Ukraine-Korrespondenzen: Teil I und II
Seit dem Angriff der russischen Streitkräfte auf die Ukraine Ende Februar hat sich die Berichterstattung in den Mainstream-Medien über den Krieg kaum geändert. Sie hat einen stark militaristischen Charakter und konzentriert sich primär auf das Säbelrasseln der Großmächte, hier der demokratische Westen, dort der despotische Osten - mit uns der freundliche Selenskji, gegen uns der diabolische Putin. Dieser Militarismus und Manichäismus hat insbesondere den linksliberalen Teil der westlichen Gesellschaften erfasst. Aus pazifistischen und konfliktscheuen Demokrat:innen wurden innerhalb weniger Stunden Apologet:innen des Weltkriegs und der Wiederaufrüstung. Leider ist gegenwärtig auch die radikale Linke selten auf der Suche nach einer proletarischen Klassenposition, die sich weder auf die Seite Putins noch der Nato schlägt. Das folgende Interview hingegen ist die Aufzeichnung eines Gesprächs mit einem ukrainischen Genossen, einem jungen Informatikstudenten, der über die Lage vor Ort berichtet. Er erzählt über seine Flucht innerhalb der Ukraine, über die geschichtlichen Zusammenhänge des politischen Konflikts und über die Möglichkeit einer emanzipativen Politik, die im Land Gehör finden könnte.
Die ‚Ukraine-Korrespondenz‘ ist durch die Gruppe Tous Dehors entstanden und im Französischen veröffentlicht worden, eine englische Version ist bei endnotes erschienen. Da das Gespräch als eine wöchentlich fortgesetzte Reihe gedacht ist, werden wir auch nachfolgende Beiträge auf Communaut in deutscher Übersetzung veröffentlichen.
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Ukraine-Korrespondenzen : Teil 1
Kannst du uns zunächst etwas über deinen Hintergrund vor dem Krieg erzählen?
Ich stamme ursprünglich aus Charkiw in der Ostukraine, nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt, habe aber die letzten Jahre in Lwiw studiert. Meine ganze Familie und meine Verwandten stammen ebenfalls aus Charkiw und bevor ich nach Lwiw zog, habe ich täglich Russisch gesprochen. Charkiw ist fast vollständig russischsprachig, aber wie wir gerade sehen, bedeutet das nicht unbedingt, dass man pro-russische Positionen vertritt. Ich studiere Informatik; einerseits, weil dies die einzige Möglichkeit ist, in der Ukraine mehr als einen Hungerlohn zu verdienen, und weil man vielleicht irgendwann auswandern ("fliehen ") 1 kann. Andererseits habe ich Spaß an Low-Level-Programmierung und Technologie im Allgemeinen. Außerdem interessiert mich wie die kapitalistische Moderne die Entwicklung der Technologie bestimmt, die aber auch so genutzt werden könnte, dass sie der Befreiung dient.
Darüber hinaus interessiere ich mich für den Kommunismus. Da der Versuch, unsere kommunistischen Horizonte zu erkennen, ein Verständnis des Kapitals und der Geschichte im Allgemeinen voraussetzt, interessiere ich mich für die Art und Weise, wie ein entstehender Weltmarkt, eine "zweite Leibeigenschaft" 2 und die imperialistische Expansion das Land, in dem ich aufgewachsen bin, geprägt haben. Ich versuche zu verstehen, wie wir uns konstituiert haben, von der Geschichte der langsamen und ungleichmäßigen kapitalistischen Modernisierung der Achse St. Petersburg-Jusowska-Odessa bis hin zu den sowjetischen Modernisierungen, und ich lerne von den Befreiungsbewegungen, die gegen die Vorherrschaft des Großgrundbesitzers, des Kapitalisten und des Bürokraten gekämpft haben.
Wie hast du in den ersten Tagen der Invasion reagiert? Warst du überrascht oder hast du eine russische Militäroperation dieses Ausmaßes erwartet?
Obwohl ich mich auf diese Möglichkeit vorbereitete (ich habe das Nötigste und meine Papiere eingepackt und dafür gesorgt, dass meine Familie in Charkiw Evakuierungspläne hat), habe ich nicht geglaubt, dass es zu einer Invasion im großen Stil kommen würde. Ich ging davon aus, dass Russland vor einem Einmarsch eine massive Desinformationskampagne durchführen würde, so wie 2014 vor den Invasionen auf der Krim und im Donbass. Wie sich jedoch schließlich herausstellte, war dieser Indikator unzuverlässig. Da ich die russischen Staatsmedien täglich verfolgte und keinen nennenswerten Anstieg der Provokationen feststellen konnte, dachte ich, dass die in Grenznähe stationierten Truppen lediglich als Druckmittel dienen, um die Ukraine und die NATO zu Verhandlungen über für Russland akzeptablere Bedingungen zu bewegen. Insgesamt gab es ein paar Leute, die auf jedes neue Satellitenfoto von russischen Militärbasen überreagierten, aber die Mehrheit hat sich an die Tatsache gewöhnt, dass Russland im Osten einen Krieg führt und immer viel mehr wollte.
