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Neue Schlachtfelder

Neue Schlachtfelder

24. September 2022

Der erste Teil eines Gesprächs zwischen dem kommunistischen Geographen Phil Neel und dem türkischen Kollektiv e-Komite über kommunistische Geographie, den Begriff des Hinterlands und die Räume der amerikanischen Rechten.

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Dein Buch Hinterland: America's New Landscape of Class and Conflict erschien im Jahr 2018. In einem Interview mit Paul Mattick bezeichnest du das Buch als „kommunistische Geographie“. Wie definierst du kommunistische Geographie und wobei kann sie uns helfen?

Da ich Kommunist und Geograph bin, ist das zunächst einfach eine treffende Beschreibung. Politische Fragen sind für mich nicht von ihrer räumlichen Dimension zu trennen. So lässt sich die Krise am besten nachvollziehen, blickt man auf die von ihr hervorgerufenen ökonomischen Landschaften. Als kommunistischer Geograph beschäftige ich mich mit dieser Verbindung. Die Geographie der Aufstände hat sich in den USA stark verändert und zugleich haben sich bestimmte räumliche Grenzen aufgetan, die zuletzt nur schwer zu überwinden waren. Jeder neue Zyklus von riots, ob in leeren Downtowns oder den symbolischen Räumen der Macht, wird an diese Grenzen stoßen. Abseits von ihrem spektakulären Effekt waren die vergangenen Aufstände oft wesentlich weniger bedrohlich oder umwälzend, als es zunächst schien.

Blicken wir etwas genauer auf die Kämpfe der letzten Jahre, so fällt auf, dass es nie wirklich gelang, politische Projekte zu etablieren, die mehr waren als zahnlose NGO-Projekte oder exzentrische und unzugängliche Subkulturen. Die meisten Menschen, die mit kommunistischer oder anarchistischer Organisierung in den USA vertraut sind, werden dies wohl bestätigen. Es herrscht eine Unfähigkeit vor, Räume dauerhaft politisch zu bewohnen. Das scheint zwar auf den ersten Blick kein „geographisches“ Problem zu sein, doch das ist es. Zugleich weist uns dieses Problem auf eine tieferliegende Atomisierung unseres Alltagslebens hin, die nur sehr schwer zu überwinden ist. Auf unterschiedlichen Ebenen gibt es sehr konkrete Fragen politischer Organisierung, die eine unmittelbar räumliche Dimension besitzen. Deshalb ist Geographie wichtig.

Welche Rolle spielt nun der Begriff des Kommunismus? Die Leute sollen mein Buch nicht mit einer „Marxistischen Geographie“, „Radikalen Geographie“ oder, noch schlimmer, mit dem elendigen Widerspruch einer „Marxistischen Politischen Ökonomie“ in Verbindung setzen. Der Begriff des Kommunismus dient in diesem Sinne als eine Art Prävention. Auch wenn die genannten Disziplinen manchmal Nützliches zu Tage fördern, verbleiben sie für gewöhnlich in einer distanzierten und akademischen Form der Untersuchung, die sich die Finger nicht schmutzig macht. Es ist daher auch nicht verwunderlich, wenn bekannte akademische „Marxist:innen“ politisch rechts vom üblichen Vertreter der DSA (Democratic Socialists oif America) stehen. Kaum eine:r von ihnen ist der aufständischen Dimension des Marx'schen Projektes treugeblieben, das als kommunistische Untersuchung immer einen agitatorischen Kern hatte. Frag sie einfach, wo sie im Sommer 2020 waren, und du wirst sehen, wo diese Leute politisch stehen. Ich möchte diese Verbindung wieder herstellen und Forschung mit kommunistischem Kern betreiben, daher verwende ich den Begriff der „kommunistischen Geographie“.

