«Nur Katastrophen und Aufruhr eröffnen Möglichkeitsräume»
Der zweite Teil eines Gesprächs zwischen dem kommunistischen Geographen Phil Neel und dem türkischen Kollektiv e-Komite.
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Ein im Suez-Kanal havariertes Container-Schiff führte uns vor einigen Monaten vor Augen, wie fragil und angreifbar die materielle Infrastruktur des globalen Kapitalismus ist. Das Schiff ist mittlerweile befreit, doch diese kurze Krise warf Licht auf die Möglichkeiten kollektiver und militanter Aktionen an den logistischen Engpässen: Ein einziges Schiff nahm Einfluss auf 12% des Welthandels. Ein Hauptargument in deinem Buch zielt in ebendiese Richtung. Du betonst, dass sich kommende Klassenkämpfe nicht in den Zentren der globalen Metropolen abspielen werden, die Standorte für die Kreativökonomie, das Tech- und Finanzkapital sind, sondern in den Hinterlands. Diese Räume seien aufgrund ihrer Stellung innerhalb der logistischen Infrastruktur von besonderer strategischer Bedeutung für kommende proletarische Kämpfe, da hier die globale Produktion und ihre Lieferketten empfindlich getroffen werden können. Wie können wir uns auf potentielle Kämpfe in diesen Zonen vorbereiten und welche wären mögliche Strategien einer kommunistischen Organisierung in den Hinterlands?
Das ist natürlich die zentrale Frage und leider kann ich sie nicht eindeutig beantworten, da selbstverständlich alles von den jeweils lokalen Verhältnissen abhängt. Oder anders gefragt: wen meint das „wir“? Meiner Meinung nach sollte noch nicht von „kommunistischer Strategie“ gesprochen werden, wenn man von einer Gruppe von ca. fünf Leuten ausgeht. Das würde dem Begriff unrecht tun. Wir sollten daher zunächst etwas aufrichtiger sein. An Orten wie den USA ist das Niveau kommunistischer Organisierung so erbärmlich gering, dass es verlockend ist, jede Form der Organisierung sofort als Fortschritt zu deuten. Das Problem besteht darin, dass Leute oft verrückte kleine Sekten aufbauen und das dann „Organisierung“ nennen. Daher ist Organisierung an sich noch keine erfolgversprechende Strategie. Realistisch betrachtet muss man sagen, dass dieses „wir“ in den meisten amerikanischen Städten jämmerlich klein ist. Zwar hat man es theoretisch mit vielen Interessierten zu tun, doch faktisch sind nur wenige Leute in der Lage und gewillt wirkliche politische Arbeit zu leisten. Dennoch ist oft eine maßlose Selbstüberschätzung vorherrschend.
In anderen Ländern sind die Bedingung sich zu organisieren vielleicht besser, doch herrscht eine sehr starke Fragmentierung vor. Um der Spaltung entgegenzuwirken, werden oft politische Koalitionen eingegangen, die sich um den kleinsten gemeinsamen Nenner gruppieren. So z.B. die Wahl einer notwendigerweise enttäuschenden sozialdemokratischen Partei. Zwar scheitern diese Projekte regelmäßig, doch die Leute scheinen dies ebenso zuverlässig jedes Mal aufs Neue zu vergessen. Kommunist:innen besitzen in diesen Koalitionen zumeist zu wenig Einfluss, um den Zusammenbruch dieser Bündnisse zu überleben; sie müssen innerhalb solcher Koalitionen letztlich zugrunde gehen, da diese öden liberalen Projekte viel Energie absorbieren und die Kommunist:innen letztlich von den Liberalen ununterscheidbar werden. All dies wird mit der Gewinnung neuer Mitglieder gerechtfertigt. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache.
Gleichzeitig muss man aber auch klar sagen, dass, in den USA und weltweit, viele Menschen in irgendeiner Weise an wirklicher sozialer Veränderung interessiert sind. Anders als noch vor zehn Jahren sind immer mehr Leute offen oder zumindest potenziell für kommunistische Politik ansprechbar. Doch bis heute war noch keine existierende kommunistische Gruppe in der Lage davon zu profitieren. Das anarchistische Milieu war, trotz seiner Dominanz innerhalb der radikalen Linken seit den frühen 2000er Jahren, ebenfalls zumeist unfähig, diese Leute in irgendeinem bedeutsamen Maße zu organisieren. Ein ähnlich vernichtendes Urteil muss man selbstverständlich auch über die zahlreichen sozialistischen Sekten (in den USA handelt es sich hierbei fast ausschließlich um Trotzkist:innen) und ihre fossilen „demokratisch-zentralistischen“ Organisationsstrukturen fällen. Sie waren auf das Anwerben und die Integration von Student:innen und kritischen Progressiven angelegt und scheiterten dabei kläglich.