Aber grundsätzlich denke ich, dass niemand auf das, was dann kommen sollte, vorbereitet sein konnte. Selbst wenn man sich klarmachte, dass die russische Invasion bereits seit acht Jahren andauerte, selbst wenn man das tägliche Leben, das von imperialen Ambitionen und der Akkumulation blutgetränkter Waren bestimmt wurde, als einen andauernden Bürgerkrieg betrachtete, konnte einen nichts auf jenen frühen Morgen vorbereiten, an dem der Fliegeralarm schließlich den Nebel des Traums durchbrach. Zuerst drangen Worte in meinen halbbewussten Geist ein und explodierten in mir, da ich mir über das Ausmaß der Dinge noch nicht im Klaren war. "Alle Militärflughäfen sind zerstört", hörte ich und erinnerte mich an die Karten mit den roten Punkten an der Grenze, "Panzer sind in den Städten", hallte es noch in meinem Kopf, als ich schnell meine Sachen zusammenpackte. Mein Körper gehorchte mir nicht, jedes einzelne Geräusch wurde um das Zehnfache verstärkt und ich konnte mich nicht eine Sekunde lang hinsetzen. Ich scrollte durch die Nachrichten und schrieb Freund:innen SMS, während ich in der Wohnung herumlief. In diesem Zustand verbrachte ich die nächsten Tage, aber schließlich verlangsamte sich der russische Vormarsch und viele Menschen beruhigten sich entsprechend.
Meine Familie hatte das Glück, am frühen Morgen nach dem ersten Alarm Charkiw mit dem Auto verlassen zu können. Nachdem meine Freund:innen die polnische Grenze überquert hatten, schloss ich mich meiner Familie an. Wir sind jetzt immer noch in der Westukraine, in relativer Sicherheit, zusammen mit einigen Verwandten, die einige Tage später aus Charkiw evakuiert werden konnten. Da ich einberufungsfähig bin, ist der Verbleib in der Ukraine die einzige Option für mich. Wir wissen noch nicht genau, wie wir weiter vorgehen werden, denn das hängt davon ab, wie lange dieser Krieg dauern wird und ob wir ein Zuhause haben werden, in das wir zurückkehren können.
Man könnte sagen, dass ein Krieg das normale Leben unterbricht und eine Ausnahmesituation herstellt. Inwieweit verändert die aktuelle Situation deiner Meinung nach die ukrainische Gesellschaft? Werden die alten politischen und sozialen Spaltungen beibehalten und vertieft? Oder erleben wir im Gegenteil eine rasche Umstrukturierung entlang neuer Spaltungslinien?
Selbst diejenigen, die immer noch nicht verstanden haben, dass der Ausnahmezustand die Regel ist, sehen eine offensichtliche Verschärfung der bestehenden Trennlinien. Es ist kein Zufall, dass die Menschen, die in den besetzten und eingekesselten Städten geblieben sind, überproportional arm und oft alt sind, auch wenn die Arbeiter:innen, die unter ständigem Beschuss die Brände löschen und die Straßen säubern, mit großem Aufwand als patriotische Held:innen dargestellt werden. Andernorts schlafen die Menschen auf den Feldern, weil es an den Grenzen riesige Warteschlangen gibt, und einige werden schlichtweg abgewiesen, weil sie das Pech haben, aus Afrika oder dem Nahen Osten zu stammen. Viele haben beschlossen, nicht mehr zur Arbeit zu gehen, obwohl die Regierung versucht, die Menschen in den "friedlichen" Regionen zur Rückkehr zur Normalität zu motivieren. Aber was früher "notwendig" und "logisch" war, ist jetzt zunehmend gefährlich.