Du sprichst an einer anderen Stelle davon, dass Hinterland als eine Antwort auf „die gegenwärtige Schwache der kognitiven Kartographie von Politik und Ökonomie in den USA“ geschrieben wurde. Wo liegen deiner Meinung nach diese Schwachen, Fehler oder Mangel der heutigen Analyse der Arbeiter:innenklasse und ihrer geographischen Dimension?

Diese Erfahrungen musste ich machen, nachdem ich nach Seattle gezogen war. Ich hatte bis dahin mein gesamtes Leben auf dem Land verbracht und konnte mir anfänglich keine Wohnung in der Stadt leisten. Stattdessen habe ich in Hotelzimmern oder auf Campingplätzen in den sub- und außerurbanen Rändern der Stadt gewohnt. In diesen unglaublich diversen Wohngegenden leben, abgesehen von den suburbanen Enklaven der Tech-Angestellten, vor allem arme Menschen. Diese Gegenden stehen daher in starkem Kontrast zum wohlhabenden Stadtzentrum. Als ich schließlich in die Stadt zog und mich in die lokale Linke begab, musste ich schockiert feststellen, dass die Vorstellungen, die sich viele Genoss:innen von der Stadt machten, völlig an der Wirklichkeit vorbeigingen. Viele von ihnen schienen keine Ahnung zu haben, dass die meisten armen Menschen aus dem Ballungsraum von Seattle in den suburbanen Vorstädten leben. Diese Orte lagen schlicht außerhalb ihres politischen Radius. Sie haben eine bestimmte Phantasievorstellung der Stadt von der Neuen Linken geerbt, die früher die Innenstädte mit ihren verschiedenen ethnischen Enklaven organisieren wollte. In Seattle ist es jedoch genau umgekehrt: der innere Bereich der Stadt ist wesentlich weißer als die Vororte.

Ironischerweise konnte man beobachten, dass Linke-die in dem bereits gentrifizierten Stadtzentrum lebten- genau diesen Raum als Ort der politischen Organisierung verstanden. Es wurde so getan, als hätte es in den letzten zwei Dekaden keine Verdrängung gegeben. Das erinnert an Geister, die ihrem einstigen Alltag nachgehen, auch wenn die Orte ihres Spukes längst nicht mehr existieren. Gleichzeitig wollen die linken Aktivist:innen natürlich nicht in den Vororten leben, wo sich die Armut konzentriert. Dort müssten sie schließlich auf ihren urbanen Lifestyle verzichten. Zudem sind diese Räume fürchterlich geplant worden, ihre Bausubstanz ist alt und man muss sich ein Auto zulegen etc.

Damals gab es keinerlei Versuche, dies zu ändern und über Strategien nachzudenken, wie man in diesen diversen und randständigen Nachbarschaften politische Organisierung schaffen könnte. Das hat sich bis heute nur wenig verändert. Man hat es eher mit Lippenbekenntnissen zu tun, während in der Praxis an alten Strategien festgehalten wird, die sich lediglich neue Räume zum ewigen Scheitern suchen. Die einzigen Kräfte, die in diesen Räumen in den letzten zehn Jahren nennenswerte Erfolge verbuchen konnten, waren der progressive Flügel der Demokratischen Partei und ihr Netz an Gewerkschaften, NGOs und ihre Schwesterorganisation, die DSA.

Hinzu kommen die zahlreichen Vorurteile gegen Menschen vom Land und aus den Städten im entfernten Hinterland, die also außerhalb der Einzugsgebiete der großen urbanen Zentren liegen und zumeist abhängig von einigen wenigen Industrien sind. Dieses ländliche Amerika gilt häufig als ausschließlich weiß, rassistisch und konservativ. Das ist selbstverständlich völlig falsch. Mit dieser Art von moralischen Überlegungen können wir auch nicht die Gewaltgeschichte des weißen Siedlerkolonialismus und die scheußlichen Ideologien verstehen, die der Zusammenbruch seiner illusorischen Utopien hervorgebracht hat. Ich beschreibe einige dieser rechten Mythen in meinem Buch. Die geschilderte Haltung der Linken dient jedoch noch einem anderen und schädlicheren ideologischen Zweck: sie hat zur Folge, dass keine wirkliche Verbindung mit den ländlichen Regionen hergestellt wird und dass sich ländliche Migrant:innen in den Städten von politischer Organisierung fernhalten, obwohl sie durchschnittlich wesentlich ärmer sind und oft auch offen wären für eine Kritik am status quo.

