Teheran unter Bomben: Bericht einer anarchistischen Genossin
Eine Nacht des Feuers und der Verwirrung
Letzte Nacht hat Israel, während wir schliefen, den Iran angegriffen. Die Angriffe richteten sich gegen Teheran, aber auch gegen andere Städte. Ich hörte ein Donnern, sah Blitze und dachte, es handle sich um ein Gewitter. Nichts deutete auf einen Krieg hin, vor allem in Anbetracht der laufenden Gespräche zwischen dem Iran und den USA.
Erst am nächsten Morgen erfuhren wir über unsere anarchistische Gewerkschaft (die Anarchistische Front), was tatsächlich geschehen war: zahlreiche Angriffe, tote Zivilist:innen. Ich ging hinaus, um Nachforschungen anzustellen. Die Stadt war voller Straßensperren zur Rasterfahndung. Durch die Armee und die Polizei wurden die betroffenen Gebiete abgesperrt. In einigen Gebäuden lagen Blindgänger. Ich wurde daran gehindert, das Krankenhaus zu betreten, und sämtliche Fotos auf meinem Handy wurden durch die Polizei gelöscht. Laut einem Journalisten vor Ort wurden mindesten sieben Kinder bei den Angriffen getötet.
Manche weinten. Andere – wenig überraschend – freuten sich über die Tötung von Vertreter:innen des Regimes.
Der Tag danach: Die Hölle ohne Alarm
In den folgenden Stunden sah ich apokalyptische Szenen. Der Himmel war von Raketen durchzogen. Feuer fiel auf die Straßen. Die Menschen flohen aus Teheran: ganze Familien, junge Arbeiter:innen, alte Menschen. Auf den Bürgersteigen wartete man auf Unterstützung. Verletzte, Verbrannte, zwei Tote direkt vor meinen Augen. Es gab weder einen Alarm noch Schutzraum. Nichts.
Auf den Großbildschirmen wurde die offizielle Version gezeigt: Die islamische Republik hat Tel Aviv getroffen, Israel verspricht zurückzuschlagen. Ich selbst habe dort Genoss:innen. Anarchist:innen, Pazifist:innen, Wehrdienstverweigerer:innen. Wir wollen diesen Krieg nicht.
Eine Bevölkerung kämpft ums Überleben
Die Luft ist verseucht: Atomanlagen wurden getroffen. Die Menschen stellen Konserven her, lagern ein, fliehen aus den Großstädten – nur um mangels Alternativen zurückzukehren. Die Straßen sind überlastet. Die Staatsmedien singen Loblieder und verbreiten Lügen. Die einzigen verlässlichen Quellen sind Telegram und Satellitenfernsehen.
Demonstrationen sind immer noch selten. Zu viel Polizei und zu viel Angst. Gestern hielten Familien vor den Krankenhäusern nach vermissten Angehörigen Ausschau. Man schrie, weinte, leistete Widerstand.
Weder Zuflucht noch Evakuierung
Die Institutionen bleiben geöffnet, als sei nichts passiert. Es gibt keine Sicherheitsanweisungen, keine Sirenen und keine Aufnahmezentren. Wahrscheinlich kam es zum Austritt von Chemikalien, aber es gibt kein Protokoll.
Die Menschen fliehen also von selbst: Geschäfte schließen, Student:innen weigern sich, ihre Prüfungen abzulegen, und Beamt:innen bleiben zu Hause. Nur die Notdienste halten noch durch.
Manchmal glaube ich, dass ich bloß noch am Leben bin, weil Israel (noch) keine Wohngebiete angreift. Aber die Brände, der Fallout und die verirrten Schüsse töten dennoch.
Und es gibt keine Hilfe. Keine einzige. Keine humanitäre Unterstützung, keine externen Organisationen, keine Medikamente – und die Sanktionen töten bereits seit Jahren.
Vier Iraner:innen, ein Land unter Bomben
Man muss verstehen, dass die iranische Bevölkerung zersplittert ist:
1) Eine schweigende Mehrheit, die das Regime hasst, aber den Krieg ablehnt. Sie überleben, fliehen, trauern um die Toten, während sie die Machthaber verfluchen. 2) Die regierungstreuen Islamisten, die vom Märtyrertum sprechen und zurückschlagen wollen. 3) Die Monarchist:innen und Liberalen, die oft pro-israelisch sind und die Schläge gegen die Revolutionsgarden bejubeln. 4) Anarchist:innen und linke Aktivist:innen wie ich: gegen die islamische Republik, aber auch gegen Israel, gegen alle Staaten. Für das Überleben, die gegenseitige Hilfe, die Autonomie.
Welchen Platz haben Anarchist:innen in diesem Krieg?
Wir sind weder bewaffnet noch nehmen wir an den Kampfhandlungen teil. Unsere Aufgabe ist eine andere: informieren, unterstützen, Verbindungen schaffen, Propaganda entlarven. Wir helfen, wo wir können: Erste Hilfe, Informationsvermittlung, Aufklärung über chemische Risiken. Wir kümmern uns um unsere eigenen Leute und diejenigen, die niemanden haben.
Wir lehnen Verkürzungen ab. Weder „alle Israelis müssen sterben“ noch „die Zionist:innen sind unserer Retter“. Wir stehen zwischen zwei Feuern: religiöser Fundamentalismus einerseits, zionistischer Militarismus andererseits.