Es ist schwer zu leugnen, dass die derzeitige Situation eindeutig den reaktionären Kräften zugute kommt: Die militarisierten nationalistischen Gruppen erhalten mehr Unterstützung und sind zunehmend "Mainstream". Die fortschrittlichen Liberalen haben ihre "Kämpfe" vergessen und stellen sich bedingungslos hinter den Staatsapparat. Aber ich sehe auch viele Gelegenheiten zur Radikalisierung, denn indem die Armee und die Polizei Menschen einberufen und nicht aus dem Land lassen, indem sie Plünderer verhaften und töten, machen sie deutlich, dass es ihnen um den Schutz des Gesetzes und nicht um unser Überleben geht. Wenn man erst einmal verstanden hat, dass das System, in dem wir leben, die Ursache dieses Schreckens ist, dass es sich aus dieser Gewalt nährt, wenn man es mit eigener Haut spürt, ist es wirklich schwer, Leuten zuzuhören, die das ukrainische Leid als eine Art dauerhaftes Schicksal darstellen und politische Scheinlösungen vorschlagen.
Die ukrainische Regierung und die Medien stellen die Invasion als ein "natürliches", mythisches Ereignis dar. Der Gesundheitsminister ging ohne Schwierigkeiten dazu über, nicht mehr über die Zahl der Corona-Infizierten und -Toten zu berichten, sondern über die Zahl der ermordeten Kinder. Der Krieg und die Pandemie werden somit von der Normalität abgetrennt, ihre Ursachen und Folgen sollen mit dem Wesen des Staates und mit der Welt insgesamt nichts zu tun haben: Es sind halt unkontrollierbare Katastrophen. Der Massenmord an der ukrainischen Zivilbevölkerung wird als unpolitisch beschrieben, er geht von einer unmenschlichen und ansteckenden Population russischer "Orks" aus. Der ukrainische Staat versucht nach dieser Darstellung einfach nur zu überleben, und es ist Verrat, ihn nicht unter Einsatz des eigenen Körpers zu verteidigen.
Die gegenwärtige Situation kennzeichnet somit zum einen, dass die Ursachen falsch dargestellt werden: "Krieg kann nicht Teil der Normalität sein, Faschismus ist keine Konstante in einer liberalen Demokratie, er steht außerhalb von ihr". Zum anderen verfügen Nationalist:innen und Liberale über keinerlei Lösungen. Forderungen nach Reparationen (die selbst nur verdeckte Aufrufe zum Massenmord an "schuldigen" Russ:innen sind) und Aufrufe zur Ermordung Putins zeigen, dass man die imperiale Verfasstheit der Welt für unveränderbar hält und gewisse Umverteilungen demnach alles sind, worauf man hoffen kann. Finanzielle Hilfe für die Ukraine ist wichtig, aber die Erwartung, dass die Ukraine nach dem Krieg aufgrund des "starken Patriotismus" und der "nationalen Einheit" einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, ist unbegründet. Das sind alles keine Lösungen, da dieser Krieg untrennbar mit dem Kapital verbunden ist und nicht nur einen Betriebsunfall darstellt. Ein Friedensvertrag oder Putins Tod würde diesen Krieg zwar hier und jetzt beenden, aber Russland den postsowjetischen Raum auch weiterhin kontrollieren.
Nur eine Massenbewegung auf beiden Seiten der Front und in den Armeen selbst, ausgehend von einem Funken, den wir uns vielleicht jetzt noch nicht vorstellen können, kann der Welt, die den Krieg zum ersten Mal seit Jahren so nahe an die imperialen Kernländer gebracht hat, ein Ende setzen. Ich lehne die Kategorien von Unschuld und Schuld ab, die dazu dienen, Fremdenhass und Völkermord zu rechtfertigen. Wir sollten stattdessen versuchen, die Inseln des zivilen Widerstands auszuweiten und universalistische Gemeinschaften zu bilden. Der Imperialismus kann nicht von dem ihn antreibenden Wirtschaftsnationalismus getrennt werden, und die Regierungsform, unter der wir heute leben, überlässt Millionen dem Tod durch Covid, Krieg oder Klimawandel; beides kann nur durch eine Revolution überwunden werden, die eine radikal neue Welt aufbaut.
Meine Frage mag dir naiv erscheinen, aber was bleibt von der Euromaidan-Bewegung von 2013? Gibt es eine Basismobilisierung, die sie reaktiviert? Der Annexionskrieg zwischen Russland und der Ukraine ist in frühere Ereignisse eingebettet. Mit der Orangenen Revolution 2004 und dem Maidan 2014 hat die Ukraine zwei aufeinander folgende Bewegungen erlebt, die zum Sturz des prorussischen Regimes geführt haben. Kannst du kurz auf die Geschichte der ukrainischen sozialen Bewegungen der letzten zwei Jahrzehnte zurückblicken und insbesondere auf die Art und Weise, wie Putins Regime sie entschieden bekämpft hat?