Schlechte kognitive Kartographie bedeutet in aller Kürze: du kennst deine Umgebung nicht, du weißt nicht, wie Menschen gegenwärtig leben oder wo sich etwas befindet. Du bist deshalb nicht in der Lage, Strategien politischer Organisierung zu formulieren, weshalb alles, was du tust, scheitern muss. Du bist ein Geist, der durch Säle spukt, die nicht mehr existieren.

Dein Buch ist der Versuch, bestimmte Raume innerhalb einer spezifischen historischen Situation neu zu fassen. Zu diesem Zweck fuhrst du das Hinterland als geographisches Konzept ein. Man ist dabei an altere Begriffe wie „Peripherie“, „ländliche Raume“ oder „Ränder“ erinnert. Ohne diese zu verwerfen, schlägst du einen neuen Blick auf die räumliche Ausbreitung der globalen Arbeiter:innenklasse vor. Inwiefern hat sich die Bedeutung dieser Raume verändert?

Das Hinterland muss man als Hinterland des Kapitals oder der Akkumulation begreifen. Es handelt sich um Räume, die zwar außerhalb der Zentren von Profit und Management liegen, aber zugleich nicht in einem äußerlichen Verhältnis zu ihnen stehen. Man kann sie mit dem klassischen landwirtschaftlichen Hinterland vergleichen, das die Stadt in seiner Mitte einerseits ernährte und andererseits von ihr abhing. Der gegenwärtige Kapitalismus zeichnet sich genau dadurch aus: es gibt kein Außerhalb des Systems mehr, die kapitalistische Totalität ist weltumspannend – und das Hinterland ist ebenso global. Man denke beispielsweise an die entlegensten, isoliertesten Stämme im Amazonasgebiet. Ob sie wollen oder nicht, sind sie einem Klima unterworfen, welches Resultat der schrankenlosen Akkumulation ist. Sie sind folglich in das Gravitationsfeld des Kapitals gezogen worden. In der Vergangenheit gab es dagegen noch andere Kräfte auf der Welt – zum Beispiel alte Produktionsweisen, die zwar im Niedergang begriffen waren, aber noch große Teile der Erdbevölkerung integrieren konnten. Auch der realexistierende Sozialismus muss, unabhängig davon, wie man die UdSSR oder das sozialistische China nun exakt bestimmt, als eine solche Kraft begriffen werden.

Das alles gibt es so nicht mehr. Es existiert nur noch ein einziges Gravitationszentrum, und was noch nicht vollständig von den Kräften des Kapitals absorbiert wurde, befindet sich im Zerfall und ist in seiner Entwicklung, wenn auch indirekt, stark durch den Kapitalismus bestimmt. Zum einen ist der Ostblock kollabiert und China1 hat einen kapitalistischen Weg eingeschlagen, zum anderen konnte man das globale Verschwinden der Bauern beobachten, deren Lebensgrundlagen in einem langen und brutalen Prozess zerstört wurden. Selbst im subsaharischen Afrika, wo große Teile der

Bevölkerung einst vom Boden bzw. der Subsistenz lebten, sind die Menschen zunehmend vom Markt abhängig. Das Überleben der großen Mehrheit der Weltbevölkerung hängt heute folglich von der Warenproduktion ab, und sei es nur indirekt.