Stattdessen waren es die offensten und zugleich unbestimmtesten Organisationen, die am erfolgreichsten waren: Gruppen wie die DSA in den USA und vielleicht lässt sich Podemos in Spanien ähnlich fassen. Das ist natürlich übel, da die politische Stoßrichtung dieser Gruppen wenig mehr ist als konventioneller Liberalismus, der sich von der Mitte bzw. dem Zentrismus leicht nach links bewegt hat. Doch möglicherweise können wir von ihrem Erfolg auch etwas lernen. Die wirkliche Vitalität von Gruppen wie der DSA hat nichts mit ihren bescheidenen Wahlerfolgen, sondern vielmehr mit ihren Bildungsprogrammen, ihrer kulturellen Sichtbarkeit und der Tatsache zu tun, dass ihre Mitglieder auf die Straße gehen und dort aktiv sind. So ist es keine Seltenheit, dass DSA Aktivist:innen die Leute zuhause besuchen. Diese Praxis mag banal wirken, aber sie sind eben in der Lage mit den Leuten zu sprechen und sich ihre Probleme anzuhören ohne sie sofort vollzulabern und für irgendeine ideologische Strömungen gewinnen zu wollen.
Doch ich möchte dieses sehr pessimistische Bild noch etwas kontrastieren. Es gab nämlich, wie ich denke, gleichzeitig auf kleinerem Maßstab gewisse Erfolge unter manchen kommunistischen und anarchistischen Strömungen. In vielen Ländern existieren kleine Gruppen oder Netzwerke, die damit beginnen, kommunistische Praxis wieder wörtlich zu nehmen, d.h. eine praktisch orientierte Politik wird den ideologischen und moralischen Fragen vorgezogen. Das sind selbstverständlich keine großen Organisationen mit bekannten Namen. Wir reden über Gruppen mit wenigen Mitgliedern, doch da sie sich im Klaren darüber sind, dass sie eben keine strategisch arbeitenden Massenorganisationen sind, haben sie einen großen Vorteil. Ihr Realismus führt zwangsläufig zu einer pragmatischen Orientierung, einer Orientierung an Bildung und einer Offenheit gegenüber der Außenwelt.
Die Besetzungen von Plätzen oder Parks vor Institutionen des Finanzkapitals haben deiner Meinung nach nur einen geringen politischen Nutzen. Davon sprichst du u.a. in einem Interview mit Paul Mattick und machst die Unterscheidung zwischen einer „Politik der Sichtbarkeit“ und einer „Politik der Macht“ auf. Das Hinterland bleibt, wie du sagst, deshalb zumeist unsichtbar, da es für eine symbolische Politik uninteressant ist. Wenn wir nun jedoch unseren Schwerpunkt von Fragen der Sichtbarkeit hin zur Machtfrage verschieben, dann wird das Hinterland zum Dreh- und Angelpunkt. Wie können wir aus dieser Perspektive über die aktuelle Welle globaler Aufstände nachdenken? Haben die gegenwärtigen Aufstände die urbanen Zentren verlassen und sind im Hinterland angelangt? In der Türkei brechen z.B. Streiks und Arbeiterwiderstand zunehmend im näheren Hinterland aus, doch nur selten können Verbindungen zu größeren politischen Bewegungen hergestellt werden. Denkst du, dass es Wege gibt, um urbane Kämpfe für eine „Politik der Macht“ nutzbar zu machen?
In den USA besteht dieses Problem nach wie vor. Es gab zwar Aufstände in Städten des Hinterlands, ich spreche von Orten wie Rockford, Kenosha und Rochester, doch blieben diese auf die leeren Zentren dieser Kleinstädte fixiert, obwohl größere Unruhen grundsätzlich möglich gewesen wären. Die große Fallstudie ist hier natürlich Louisville, Kentucky. Man ging damals davon aus, dass das Urteil im Breonna Taylor Fall einen neuen Zyklus von Riots lostreten wird. In der Stadt befindet sich zugleich der UPS Worldport. Es wäre ein riesiger Sprung gewesen, diesen Frachtflughafen außer Betrieb zu setzen. Aber das passierte nicht einmal annähernd. Die Proteste wurden stattdessen in ein kleines und leergefegtes Stadtzentrum geleitet, wo schwer bewaffnete Polizei bereitstand.