Ich denke nicht, dass die Euromaidan-Bewegung der Ausgangspunkt für eine Analyse der aktuellen Situation sein sollte. Die Proteste von 2004 waren noch in der Rolle einer "progressiven Anti-Korruptions-Bewegung" gefangen. Was heute als "Orangene Revolution" bezeichnet wird, hat auch eine nationalistische Rhetorik hervorgebracht, die eine eigene ukrainische Identität definieren soll. Und sie hat die Vorstellung durchgesetzt, dass die wirtschaftliche Stagnation der Ukraine eine Folge von Korruption ist, nicht etwa ein Symptom der geringen Rentabilität in einem postsozialistischen Staat. Ich denke, dass jede linke Bewegung, die Korruption als Hauptgegner ihres Kampfes ansieht, auf dem Terrain des Feindes kämpft und die Schlacht daher von vornherein verloren hat.
Nach der relativ friedlichen Orangenen Revolution, die nur auf die Anerkennung der Wahlergebnisse abzielte, haben die Winterereignisse 2013/14 gezeigt, dass es im postsowjetischen Raum eine Massenbewegung geben kann, die in der Lage ist, die Polizei zu bekämpfen. Der Euromaidan lässt sich nicht leicht einordnen. Die Forderungen des Protests waren vielfältig, und der sehr konfrontative Charakter der Bewegung wurde im Zuge der zunehmend gewaltsamen polizeilichen Unterdrückung der Demonstrationen noch verstärkt. Bei den Demonstrant:innen handelte es sich nicht ausschließlich um militante Rechtsradikale. Es lässt sich aber nicht leugnen, dass viele von ihnen mit den relativ kleinen Nazigruppen übereinstimmten und dass sie von deren Taktiken auf der Straße sowie von deren Reden beeinflusst wurden.
Nach dem Maidan rückte die rechte Rhetorik weiter in den Mainstream, zumal viele Liberale es für angemessen hielten, Putins Behauptung, die Ukraine sei voller "Bandera-Fans", in gewisser Weise wahr zu machen.3 Was die Aussichten auf das Entstehen solidarischer Strukturen nach dem Aufstand angeht, bin ich relativ pessimistisch. Die Geschichte nach dem Maidan ist ein gutes Beispiel dafür, wie rechte Milizen ihre Macht auf der Straße konsolidieren konnten, indem sie starke Verbindungen zu Armee, Polizei und Staat aufbauten und sogar eine Präsenz in ihnen gewannen - während die verschiedenen anarchistischen Gruppen langsam verschwanden oder sogar selbst patriotisch wurden.
Der Maidan und die anschließende russische Invasion im Donbass führten zum Entstehen eines riesigen Freiwilligennetzwerks. Damals wie heute werden politische Initiativen zur Stärkung des Militärs als äußerst populär angesehen. Diese oft apolitischen Netzwerke endeten schließlich dabei, rechte Bataillone auszurüsten, die ihre eigenen Ausbildungszentren eingerichtet haben. Sie rekrutieren auch aktiv junge Menschen, die nur allzu gern auf der Straße queere Menschen verprügeln
Was man in der heutigen Kriegsberichterstattung, die stets die militärische Leistung der Ukraine lobt, nicht zu sehen bekommt und was die Menschen im Allgemeinen nicht verstehen, ist, dass die Ausbildung, der Unterhalt und die Bewaffnung der ukrainischen Armee zusammen mit den Kreditanforderungen des IWF die strukturelle Ursache für Kürzungen bei Krankenhäusern, Schulen und Universitäten sowie für die Armutsrenten und die fehlenden Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor sind. Austerität ist die Zukunft, die die Ukraine erwartet, wenn sie jemals in die EU aufgenommen wird.
Nach dem Maidan beschränkte sich radikales politisches Handeln entweder auf die Beteiligung an einer der der Armee nahestehenden Milizen oder auf den Kampf für Rechte. Ohne die grundlegendsten radikalen Positionen aufzugeben, wie Flüchtlingen sowie ukrainischen und russischen Dissidenten zu helfen, müssen Radikale heute daran arbeiten, das Bild eines "patriotischen Krieges" zu zerstören, das der Staat aufgebaut hat. Im Zuge dieses Krieges und seiner Folgen wird es auf beiden Seiten der Grenze zu starker Repression kommen, deren Hauptlast letztlich die Geflüchteten tragen werden, die ihre Ersparnisse aufbrauchen und sich immer mehr verschulden. (18. März 2022)
Ukraine-Korrespondenzen : Teil 2
Kannst du kurz beschreiben, wie sich die Situation seit unserem Gespräch letzte Woche entwickelt hat?