Das ist wichtig, denn es verschiebt einige der Koordinaten, die wir von der alten kommunistischen Bewegung geerbt haben. Das Konzept des globalen Hinterlandes ist ein Versuch, diese politische Dimension hervorzuheben. Es gibt keine „Peripherie“ mehr, denn die Bereiche außerhalb des Kapitalismus sind verschwunden. Diese Feststellung ist wichtig, denn sie stellt das ganze Gebäude der alten Krisentheorie infrage, die davon ausging, dass der Kapitalismus ohne den Zugriff auf nicht-kapitalistische Gebiete nicht überleben kann. Wie können wir Phänomene wie imperialistische Abhängigkeit verstehen, ohne den Kapitalismus nur als ein System zu bestimmen, welches parasitär von der nicht-kapitalistischen Welt abhängt? Wie können wir Krisen und die langfristigen Aussichten des Systems verstehen, wenn wir feststellen müssen, dass es eben nicht in dem Moment kollabiert ist, als es sich vollständig globalisiert hatte?

Sowohl um die Geschichte der Beutezüge zu verstehen, die den Kapitalismus zu einem globalen System gemacht haben, als auch, um den heute existierenden Klassenkampf richtig einordnen zu können, brauchen wir ein vollständiges Verständnis der Funktionsweise des Kapitalismus. Das bedeutet ebenso, dass wir eine Theorie davon brauchen, wie eine kommunistische Gesellschaft aus den Klassenkämpfen innerhalb dieses Kapitalismus entstehen kann. Wir dürfen dafür nicht auf Utopien zurückgreifen, die noch von einer Peripherie ausgehen, indem wir uns auf Bauern oder indigene Gesellschaften stützen, die von manchen zurückgebliebenen Linken immer noch idealisiert werden. Ebenso sollten wir uns von den Illusionen der alten realsozialistischen Staaten verabschieden. Das ist der Kern der politischen Relevanz des Begriffes Hinterland, der deshalb auch über die USA hinaus bedeutsam ist.

In der Türkei ist die neoliberale islamistische AKP mittlerweile seit fast 20 Jahren an der Macht. Ihre größte Wählerbasis bleiben bis heute Arbeiter:innen aus Regionen, die wir als das türkische Hinterland bezeichnen konnten. Der marxistische Wissenschaftler Cihan Tuĝal bezeichnet die islamistische Bewegung als eine von zwei großen politischen Bewegungen seit den 1970er Jahren in der Türkei, die sich leninistischer Methoden der Organisierung bedient hat. In seinem Artikel The Rise of the Leninist Right sagt er der US-Rechten ähnliche Strukturen der Organisierung nach. Diese Befunde ähneln deinen Beschreibungen der USA. Du sprichst in deinem Buch davon, dass sich die Alt-Right-Bewegung und rechtsextreme Milizen in den amerikanischen Midlands formieren. Du siehst dies als Resultat der Politik der Demokrat:innen, die das Hinterland vernachlässigten, weshalb dort nun nur noch die Republikanische Partei organisiert. Was können wir aus diesen Ähnlichkeiten zwischen der Türkei und den USA schließen? Besitzt die politische Rechte eine Art natürlicher Hegemonie im Hinterland oder hat sie dieses Terrain schlicht vor uns erschlossen, um dort als konterrevolutionäre Kraft Klassenkampfe zu unterdrücken?

Es war gegen Ende des letzten Jahrzehnts irgendwie angesagt, den Aufstieg Trumps mit alter leninistischer Metaphorik zu beschreiben. Viele Journalist:innen und selbst Trumps Leute taten das, man denke z.B. an Steve Bannon. Die liberalen Medien ließen mit ähnlich dummen Vergleichen ebenfalls nicht lange auf sich warten. Doch um eines klarzustellen: an der Mobilisierung der extremen Rechten in den USA ist absolut nichts „leninistisch“, es sei denn mit dem Begriff wird lediglich „irgendwie organisiert“ gemeint. Darüber hinaus muss man sagen, dass ein Vergleich der US-Rechten mit der Hisbollah oder, in eurem Fall, der AKP und ihrer Anhänger:innenschaft einen zentralen Punkt verfehlt: die amerikanische Politik ist eine einzige Shitshow. Man ließe diesen Leuten viel zu viel politische Anerkennung zukommen, würde man sie als sehr diszipliniert bezeichnen oder ihnen gar eine populistische Massenbasis zuschreiben, die die Islamisten in vielen Gebieten des Hinterlands etablieren konnten.