Es ist auch bemerkenswert, dass sich zwei der großen Aufstände der jüngeren Zeit in inneren suburbanen Zonen abspielten: Kenosha, Wisconsin und Brooklyn Center, außerhalb der Twin Cities (Minneapolis-St.Paul) in Minnesota, wo der Aufstand im Sommer 2020 begann. Aber anders als in Ferguson einige Jahre zuvor, sahen sich diese suburbanen Riots sofort mit massiver Staatsgewalt und, im Falle von Kenosha, mit rechten Milizen konfrontiert. Teilweise geht das darauf zurück, dass Minneapolis und Milwaukee in den vorangegangenen Monaten ihren Polizeiapparat massiv aufgerüstet haben. Daher waren die Behörden in den umliegenden Städten auf die Unruhen gut vorbereitet. Aber ich denke auch, dass das dafür spricht, dass die Herrschenden von ihren Fehlern in Ferguson gelernt haben. Die Demokraten haben einerseits aktiv daran gearbeitet, ihre Fähigkeiten hinsichtlich weicher Repression in diesen Vierteln auszubauen, andererseits wurden den suburbanen Polizeiapparaten Gelder sowie Training wesentlich schneller zur Verfügung gestellt.
Aber ihr habt Recht, in anderen Länder hat sich die These bezüglich der Verlagerung der Kämpfe in die Hinterlands schon stärker verwirklicht. Ich habe kürzlich ein Vorwort für die französische Ausgabe von Hinterland geschrieben und die Gelbwesten sind da natürlich die Referenz schlechthin. Es scheint mir bei vielen dieser Revolten absolut wesentlich zu sein, dass sie – obwohl sie von explizit politischen Praxisformen (Streiks, Riots, Blockaden u.a.) geprägt sind – einen distinkten „apolitischen“ Charakter besitzen. Dieser ist aber in Wahrheit weniger apolitisch als vielmehr pragmatisch. Da heutzutage niemand in der Lage zu sein scheint, gute Antworten auf die Frage „Was tun?“ zu geben, wird sich zunächst für die Aktion entschieden, während ideologische Fragen auf später verschoben werden. Das führt dann natürlich dazu, dass all die banalen und unerträglichen Linken „Faschismus!“ schreien. Aber das ist kein großer Verlust: die Bewegungen sind ohne die Linke besser dran. Gleichzeitig wären sie gut beraten, wenn Kommunist:innen involviert wären. Das bedeutet, dass Kommunist:innen all den Ballast loswerden müssen, den sie aus diesen linken Milieus noch mit sich tragen. Sie müssen ihre arrogante und überhebliche Haltung aufgeben und sich in Offen- und Bescheidenheit üben. Zudem sollten sie sich Fähigkeiten aneignen, damit ihre Anwesenheit in Bewegungen wertvoll ist.
In Hinterland stellst du richtigerweise heraus, dass „der Charakter der Produktion den Charakter der Klasse formt“. Heute sprechen wir vom Kernproletariat, vom Prekariat oder von ausgestoßenen or unentlohnten Arbeiter:innen. Zugleich zirkulieren Konzepte wie das der globalen Fabrik und der Post-Industrialisierung. Klassenkompositionen sind ständiger Veränderung unterworfen, soviel ist klar. Wie würdest du die Klassenzusammensetzung des gegenwärtigen Proletariats bestimmen? Welches seiner Segmente wären als das Fundament heutiger und kommender kommunistischer Bewegungen bzw. im Marxschen Sinne als die „historische Partei“ zu bezeichnen?