Als der russische Vormarsch im Nordosten der Ukraine zum Stillstand kam, wurden einige Dinge klar. Die ukrainische Regierung wird sich auf Freiwillige stützen, um den noch im Land befindlichen Flüchtlingen zu helfen, und der Mangel an Unterkünften ist nicht nur auf die Überraschung der Invasion zurückzuführen. Mit der Erklärung Selenskyjs, dass ein landesweites Referendum über das Schicksal der Krim und des Donbass entscheiden wird, und den verstärkten Bemühungen, das Bild eines erfolgreichen Krieges aufzubauen, sehen die Möglichkeiten einer Friedenslösung noch düsterer aus. Die russischen Streitkräfte haben ihre Versuche, die ukrainischen Städte einzunehmen, eingestellt und sich stattdessen dafür entschieden, die Kommunikationswege abzuschneiden und sie einzukesseln. Eine Ausnahme bilden die Kämpfe um jedes einzelne Haus in Mariupol, wo entsetzliche Zerstörungen und unzählige zivile Opfer zu beklagen sind, die zusammen mit dem ununterbrochenen Beschuss in den Regionen Charkiw und Kiew den Preis eines Zermürbungskrieges deutlich machen.
Putins Regierung scheint eine imperiale Vision der Rolle Russlands wiederherstellen zu wollen und versucht seit einem Jahrzehnt, sich als regionaler Gendarm zu etablieren. Inwieweit sind die jüngsten Ereignisse deiner Meinung nach Teil einer umfassenderen russischen Politik gegenüber den Ländern der ehemaligen sowjetischen Einflusszone?
Ich glaube nicht, dass es eine "Wiederherstellung" des russischen Imperialismus gegeben hat: Er hat sich in denselben Bahnen fortgesetzt, obwohl Russland natürlich die Position des Hauptfeindes des Westens, die es im Kalten Krieg hatte, verloren hat. Anstatt den Zusammenbruch der UdSSR als einen radikalen Bruch sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht zu sehen, hat es meiner Meinung nach eine überraschende Kontinuität gegeben. Die Sowjetrepubliken haben sich aus den Grenzen der UdSSR gelöst, sondern auch ihre Struktur und ihre sowjetische Minderheitenpolitik beibehalten. So haben Streitigkeiten im Zusammenhang mit Minderheitensprachen und politischer Autonomie, die früher über den zentralen Parteiapparat ausgetragen wurden (der ihre Lösung oft an die entsprechende Republik zurückdelegiert hat), nun ihren Vermittler verloren und arten zu offenen Kriegen aus, wenn die betreffende Minderheit einen eigenen Staat hatte. Wenn wir den Zusammenbruch der UdSSR als Ergebnis der langsamen Entwicklung bestehender Trennlinien innerhalb der Struktur der Union betrachten, ist das Ausbleiben "revolutionärer" Veränderungen oder nationalistischer Ausbrüche in den postsowjetischen Staaten nicht mehr überraschend. Die Autonomie auf der Ebene der Staats- und Parteistrukturen spiegelte sich in einer wachsenden Unabhängigkeit auf der Ebene der Unternehmen wider, die immer stärker vom Markt abhängig wurden. Die Unternehmen und die Formen der Ausbeutung passten sich langsam an den raschen Wandel der globalen Strukturen an, wobei der Dissens zunächst über die etablierten Kanäle der sowjetischen Bürokratie lief und sich später mit dem Anwachsen der überschüssigen Bevölkerung auf die Straße verlagerte, als die Unternehmen Arbeiter:innen entließen, um die Produktionskosten zu senken.