In den kommenden Dekaden werden sich für die extreme Rechte in den USA jedoch immer mehr Möglichkeiten dafür auftun. Und vielleicht wird sie dann in der Lage sein, diese Chance auch zu nutzen. Heute aber ist sie davon weit entfernt. Der Aufstieg der Hisbollah in einigen der ärmsten Teilen des Hinterlands liegt zumindest teilweise an ihrer Sozialpolitik, von Schulen und Krankenhäusern bis zur Unterstützung der Familien verstorbener Kämpfer. Seien wir ehrlich: dieser Haufen an Idiot:innen, der die US-Rechte gegenwärtig ausmacht, wäre dazu gar nicht in der Lage. Allein die Vorstellung, dass diese Leute ein Krankenhaus führen müssten, bringt mich zum Lachen. Aber bei der nächsten Generation der extremen Rechten könnte das anders sein – und sie wird auch nicht so aussehen, wie wir es erwarten. In den ländlichen Gebieten und im entfernten Hinterland können wir das bereits in Keimen wahrnehmen, aber das nahe Hinterland, d.h. die suburbanen Gebiete der großen Ballungszentren, werden diesbezüglich wichtiger werden. Das werden die primären Schlachtfelder sein.

Zur Frage, ob die Rechte im Hinterland, oder speziell im weit entlegenen Hinterland, quasi „von Natur aus“ die Oberhand hat: Ganz und gar nicht! Kehren wir zum Beispiel der Hisbollah zurück. Die meisten Leute wissen über die sie lediglich, dass ihr Aufstieg auf den Kampf gegen die israelische Besatzung im Südlibanon zurückgeht. Was hierbei meistens vergessen wird, ist die Tatsache, dass es einst die Kommunistische Partei war, die im südlichen Hinterland die meisten Leute organisieren konnte. Der Aufstieg der Hisbollah war Resultat eines Kampfes an vielen Fronten: gegen Israel, die Kommunisten und die Regierung. Im Nahen Osten ist dies selbstverständlich kein Einzelfall. Das entfernte Hinterland bzw. das Hinterland im Allgemeinen darf deshalb nicht als natürliches Einflussgebiet der Rechten verstanden werden. Vielerorts war es ihr Kampf gegen den Kommunismus, der der Rechten massive ausländische Förderung einbrachte. Dies lässt sich gut an der Türkei zeigen: einerseits hat man die AKP und ihre Basis in den entfernen Hinterländern, andererseits hat man die Kurd:innen, die dort andernorts ebenfalls verankert sind. Das Hinterland ist ein offenes Schlachtfeld.

Die Situation stellt sich in Ländern wie den USA, die auf eine Geschichte des Siedlerkolonialismus zurückblicken, jedoch teilweise anders dar. Hier können wir in der Tat gewisse historische Bedingungen ausmachen, die die politische Rechte stärken. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch die amerikanische Linke das Programm der Siedler:innen häufig akzeptiert hat. Viele frühe utopische Projekte von Anarchist:innen und Sozialist:innen waren buchstäblich weiße Siedlungen, die oft Indigene von ihrem Land vertrieben haben – und das meine ich nicht in dem allgemeinen Sinn, dass wir alle indigenes Land besetzen, wie man heute selbst in Vorstandssitzungen pflichtgemäß sagt, sondern ganz konkret: Anarchistische Kommunen wurden auf wichtigen Gebieten der indigenen Bevölkerung errichtet, die bis dahin noch genutzt wurden. Diese Überschneidungen von sozialistischen Utopien und dem Projekt der weißen Siedler:innen muss anerkannt werden, will man sich heutzutage noch von derartigen Kommunen inspirieren lassen. Selbst linke Projekte haben in den USA folglich oft einen rechten Kern.