Ein revolutionäres Subjekt bildet sich erst im Verlauf der Revolution heraus. Erst eine revolutionäre Situation gebiert dieses Subjekt. Doch ohne diese Situation oder zumindest eindeutiger Zeichen einer revolutionären Gärung kann man nicht wirklich von irgendeiner bestimmten Basis einer kommenden revolutionären Bewegung sprechen. So funktionierten auch vergangene Revolutionen nicht. Schauen wir uns z.B. den chinesischen Fall an. Wer behauptet die Chinesische Revolution hätte ihre Basis in „der Bauernschaft“ gehabt, der macht es sich zu einfach. Schaut man sich die chinesische Historie genauer an, wird einem auffallen, dass im ostasiatischen Raum am Vorabend der chinesischen Revolution unterschiedlichste Formen lokaler Subsistenz, d.h. bäuerlichen Lebens, existierten. Dementsprechend waren die kommunistischen Organisationen in manchen Regionen erfolgreicher als in anderen. Diese Differenzen spielten vor allem zu Beginn eine wichtige Rolle! Sie waren das Resultat lokaler Eigenheiten: Mal hatten sie mit der Stärke des bereits lange vorher existierenden sozialen Banditentums zu tun, mal mit der Möglichkeit bestimmte Fraktionen des Industrieproletariats wie Eisenbahnarbeiter:innen zu organisieren, die durch ihre hohe Mobilität viel mehr Menschen erreichen konnten. Es ging immer um die lokal spezifische Struktur der Klassenverhältnisse. Rückblickend erscheint es beinahe banal in diesem Teil der Welt von einer „bäuerlichen Basis“ zu sprechen, schließlich waren in dieser Region damals so gut wie alle Menschen Bauern und Bäuerinnen. Wir erfahren nichts darüber, welche Fraktionen der Bauernschaft und des frühen Industrieproletariats zuerst mobilisiert werden konnten, wer eine zentralere Rolle im Prozess der Organisierung einnahmen und warum.
Ähnlich nichtssagend ist die Aussage, dass eine Revolution heute ihre Basis im Proletariat hätte, da die große Mehrheit der Menschen weltweit Proletarier:innen sind. Das scheint mir gleichzeitig auch eine Art Zwickmühle zu sein, denn um sicherzustellen, dass künftige Revolutionen einen kommunistischen Charakter haben, müssen sich Kommunisten in diesem Prozess in einer Weise engagieren, die dieses Ergebnis fördert, selbst wenn man bedenkt, dass nur sehr wenige dieser Aktivitäten sich zu Beginn sofort in die Sprache und Haltung "bewusster" politischer Akteure kleiden werden. Ich glaube überhaupt nicht an den Vorschlag, die Geschichte würde schon irgendwie einen kommunistischen Weg einschlagen oder die „historische Partei“ für sich genommen wäre ausreichend. Das ist so als würde man einem Fischer an einem Fluss begegnen und bemerken, dass in dem Fluss Fische sind, unabhängig davon ob gefischt wird oder nicht. Dahinter steckt entweder ein falsches Verständnis des Zweckes oder die noch fragwürdigere Behauptung, man müsse nur auf die Fische warten, da sie der Fluss schon an unsere Füße spülen wird. Diese Bauernmetapher ist möglicherweise etwas dümmlich, aber ihr versteht, was ich meine.
Ich bin was das angeht durchaus „orthodox“. Ich denke, dass formelle, praktische Parteien (Amadeo Bordiga nennt sie „ephemere Parteien“) wichtig sind und dass der Aufbau eines Ökosystems praktischer Parteien zur Konstitution dessen führt, was wir kommunistische Partei nennen. Diese muss selbstverständlich mit der „historischen Partei“ verbunden sein und dementsprechend agieren. Ich denke, dass eine kommunistische Partei, man mag sie so nennen oder nicht, eine notwendige Voraussetzung für eine kommunistische Revolution ist. Selbstverständlich existiert heute keine kommunistische Partei! Wir befinden uns stattdessen an einem Punkt, wo sehr kleine Gruppen einzelner Kommunist:innen und Menschen aus ihrem Umfeld durch das eruptive Auftauchen der historischen Partei Auftrieb erhalten oder andere dank dieser Eruptionen Kommunist:innen werden.
Unter diesen Bedingungen wurden Versuche gestartet, relativ kleine praktische oder „ephemere“ Parteien zusammenzubringen, um sich in ein Verhältnis zur diskontinuierlichen Bewegung der historischen Partei zu stellen, um das Tief nach dem Hoch der Bewegung zu überleben und um durch diese Vernetzung die Voraussetzungen für die (hoffentlich) kommende kommunistische Partei zu schaffen. Herauszufinden, wo diese Keimform einer kommunistischen Praxis am leichtesten Wurzeln schlagen und Erfolge zeitigen kann, ist ein experimenteller Prozess. Und wie in jedem Experiment darf man sich seine Einsätze nicht durch Dogmen vorab diktieren lassen oder blind gegenüber den Ergebnissen sein.