Unsere Aufgabe ist es, Brücken zu bauen, Ideen zu vermitteln, Breschen in den Fatalismus zu schlagen und durchzuhalten, auch ohne Waffen und in der Angst.
Die Trauer der Antikriegsbewegung
Ich muss gestehen, dass ich traurig bin und zwar zutiefst. Vor zehn Jahren stand ich im Austausch mit israelischen Pazifist:innen über die Kriegsdienstverweigerung. Mit Kurd:innen, Araber:innen, Armenier:innen, Anarchist:innen. Wir träumten gemeinsam von einem freien Nahen und Mittleren Osten, ohne Armee, ohne Staat.
Aber wir haben verloren. Wir waren nicht stark genug, um den Krieg zu verhindern, hatten nicht genug Unterstützung. Heute haben die Menschen Angst davor, über Frieden zu sprechen. Sie halten das für Verrat. Die Forderung nach einem Ende der Luftangriffe würde bedeuten, sich dem Feind auszuliefern.
Dabei wollen alle den Frieden. Doch niemand wagt es, ihn zu fordern.
Eine Stimme im Tumult
Ich weißt nicht, wie lange wir noch durchhalten werden. Noch gestern brüllten die Flugzeuge wie eine Autobahn am Himmel. Aber eines weiß ich: Solange es Menschen gibt, die sich kümmern, Widerstand leisten und sich organisieren, ohne sich auf den Staat zu verlassen, wird es selbst in den Trümmern Keime der Anarchie geben.
Abschluss: Normalisieren wir nicht das Unerträgliche!
Zunächst möchte ich allen Genoss:innen, die sich die Zeit genommen haben, mir zuzuhören, aufrichtig danken. In einer Welt, in der wir ständig von politischen, wirtschaftlichen und polizeilichen Kräften zerrieben werden, ist es selten, dass man uns noch den Raum zum Reden lässt. Auch ohne Bomben sind wir umgeben von Gewalt – in Form von unbezahlbaren Mieten, endlosem Papierkram, Diskriminierung, Müdigkeit und Isolation. Eine versteckte Gewalt, die als „normal“ dargestellt wird und an die wir uns nicht gewöhnen sollten.
Doch wenn der Krieg ausbricht, wird diese Gewalt plötzlich in aller Öffentlichkeit zerrissen. Was zuvor toleriert wurde, wird unerträglich. Und dann kann man paradoxerweise sprechen. Ich konnte euch schreiben, weil alles zusammengebrochen ist. Weil im Chaos die einfachsten Wahrheiten wieder gehört werden.
Was ich euch sagen möchte, ist Folgendes: Lasst nicht zu, dass diese Worte wieder verstummen. Lasst nicht zu, dass unser Schmerz – hier im Iran, wie auch anderswo – an den Rand gedrängt wird, als wäre er nur „lokal“, „spezifisch“, „kulturell“ oder „außergewöhnlich“.
Denn in Wahrheit teilen wir denselben Krieg: den Krieg, den die Staaten gegen unser Leben führen. Ich bitte euch also, Genoss:innen: Akzeptiert nicht die alltägliche Gewalt als selbstverständlich. Weist die Vorstellung zurück, dass wir erst auf Raketen warten müssen, um zu reagieren. Wartet nicht darauf, dass unser Leid ein spektakuläres Ausmaß annimmt, damit es eure Aufmerksamkeit verdient.
Lasst uns jetzt reden. Organisieren wir uns. Schaffen wir reale Räume des Handelns und der gegenseitigen Hilfe. Damit der Krieg hier nicht zu einem Hintergrundrauschen wird. Damit ihr angesichts unseres Leids nicht zu bloßen „Retter:innen“ werdet, sondern zu Kompliz:innen im Kampf.
Aufruf zur internationalen Solidarität
Heute ist die Lage instabil, kritisch, vielleicht kurz vor einer humanitären Katastrophe. Wenn der Iran vom Rest der Welt abgeschnitten ist – sei es durch Bomben oder die Zensur der Islamischen Republik – verbreitet unsere Worte. Sagt, was los ist. Gebt denjenigen eine Stimme, denen diese verwehrt wird.
Wir genießen keinen internationalen Schutz, NGOs sind so gut wie nicht vorhanden und die Sanktionen verschlimmern unser Leid.
Wenn ihr Kontakte in Kollektive, Gewerkschaften, Verbände oder Pflegenetzwerken habt, mobilisiert diese. Ruft zu dringender medizinischer Hilfe auf, zu erhöhter Wachsamkeit bei Verstößen, zu internationaler Vermittlung, die sich der staatlichen Logik entzieht.
Vor allem aber: Lehnt die vereinfachenden Erzählungen ab. Wir sind weder Marionetten Israels noch des islamischen Regimes. Wir glauben weder an „befreiende Bomben“ noch an „widerstandsfähige“ Mullahs. Wir sind gefangen zwischen zwei Todesmaschinen – und wir versuchen immer wieder, etwas anderes aufzubauen.
Noch gibt es keine Massenflucht. Aber wenn sich der Krieg ausweitet, wird das ungeheure Folgen haben. Also, Genoss:innen, lasst uns gemeinsam aufstehen. Nicht um eine Seite gegen eine andere zu unterstützen, sondern um einer anderen Stimme Gehör zu verschaffen: der Stimme des Lebens, der Freiheit, der Solidarität, gegen alle Staaten, Grenzen und Kriege.
Der Text wurde übersetzt aus dem Französischen: https://www.leperepeinard.com/articles/teheran-sous-les-bombes-temoigna…