Das führt jedoch häufig zu einem falschen Verständnis dessen, wie sich rechte Ideologie in den USA kontinuierlich produziert. Es wird hierbei nicht bedacht, dass wir es mit einem sich verändernden Prozess zu tun haben. Zwar wird anerkannt, dass der Siedlerkolonialismus z.B. ein dynamisches Projekt ist, doch häufig wird seine Frühphase, d.h. der Prozess der Besiedelung und seiner unmittelbaren Folgen, mit dem reifen Stadium seiner Aufrechterhaltung verwechselt. In diesem späten Stadium, das wir optimistisch als fortschreitende Senilität und pessimistisch als Phase periodischer Krisen und Neuerfindungen bezeichnen könnten, stößt der Prozess der Rassifizierung an bestimmte materielle Grenzen. Auf jeder dieser Stufen verändern sich die rechten Vorstellungswelten.

Dieser Kern rechter Mythologie besitzt große Anziehungskraft auf bestimmte Fraktionen des Proletariats, da sich aus der rassifizierten Hierarchie wesentliche materielle Vorteile ergeben. Die Besiedlung besitzt in diesem Mythos deshalb einen zentralen Stellenwert, da sie soziale Macht auf Landbesitz zurückführt und diese zugleich rassistisch begründet. Die traurige Wahrheit dieser Erzählung war die Versklavung und Ausrottung der nicht-seßhaften Teile der Bevölkerung. Dieser rechte Mythos war derart mächtig, dass diese Erzählungen selbst auf sozialistische Vorstellungswelten einen nicht unwesentlichen Einfluss ausübten. Mit der Zeit verloren diese Erzählungen nicht an Kraft. Vielmehr erschufen sie den spezifischen imperialistischen Chavinismus des US-Empires und die Gewalt des weißen Mobs, die das 20 Jahrhunderts bestimmten. Nicht zufällig wurden viele Rassenunruhen als Fragen des Grundbesitzes und seiner Verteidigung artikuliert.

An einem bestimmten Punkt werden die materiellen Grundlagen dieser Mythen jedoch zunehmend brüchig. Die Rassifizierung gerät in periodische Krisen, und dann muss sie ihre Koordinaten neu justieren. Die Utopie der weißen Siedler:in beginnt zu verfaulen. Dies ist selbstverständlich unvermeidbar, da es sich um eine Illusion handelte, die bestimmte Fraktionen des Proletariats gegeneinander ausspielte. Diese Illusion besitzt nur solange Wirkung, solange sie real scheint – und in gewisser Hinsicht war sie es auch: der Glaube daran verschaffte einem Teil der Bevölkerung tatsächlich materielle Vorteile. Doch die Aufrechterhaltung dieses Systems wird immer teurer, insbesondere deshalb, da die beschriebenen Krisen zur Ausweitung der Gruppe der „Weißen“ führten. Wir haben es mit einer neuen, immer schärferen Krise der Rassifizierung in den USA zu tun, die alte Gewissheiten infrage stellt. Die heutigen Vorstellungen der extremen Rechten sind eher eine Reaktion auf den Zusammenbruch der alten Siedler-Utopien, als dass sie sie fortführen würden.

In meinem Buch beschreibe ich die Frühphase dieses Prozesses. Aus diesem Grund wird man kommende rechte Bewegungen zunächst auch nicht als solche erkennen. An dieser Stelle kann ich auch auf deine ursprüngliche Frage antworten: die beschriebene Senilität des Siedlerprojektes, das von Anbeginn an eng mit der rechten Ideologie verbunden war, führt dazu, dass zukünftige rechte Bewegungen in den USA auf wesentlich aktivere Taktiken zurückgreifen müssen, wie wir sie von islamistischen Bewegungen kennen.

  • 1. Wer dies anders sieht, hat von grundlegenden Begrifflichkeiten keine Ahnung und sollte das Journal Chuang lesen.