Diesen recht simplen Aspekt muss man immer wieder betonen. Manche Orte sind selbstverständlich mehr und andere weniger vielversprechend für kommunistische Organisierung in ihrer Frühphase. Doch dies muss eben erst experimentell ermittelt werden. In Teilen ist das eine intellektuelle Aufgabe: Um Hypothesen aufzustellen, muss man darüber nachdenken, wo der Einsatz sehr geringer Ressourcen zu größtmöglichem Erfolg führt und warum das der Fall ist. Aber das Aufstellen von Hypothesen ist natürlich nicht ausreichend. Man muss versuchen, sie zur Anwendung zu bringen. Man kann hier zwei gemeinsame oder symmetrische Fehler benennen: die Einen formulieren endlose Hypothesen und beginnen nie die Phase des Experimentierens, die Anderen wiederum rufen permanent zur Organisierung auf, ohne diese in eine Analyse einzubetten. Das ist ein bisschen so als würde man tausende planlose Experimente durchführen, ohne je ihre Ergebnisse zu dokumentieren, oder, selbst wenn man es tut, sich nie auf die Daten stützt.
Hinsichtlich unserer Hypothesen müssen wir jedoch vorsichtig sein, worüber wir sprechen. Viele verwechseln die Frage nach den für den Erfolg einer kommunistischen Revolution zentralen Klassensegmenten mit der Frage danach, wer für eine kommunistische Bewegung in der Aufbauphase am empfänglichsten wäre. Diese Fragen gilt es jedoch zu unterscheiden. Die Konfusion um die Logistikarbeiter:innen lässt sich genau hier verorten, die Versuche ein bestimmtes Kernsegment des Proletariats zu bestimmen ebenso. Natürlich sind Organisierungsprozesse in diesen Sektoren strategisch sehr wichtig. Shutdowns in den Unternehmen der Logistik haben einen lawinenartigen Effekt auf die Produktionsketten. In Lagerhallen (wie auch in Schulen und Krankenhäusern) konzentrieren sich geographisch die meiste Arbeitskraft in den Städten der Vereinigten Staaten und natürlich spielten speziell Logistikarbeiter:innen in der Geschichte kommunistischer Organisierung eine große Rolle.
Diese Arbeiter:innen mögen nun zwar was unser Endziel angeht eine zentrale Rolle einnehmen, doch das bedeutet nicht, dass ihnen ein größeres Interesse an Organisierung nachgewiesen werden kann als anderen Arbeiter:innen. Ebensowenig kann Logistikarbeiter:innen selbstverständlich eine größere Aufgeschlossenheit dem Kommunismus gegenüber nachgesagt werden. Was ich in Hinterland vielmehr herausstelle, ist das Phänomen einer signifikanten geographischen Überlappung der Aufstände in den USA mit den Räumen des Logistiksektors. Die sich häufenden Riots setzen sich verstärkt aus jungen Menschen aus erst kürzlich verarmten Vorstädten zusammen. Ich befürchte ich habe das in meinem Buch nicht deutlich genug gemacht, daher sage ich es nochmal: all dies bedeutet nicht, dass ich baldige Massenstreiks der Logistikarbeiter:innen vorhersage. Stattdessen weise ich auf die Möglichkeit hin, dass diese Aufstände suburbaner Jugendlicher, die sich gegen Polizeibrutalität richten und zunehmend in diesen bestimmten Vororten konzentrieren, bald auch mit der logistischen Infrastruktur in Konflikt geraten können.
Man kann sich ebenso fragen, was mit all diesen Arbeiter:innenvierteln passieren wird, nachdem eine ökonomischen Krise oder ein technologischer Schub in dem dort zentralen Sektor Arbeitsplätze vernichtet hat. Gegenwärtig ist es ja so, dass an den Orten, wo die Logistikbranche am aktivsten ist, unqualifizierte Arbeiter:innen relativ leicht an einigermaßen gut bezahlte Jobs kommen. Natürlich könnten die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen bessere sein. Aber ich halte es für ein wenig absurd, wenn Leute aus den letzten Kapiteln meines Buches die Vorhersage einer neuen Arbeiter:innenbewegung aus dem Logistiksektor schließen, die ihr Fundament in relativ marginalen Forderungen nach höherem Lohn und Gesundheitsprotokollen hätte. Diese Forderungen könnten sicherlich erfüllt werden und es wird mit ziemlicher Sicherheit auch zu einer verstärkten Organisation in diesem Sektor kommen. Aber darüber spreche ich nicht wirklich. Ich erzähle ja weniger von der Arbeit in Lagerhäusern im nahen Hinterland, sondern hauptsächlich davon, dort obdachlos zu sein oder im Gefängnis zu sitzen. Das Buch spricht über Krise und Zusammenbruch. Ich frage danach, was mit diesen Orten passiert, wenn alles zusammenbricht, wie die nächste Welle von Arbeitslosigkeit verkraftet wird und welche generationellen Trennungslinien man ausmachen kann zwischen den Jugendlichen aus diesen Vierteln und ihren Eltern, die einst von anderswo dorthin zogen.
