussmann nicht hätte träumen lassen. Die Fahrscheinautomaten wiederum zeigen, worauf der Traum von der Automatisierung hinausläuft: auch die freie Zeit ist nichts als ein Fluch.

Im Moment ist die ukrainische Politik davon geprägt, dass sie Sozialdemokraten hervorbringt, die keine Sozialdemokratie mehr verwirklichen können; die Bruchlinien zeichnen sich bereits ab.Vor diesem Hintergrund ist Mike Davis' Beschreibung der Blindheit der herrschenden Klasse durchaus aufschlussreich.2 Er zeichnet das apokalyptische Bild von Milliardären, die "alles Gute auf der Erde" zerstören und in ihrer Gier die langatmigen Rechtfertigungen eines ideologischen Spektakels gar nicht mehr benötigen. Insofern ist es kaum überraschend, dass die politische Klasse, die gezwungen ist, ein globales System aufrechtzuerhalten, das ihre eigene Binnenwirtschaft zerstört, desorganisiert und verwirrt ist. Auch wenn Davis suggeriert, dass einzelne politische Maßnahmen oder Politiker die Ursache für einen zunehmend kurzsichtigen, blinden Imperialismus sind, der im Sturm des Fortschritts gefangen ist, benennt seine Analyse das gegenwärtige Problem. Als Walter Benjamin, Eduard Fuchs zitierend, in den toten Überresten der Arbeiterbewegung nach Zeichen materialistischen Denkens suchte, charakterisierte er auch unsere eigene Zeit:

„Auch dekadente Zeiten und kranke Gehirne neigen zu grotesken Gestaltungen. In solchen Fällen ist das Groteske das erschütternde Widerspiel der Tatsache, dass den betreffenden Zeiten und Individuen die Welt- und Daseinsprobleme unlösbar erscheinen.“3

Davis' deprimierende Alternative zur erfolglosen "Kanalisierung" der "von Occupy, BLM und den Sanders-Kampagnen erzeugten Energien" besteht darin, zu einer Propaganda der Tat im 21. Jahrhundert aufzurufen, so als ob sie die Repression schwächen oder den Krieg abschaffen könnte. Aber das Attentat auf Symon Petljura, der sich längst im Ruhestand befand, war keine Erlösung des jüdischen Volkes.4 Und eine geringfügige Umverteilung der finanziellen Macht im Sinne einer radikalisierten nationalistischen Bewegung kann das in der Ukraine herrschende Leid nicht überwinden. Stattdessen müssen wir von der Hoffnungslosigkeit als grundlegendem Kennzeichen unserer Zeit ausgehen, um einen Ausweg aus ihr zu finden.

(1. April 2022)

  • 1. Dies führte zu einer Einschätzung der Unruhen, die jeglicher politischer Ironie entbehrte. Siehe z. B. den Artikel "No looting or anarchy in this EuroMaidan revolution" der Kyiv Post.
  • 2. Mike Davis, “Thanatos Triumphant”, Sidecar , 7. März 2022.
  • 3. Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker, in: Walter Benjamin, Angelus Novus. Ausgewählte Schriften Bd. 2, Frankfurt a.M. 1966, S. 317.
  • 4. Anm. d. Übs.: Symon Petljura war 1919/20 Präsident der Ukrainischen Volksrepublik und für antisemitische Pogrome verantwortlich. 1926 fiel er in Paris einem Attentat durch den ukrainisch-jüdischen Anarchisten Scholom Schwartzbard zum Opfer, der für seine Tat von einem französischen Gericht freigesprochen wurde.

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