Wir beobachten in der Region zwei Formen des russischen Imperialismus. In Weißrussland und Kasachstan beispielsweise unterhält Russland freundschaftliche Beziehungen zur herrschenden Klasse, und die Polizei und die Streitkräfte können in der gesamten Region direkt Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen durchführen. In der Ukraine und in Georgien zeigt Russland ein etwas anderes Gesicht, da die Unfähigkeit der Ukraine, eine friedliche Lösung mit Russland zu finden, das endgültige Ende des Unionsprojekts bedeutet. Beide Länder sind seither aus der russischen Einflusszone herausgetreten. Um die eng integrierten Staaten nicht zu verlieren, deren Einheit mit der neuen Russischen Föderation zu einem Schlüsselthema für ihren sich entwickelnden Nationalismus wurde, hat sie einen offenen Krieg gegen beide Länder geführt. Die Befürchtung, dass die ukrainischen Aufstände zu Unruhen im Kernland führen könnten, verschärfte das Problem noch weiter und diente als Vorwand für die Invasion. Die russische Oligarchie, die wegen ihrer Monopole bei der Rohstoffgewinnung und der Energiewirtschaft auf den Staat angewiesen ist, neigt naturgemäß zur Ausbeutung der eng verbundenen postsowjetischen Region, die ihre Gewinne abgeben muss, um die notwendigen Lieferungen zu erhalten. Für die russische herrschende Klasse stehen also die untrennbaren Ziele der politisch-militärischen Vorherrschaft und der Errichtung eines Imperiums der Rentenabschöpfung auf dem Spiel.
Leider enden einige antiimperialistische Analysen an dieser Stelle und betrachten Russland als die Bedrohung der westlichen Freiheit. Aber wir sollten auch die USA nicht aus der Schusslinie nehmen: Die wirtschaftliche Liberalisierung der 1990er Jahre, die man nicht auf die Handlungen einzelner Politiker:innen reduzieren kann, hat in jedem einzelnen postsowjetischen Staat direkt zum Zusammenbruch des Lebensstandards geführt und dazu beigetragen, dass die Region zu einem Nährboden für reaktionäre Politik wurde. Die USA haben auch die Spannungen vor der Invasion verschärft und sind froh, einen weiteren Vorwand für die Aufstockung der Militärbudgets zu haben. Die Geschichte zeigt allerdings, dass sich das Profitstreben schon oft über die latent rassistischen Narrative vom "orientalischen" und von Natur aus antiwestlichen Russland hinweggesetzt hat. Es genügt, sich daran zu erinnern, dass Frankreich und Großbritannien im Ersten Weltkrieg fröhlich an der Seite eines autokratischen Russlands kämpften und die russischen Expeditionsstreitkräfte in Lager schickten, als sie nach Bekanntwerden der Revolution in Russland begonnen hatten, Soldatenkomitees zu bilden. Nach dem Krieg war Frankreich enttäuscht, dass kein starkes Russland gab, das die Teilung Deutschlands unterstützen konnte. Die USA verfolgten ihre Politik der nationalen Selbstbestimmung gegenüber dem Russischen Reich nicht und hofften auf eine Zusammenarbeit mit den Bolschewiken. In der jüngeren Geschichte unterstützten sie Gorbatschow, bis der Untergang der UdSSR sicher war.
Wie ist nach fast einem Monat Krieg das Verhältnis zwischen der ukrainischen Regierung und den nationalistischen Gruppierungen?
Es liegt auf der Hand, dass die Regierung Selenskyj trotz des ganzen Geredes über "pro-russische" Tendenzen während seiner Präsidentschaft versucht, mit Vorsicht durch die gefährlichen Gewässer der Friedensgespräche zu navigieren. Obwohl Nationalist:innen und Nazis nicht an der Spitze des ukrainischen Staates stehen und nie eine nennenswerte politische Unterstützung genossen haben, haben sie sich in der regulären Armee und verschiedenen Milizen fest etabliert. Angesichts der russischen Invasion, die dem ukrainischen Nationalismus mehr Zuspruch verschafft als alles andere, und des Zustroms neuer Waffen könnten die Führer der Milizen bereit sein, ihre Macht unter Beweis zu stellen, falls Selenskyj zurückweichen sollte.
Das Verhältnis des Nationalismus zum ukrainischen Staat ist jedoch komplexer. Wie jeder Nationalstaat versucht die Ukraine, widersprüchliche historische Narrative miteinander zu versöhnen. Dies führt dazu, dass alle historischen Unterschiede zur Geschichte einer geeinten Nation zusammengefasst werden, die sich endlich vom ewigen Russischen Reich befreit hat. Bohdan Chmelnyzky, Simon Petliura und Stepan Bandera4 koexistieren dabei mit dem Bild der Ukrainer:innen, die die Konzentrationslager befreiten. Es ist unmöglich, nur die liberale Seite dieses Staates zu verteidigen, denn seine Aufrechterhaltung erfordert faschistische Gewalt, wenn die Ordnung bedroht ist. Um die nationale Einheit zu stärken, muss die Demokratie ausgesetzt und müssen die Parteien verboten werden. Eine stagnierende Wirtschaft bringt Gewalt hervor, in die sich Sadismus mischt: Plünderer werden ausgezogen und an Telefonmasten gefesselt. Da das Wohl der Nation auf dem Spiel steht, können die Arbeitsrechte eingeschränkt werden, bereits die russische Sprache reicht aus, um sich verdächtig zu machen. Im Gegensatz zur nationalistischen Geschichte ist unsere historische Methode nicht die der Einfühlung. Man bereitet dem Staat nicht ein Ende, indem man Denkmäler für die Unterdrückten errichtet. Wir sind auch nicht von Neugierde oder der Suche nach Parallelen getrieben. Die einzige Parallele zwischen uns und den Menschen, die vom Staat begraben und vergessen wurden, besteht darin, dass wir immer noch für die kommende Welt kämpfen, gegen die bestehende Welt. Jede soziale Bewegung, die sie herausfordert, muss die Widersprüche aufbrechen, die die ukrainische Zivilgesellschaft vorantreiben.