Es spricht natürlich auch vieles dafür, dass genau an diesen Orten kommunistische Organisierung auf fruchtbaren Boden stoßen könnte, da es in bestimmten Sektoren der Logistikbranche einen starken Trend in Richtung Basisorganisierung gibt. Gleichzeitig hat uns das Scheitern der Gewerkschaftskampagne in Bessemer, Arizona gezeigt, dass traditionelle Gewerkschaftsstrategien nicht immer die besten Mittel sind. Dafür gibt es viele Gründe: Meiner Erfahrung nach sind die meisten Arbeiter:innen den Gewerkschaften gegenüber verständlicherweise skeptisch, da es für sie nicht ersichtlich ist, wie sie durch den offiziellen Gewerkschaftsapparat geschützt werden sollen. Und sie haben damit ja auch recht, die US Gewerkschaften sind im wesentlichen zahnlos. Ich denke diese Frage muss praktisch beantwortet werden. Ich vermute, dass, hinsichtlich der Verbreitung radikaler Ideen und den Erfolgen, die Kampagnen für sich verbuchen konnten, Mieter:innenkampagnen in den selben Vierteln erfolgreicher waren als die Gewerkschaftskampagnen unter den Logistikarbeiter:innen. Die Strategien, die auf die nachbarschaftliche Organisierung von Anwohner:innen zielen, v.a. in Kombination mit Kampagnen in Betrieben, dürften an diesen Orten langfristig ein größeres Potential haben, insbesondere deshalb, da sie in der Lage sind nützliche Infrastruktur zu Verfügung zu stellen, falls Firmen schließen oder Massenentlassungen vornehmen oder im Falle von klimabedingten Katastrophen.
Die gegenwärtigen Verhältnisse im Hinterland sowie sein revolutionäres Potential sind zugleich eng mit der ökologischen Krise der Gegenwart verbunden. Du stellst, ausgehend von deinen eigenen Erfahrungen, eine spannende Beziehung her zwischen dem Wirtschaftssektor, der sich um die Prävention der sich häufenden ökologischen Katastrophen entwickelt hat und den sich häufenden Waldbränden in den USA. Die gegenwärtig prominentesten Kämpfe in den ländlichen Teilen der Türkei unter dem repressiven Erdogan-Regime richten sich gegen Entwaldung und Staudammprojekte. Ähnliche Bewegungen und Besetzungen gibt es auch andernorts auf der Welt, so z.B. in der ZAD (Zone à Défendre) in Frankreich. Was denkst du über diese Kämpfe und ihren möglichen Einfluss auf die Klassenauseinandersetzungen im globalen Hinterland?
Üblicherweise wissen die Leute kaum etwas darüber, dass die frühe US-Ökologiebewegung im letzten Jahrhundert ihre Basis unter Arbeiter:innen im extraktiven Sektor und innerhalb der Communites hatte, die von diesen Branchen abhingen. So waren Organisationen wie die Industrial Woodworkers of America neben indigenen Aktivist:innen die ersten Fürsprecher:innen einer nachhaltigen Forstwirtschaft. Es daher ist eine grobe Vereinfachung und in vielen Fällen schlicht falsch, wenn behauptet wird, dass die ökologische Politik im ausgehenden 20. Jahrhundert v.a. ein Konflikt zwischen destruktiven ländlichen Arbeiter:innen aus diesen Sektoren und weit entfernten Städter:innen wäre.
Gleichzeitig hat die „Umweltbewegung“, die aus diesen vergangenen Kämpfen als einzige siegreich hervorgegangen ist, einen ganz spezifischen Charakter und prägt unser Bild der Bewegung. Sie ist urban geprägt und ihre Politik dreht sich ausschließlich um staatliche Interventionen. Das ist die Umweltbewegung, die uns vererbt wurde, die jedoch diesen Namen eigentlich nicht verdient. In ihr herrscht ein uninformierter (sowie tief anti-indigener) Begriff von „unberührter“ Natur sowie tiefsitzende Ressentiments gegenüber Landarbeiter:innen und ländlicher Armut vor. Sie tendiert zu einer Ablehnung kommunaler Forstwirtschaft, einer Verunglimpfung indigener Landverwaltung (aufgrund der Praxis des kontrollierten Abbrennens und der Kultivierung von Futterpflanzen) und dazu, das Bedürfnis der Landbevölkerung nach Mitteln zur Bestreitung des Lebensunterhalts völlig zu verleumden. Selbstverständlich wurde und wird diese Bewegung auch von bestimmten Fraktionen der städtischen Industrie finanziert.
Speziell in den USA bedeutete das für die ökologischen Kämpfe der letzten Dekaden, z.B. gegen Staudammprojekte, Entwaldung oder neue Bergbauprojekte, dass mögliche Allianzen blockiert wurden. Häufig wurden die ärmeren und am stärksten durch die Projekte betroffenen Menschen aus diesen Gegenden gegen sogenannte Outsider, die oft aus Städten kamen, ausgespielt. Daneben stand eine Minderheit innerhalb der lokalen Bevölkerung, die von irgendeiner staatlichen Behörde gut bezahlt wurde. Der Grund dieser Spaltung liegt darin, dass die Gegner:innen solcher Projekte es nicht vermochten, der ländlichen Bevölkerung irgendwelche anderen Möglichkeiten der Subsistenz anzubieten. Die Menschen finden es ja selbst nicht super, wenn ihre Gärten durch irgendein Holzunternehmen abgeholzt werden. Aber, und das habe ich bereits an anderer Stelle gesagt, die Ökonomie gleicht einer Geiselnahme. Die Leute wissen selbstverständlich auch, dass man in dieser Welt einen Job braucht, um zu überleben. Das nimmt in meinem Buch einen zentralen Stellenwert ein. Ich weise darauf hin, dass die Anziehungskraft der extremen Rechten in diesen Regionen daher rührt, da sie die Illusion aufrechterhält, mit ihrer Macht würde eine Rückkehr von Jobs in der Landwirtschaft und der Industrie einhergehen. Es ist wiederum kein Zufall, dass ihre zentralen Geldgeber:innen kleine Industrielle sind: Kleinunternehmer:innen aus dem Bergbau, der Holzwirtschaft und der Viehwirtschaft.
Doch es scheint so, als würden einige der anderen Beispiele einen potentiellen Ausweg aus diesem Dilemma aufzeigen. Die Verteidigungszone (ZAD) ist deshalb interessant, da sich dort diesem Trend widersetzt wird. Es war hier möglich, sowohl die lokale Bevölkerung als auch auswärtige Aktivist:innen zu integrieren. Viele dieser einstigen Fremden haben mittlerweile jedoch so viel Zeit und Arbeit in die ZAD gesteckt, dass man sie wohl nicht mehr als Auswärtige bezeichnen kann. Möglicherweise können uns diese Bewegungen in gewisser Weise Hinweise liefern, wie kommende Wege der Organisierung mit dem Hinterland beschritten werden können. In der Entstehung dieser Allianz scheinen mir jedoch auch zufällige Faktoren am Werke gewesen zu sein, weshalb mir das Beispiel noch sehr beschränkt erscheint.
In deinem Artikel „Crowned Plague“ über die Corona-Pandemie zitierst du aus dem Text „Social Contagion“ des Chuang-Kollektivs:
„Die subjektive Erfahrung gleicht in eigenartiger Weise einem Massenstreik. Und so wie die echten Massenstreiks Licht auf die Widersprüche ihrer Zeit warfen, so scheinen auch im Lockdown, in seinem unspontanen und hierarchischen Charakter, aber vor allem in seiner unfreiwilligen Hyper-Atomisierung, die Rätsel unserer unterdrückten politischen Existenz besonders scharf hervorzustechen. Die Quarantäne ist wie ein Streik, der zwar seines gemeinschaftlichen Charakters beraubt wurde, der jedoch nach wie vor in der Lage ist die Psyche wie die Ökonomie schwer zu erschüttern.“
Das ist eine starke wie auch fragwürdige These. Am Ende deines Artikels bezeichnest du die kollektiven, solidarischen Praxen, die auf die Coronakrise antworteten, als kurzes Aufblitzen der Idee des Kommunismus. Das erinnert uns an Benjamins Messianismus oder Jamesons utopische Brüche, die in der Lage sind „ein anderes Bild der Zukunft und ein anderes System der Zeitlichkeit gemeinsam erscheinen zu lassen“. Können Katastrophen ein derartiges Potential haben? Wie betrachtest du die Situation nach einem Jahr Ausnahmezustand? Wie wurde das globale Hinterland durch die Pandemie beeinflusst?