Wie könnte eine Politik aussehen, die den russischen Autoritarismus ebenso ablehnt wie die aus dem Westen kommende Diktatur der Wirtschaft? Wäre dies in den kommenden Jahren eine Position, die in der Ukraine Gehör und breiteren Zuspruch finden könnte?
Wir sollten die Position "no war but class war" nicht aufgeben, aber eine größere Strategie, die über unmittelbare Hilfsmaßnahmen hinausgeht, ist schwer vorstellbar. Die Situation, mit der wir derzeit konfrontiert sind, ist äußerst komplex und das fast vollständige Fehlen revolutionärer Solidaritätsnetzwerke in der Ukraine schränkt die Zahl der Optionen vor Ort stark ein: Manchmal kann es eine sicherere Option sein, sich freiwillig für eine Miliz im Westen des Landes zu melden, als sich weiterhin zu verstecken, denn wenn man entdeckt wird, steht man möglicherweise zwei Wochen später direkt an der Front. Deshalb schätze ich es sehr, dass Genossinnen und Genossen darüber offen debattieren und dass Gruppen die Bedeutung wirklicher Solidaritätsaktionen verstehen.
Bei der Formulierung einer kohärenten Strategie könnte man versucht sein, den sozialen Kampf auf friedlichere Zeiten zu verschieben. In der Tat hängt viel vom Ausgang dieses Krieges ab und es ist immer noch schwer vorherzusagen, ob die Ukraine die Möglichkeit hat, ein "neutraler" Staat zu werden, oder ob wir erst am Anfang eines langen Zermürbungskrieges stehen. Es wird immer deutlicher, dass der Krieg enorme internationale Folgen haben wird. Der globale Süden wird zwei Jahre nach dem Covid-19-Schock einen weiteren schweren Schlag für seine Ernährungssicherheit erleiden. Wir sollten jedoch nicht in den schlichten Gegensatz von Krieg und Frieden verfallen, der letztlich nur dazu dient, die Ausrufung des Ausnahmezustands durch die Regierungen zu verteidigen. Der langwierige Krieg im Donbass, der als Rechtfertigung für die Untätigkeit gegen reaktionäre Gewalt im eigenen Land herhalten musste, und die Tatsache, dass der ukrainische Staat in der Lage ist, jede abweichende Meinung zu unterdrücken, indem er sie einfach als "prorussisch" deklariert, haben dies einmal mehr bewiesen. Wir können nicht auf einen demokratischen, stabilen Kapitalismus warten, wir sollten uns auf die Katastrophe einstellen und nach Wegen suchen, wie wir sie hier und jetzt stoppen können.
Über die bloße Aufnahme von Geflüchteten hinaus sollten wir langfristige Solidaritätsstrukturen aufbauen, um uns auf die Nahrungsmittel- und Klimakrise vorzubereiten. Wir müssen uns der Militarisierung des Globalen Nordens widersetzen, wohl wissend, dass seine Waffen auf die Flüchtlinge herabregnen werden, die so "anders", so "fremd" für unsere Zivilisation sind. Die Sabotage schwer bewachter Waffenlieferungen an die Ukraine ist jedoch möglicherweise nicht der beste Weg, um die ukrainische Verteidigung und die Popularität der Armee zu untergraben. Wir sollten Massendesertionen und Meuterei auf beiden Seiten unterstützen, da dies der einzige realistische Weg ist, über die rein individuelle Wehrdienstverweigerung hinauszugehen und so die Einberufung zu stoppen. Wir sollten dem von der Ukraine konstruierten Bild eines erfolgreichen Feldzugs entgegentreten: Dieser Krieg ist nicht zu gewinnen und jede Minute, in der das geleugnet wird, tötet mehr und mehr Menschen. Patriotische Proklamationen helfen weder den neu eingezogenen Soldaten noch den Menschen, die nicht aus den langsam eingekesselten und beschossenen Städten evakuiert werden können, die, wie die Behörden versichern, "niemals fallen werden". Das historische Beispiel der Deutschen Vaterlandspartei5 zeigt bereits, dass reaktionäre Kräfte für die Fortsetzung des Krieges mobilisieren werden, solange eine Chance besteht, ihn zu gewinnen.