Ich begann die Arbeit an dem Text vor der George Floyd Rebellion und genau das war ein ständiger, an mir nagender Zweifel: Was ist, wenn das Zitat nicht ein bisschen zu optimistisch war? Was ist, wenn die Effekte des Lockdowns ausschließlich negativ sind? Der Aufstand entfesselte sich dann natürlich noch bevor der Text gedruckt wurde, weshalb ich denke, dass mein Gefühl durchaus gerechtfertigt war. Ich würde behaupten, dass die Erfahrung des Lockdowns eine zentrale Voraussetzung für den Aufstand war. Diese Erfahrung bestand im Grunde nur daraus, dass Millionen von Menschen, die normalerweise zu beschäftigt sind, plötzlich über sich und die Welt nachdenken konnten, da sie von einem Tag auf den anderen keinen Job mehr hatten und mit unmittelbaren politischen Fragen konfrontiert waren.
Nach einem Jahr Ausnahmezustand ist das noch eindeutiger. Man kann die Veränderung im öffentlichen Diskurs und der politischen Vorstellungskraft eigentlich kaum überbewerten. Forderungen wie die Abschaffung der Polizei, die bis vor kurzem noch ausschließlich von sehr, sehr kleinen und marginalen Gruppen von Radikalen formuliert wurden, werden mittlerweile im Mainstream debattiert. Das heißt selbstverständlich auch, dass diese Begriffe verwässern und instrumentalisiert werden, um moralische Panik unter Konservativen auszulösen. Doch es ist fraglos eine große Veränderung. Wir wären zwar auch ohne Coronakrise irgendwann an diesem Punkt angelegt, doch die Pandemie wirkte beschleunigend. Auch wenn es nur die Tatsache ist, dass viele Leute die Erfahrung machten, eine kurze Zeit ohne Lohnarbeit überleben zu können – das ist bahnbrechend!
Man muss sich vergegenwärtigen, dass es in den USA üblicherweise extrem schwer ist, sich arbeitslos zu melden. Man kann nicht mehr „von der Stütze leben“, auch wenn das viele Konservative gerne behaupten. Sobald du nicht mehr arbeitest, hast du auch kein Einkommen mehr. Viele Leute waren überzeugt, dass das eine ewige Naturgesetzlichkeit sei. Und plötzlich eröffnet sich ihnen die Tatsache, dass wir als Gesellschaft alle versorgen können und dass es eine politische Entscheidung ist, dass dies nicht der Normalfall ist.
Diese Ausführungen verdeutlichen die kommunistische Grundannahme, der zufolge sich erst in Momenten von Katastrophe und Aufruhr Möglichkeitsräume öffnen. Ich würde auf eure Frage nach dem Potential von Katastrophen antworteten, dass nur Katastrophen dieses Potential haben. Nur diese massiven Zusammenbrüche des systemischen Normalbetriebs können wirklich Hoffnung bieten. Veränderung vollzieht sich nicht graduell, sondern brechen im Rahmen von Schwellenereignissen über uns herein. Solche Ereignisse müssen selbstverständlich für all jene, die sich dem status quo verpflichtet fühlen, fürchterlich sein. Wir als Kommunist:innen jedoch legen unsere Hoffnungen und Erwartungen nicht in die Annahme, dass die Dinge so bleiben müssen wie sie sind und sich Veränderung nur langsam vollzieht. Das ist die falsche Gleichung der Zentrist:innen und Sozialdemokrat:innen, die sich lediglich über die Geschwindigkeit dieses graduellen Fortschritts uneinig sind. Wir hingegen sind den Momenten des Bruches verpflichtet, da sich hier zeigt, dass die Menschen kollektive Potentiale haben und sich anders organisieren können, ebenso wird auch deutlich, dass wir mit unserem gesellschaftlichen Reichtum alle versorgen könnten. Das sind die Risse, in denen Macht aufgebaut und ausgeweitet werden muss.
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