Wir können die Situation nicht weiterhin nur anhand von Symbolen und Slogans analysieren und den Faschismus nur dann sehen, wenn er ein Hakenkreuz trägt, oder Milizen loben, nur weil sie eine schwarze Fahnen tragen. Im ersten Fall besteht oft die Unfähigkeit, den Faschismus als notwendigen Bestandteil der liberalen Regierungstechniken zu sehen, im zweiten Fall der Wunsch nach einem reinen revolutionären Subjekt. Wir sollten uns unserer Schwäche stellen - bewusste Revolutionäre sind nur ein Tropfen im Ozean eines jeden Aufstandes - und dafür sorgen, dass sie während des Aufstandes zu unserer Stärke wird
Anstatt die Bildung einer "revolutionären" Selbstverteidigungssotnia6 in einer modernen Neuauflage der Saporoger Sich während eines weiteren Maidan zu feiern, sollten wir den Fetischismus der Militanz unter unseren Genossen hinterfragen. Die Bildung einer männlichen Straßengang, die sich auf den Mythos der Gewalt stützt, ist nicht der einzige Weg, den Faschismus zu bekämpfen, und der Kampf in der regulären Armee ist definitiv nicht der Weg, den Staat zu besiegen. Wir sollten uns allen widersetzen, die versuchen, aus einem Aufstand eine "seriöse" Angelegenheit zu machen, und allen, die in der Unsicherheit einer Platzbesetzung die Eigentums- und Geschlechtertrennung aufrechterhalten. Um nicht blindlings Bewegungen zu unterstützen, die sich als "antipolitisch" präsentieren, müssen wir unterscheiden, wofür die verschiedenen Taktiken eingesetzt werden. Barrikaden, Molotowcocktails und Besetzungen sind nicht per se revolutionär. Der Versuch, reaktionäre Bewegungen zu "bekehren" und nationalistische Narrative zu reklamieren, ist der Sache nicht dienlich. Während ukrainische Kosaken ihre Frauen und Familien in der Heimat zurückgelassen haben, um sich einem demokratischen Söldnerstaat anzuschließen, sind wir daran interessiert, universalistische Gemeinschaften aufzubauen, die gegen die Spaltungen der Gegenwart kämpfen. Der Erfolg einer Antikriegsbewegung in der Ukraine hängt von unserer Fähigkeit ab, den nationalistischen Fallen zu entkommen und der unvermeidlichen Repression zu widerstehen. (25. März 2022)
- 1. Der Begriff Auswanderung wird im Ukrainischen [звалити] und im Russischen [свалить] oft mit "entkommen, aussteigen" übersetzt.
- 2. Während die (ökonomische) Bedeutung von Leibeigenschaft in Westeuropa seit dem Spätmittelalter stark zurückging, erreichte sie in Mittel- und Osteuropa in Form der sogenannten Zweiten Leibeigenschaft erst in der Neuzeit ihre schärfste Ausprägung.
- 3. Stepan Bandera war ein nationalistischer Führer und Nazi-Kollaborateur während des Zweiten Weltkriegs. Diese unglückliche "Wiederaneignung" von Putins Behauptungen zeigt sich zum Beispiel in der Entstehung von queer-nationalistischen Organisationen, die sich offen als "Queer Banderists" bezeichnen.
- 4. Alle drei sind Schlüsselfiguren des ukrainischen Nationalismus. Jeder von ihnen hat antijüdische Pogrome verübt.
- 5. Die Deutsche Vaterlandspartei war eine proto-nazistische Partei der extremen Rechten, die 1917 versuchte, Deutschland für einen maximalen Kriegseinsatz zu mobilisieren.
- 6. Sotnia (wörtlich "Hundert") war eine militärische Einheit der Kosaken des 16. bis 18. Jahrhunderts, die 100-150 Personen umfasst. Sie hat für Ukrainische Nationalisten eine große Bedeutung und wurde von der Ukrainischen Volksrepublik, der Ukrainischen Nationalarmee und während des Euromaidan gebildet.