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Sozialismus und Vorkrieg - Die Imperialismusdebatte

Sozialismus und Vorkrieg - Die Imperialismusdebatte

17. Februar 2025

Die in der Arbeiter:innenbewegung geführte Imperialismusdebatte kam in den 1880er Jahren auf und zog sich bis in den Ersten Weltkrieg hinein. Sie fand vor dem Horizont einer Umstellung des kapitalistischen Akkumulationsregimes statt, die eine neuartige Expansionspolitik europäischer Großmächte auf dem afrikanischen und asiatischen Kontinent einleitete. Diese Politik richtet sich nicht nur gegen die Ansprüche von Regionalmächten und indigenen Bevölkerungsgruppen, sondern ließ notwendigerweise auch die Ansprüche der europäischen Großmächte miteinander kollidieren. Mit der Imperialismusdebatte reagierte die Arbeiter:innenbewegung auf diese Entwicklung. Trotz des regen Austausches vermochte sie es allerdings nicht, eine geschlossene Position zum Imperialismus zu entwickeln. Diese Uneinigkeit in der Debatte nahm ihr praktisches Zerbrechen am Vorabend des Ersten Weltkriegs vorweg.

Der Epochenumbruch nach der Krise von 1873

Für das Aufkommen des Imperialismus waren ökonomische Bedingungen entscheidend, die sich ab Mitte der 1870er Jahre verfestigten. Nach der großen Krise von 1873 setzte ein allgemeiner Preisverfall ein, während gleichzeitig die Profitraten weithin stagnierten.1 Um dieser langen Depression entgegenzuwirken, verfolgte die Bourgeoisie eine zweigleisige Strategie. Zum einen wurde eine immer größere Konzentration und Zentralisation des Kapitals vorangetrieben. So schlossen sich Unternehmen zu Kartellen, Trusts oder Interessengemeinschaften zusammen, die neue Profite über eine monopolistische Marktmacht generieren sollten. Unter Einschränkung oder Ausschaltung freier Konkurrenz sollte sich die Preisbildung gezielt regulieren lassen. Die Zahl der Kartelle im Deutschen Reich stieg von 250 im Jahr 1896 auf 673 im Jahr 1910,2 wobei die Tendenz zur Monopolbildung besonders in der Elektro- (Siemens, AEG), Kali- und Chemie- (Hoechst und Cassella, BASF, Bayer, Agfa), Kohle- (Rheinisch-Westfälisches Kohlesyndikat) sowie in der Eisen-, Stahl- und Zementindustrie zu beobachten war. Zum anderen wurde der Einsatz eines „scientific management“ in den Unternehmen zunehmend forciert. Arbeitsabläufe wurden durchgetaktet und mit wissenschaftlicher Präzision aufeinander abgestimmt. Die Produktion wurde rationalisiert und in ihrer Effizient gesteigert, sodass sie mehr und mehr Massenwaren liefern konnte.3

Dieses sich vergrößernde und technisch erneuernde Kapital musste bald über die Grenzen des Nationalstaates hinausdrängen. Durch die Gründung ausländischer Tochtergesellschaften wurden Zugänge zu notwendigen Rohstoffen gelegt, schließlich besaßen Öl, Kautschuk oder Nichteisenmetalle eine enorme Bedeutung für die Produktion der neuen Massenwaren. Hinsichtlich der Produktionsbedingungen konnte das Kapital zugleich nicht länger auf die Hilfe des Staates verzichten. In der Tendenz war deshalb eine tiefgreifende Umstellung im Gange: Sollte der Staat in der liberalen Entwicklungsphase des Akkumulationsregimes noch von einer Einmischung in den Freihandel absehen, so war die nun anbrechende imperialistische Entwicklungsphase dadurch gekennzeichnet, dass die Nationalökonomien staatlich protegiert wurden.

Mit Ausnahme Englands stellten alle führenden Industrienationen nach der großen Krise auf eine Schutzzollpolitik für den Binnenmarkt um, womit die internationale Konkurrenz in Schach gehalten wurde. Zugleich sollte dem Rohstoffbedarf des nationalen Kapitals durch eine imperiale Politik der Weg geebnet werden. Als Welthegemon vervierfachte England seinen Kolonialbesitz zwischen 1860 und 1900 auf etwa zwei Drittel der landbedeckten Erdoberfläche, was ca. 345 Mio. Menschen einschloss. Aber auch Frankreich hatte seit der Besetzung Algiers 1830 seinen kolonialen Einflussbereich enorm erweitert. Andere europäische Staaten, wie Belgien oder Portugal, gründeten ebenfalls Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent. Mit einiger Verspätung trat auch das Deutsche Reich in diese Entwicklung ein und eroberte seine erste Kolonie, das sogenannte Deutsch-Südwestafrika, im heutigen Namibia im Jahr 1884. Damit bildete sich am Ende des 19. Jahrhunderts ein Weltmarkt heraus, der, als ein System gegenseitiger Abhängigkeit, durch eine ungleiche Arbeitsteilung zwischen den industriellen Zentren und den Rohstofflieferanten der Peripherie geprägt war.4

Marx über die Herstellung eines Weltmarktes

Es kulminierte hier eine Entwicklung, die sich weit zurückverfolgen lässt. Die gewaltsame Kolonisierung ganzer Erdteile ist Karl Marx zufolge bereits am Beginn der modernen Produktionsweise zu beobachten: „Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Gehege zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation.“5 Um die Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise herzustellen, musste die vorkapitalistische zerstört werden.  Diese „idyllischen Prozesse“ kamen selbstverständlich nicht ohne Blutvergießen aus: Menschen mussten hierfür gewaltsam von ihrem ursprünglichen Eigentum an den Naturressourcen getrennt und in der Folge entrechtet werden, mit dem Ergebnis, dass sie nun selbst als Naturressource behandelt werden konnten. Diese „ursprüngliche Akkumulation“ würde sich – so prognostiziert es Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie – stetig erweitern und die Eigentumsverhältnisse im globalen Maßstab umkrempeln. Die zunehmende Zentralisation und Konzentration des industriellen Kapitals bildet an sich bereits enorme Monopole an Produktionsmitteln aus, gleichzeitig stellt das wachsende Finanzkapital ein zusätzliches Triebrad dar, das die weltumspannenden Abenteuer der Industriellen kreditiert und damit erst möglich macht.6 Das Kapitals expandiert und schafft sich im selben Zug einen Weltmarkt, auf dem sich die Ströme des Warenhandels entfalten können.

In der Herstellung dieses Weltmarktes erblickte Marx zugleich die historische Leistung der bürgerlichen Gesellschaft.7 Die historische Mission der Klasse der Bourgeoisie liege darin, durch die Schaffung des kapitalistischen Weltmarkts die gesellschaftlichen Produktivkräfte zu verallgemeinern sowie Aufklärung und Wissenschaft in die Welt zu tragen. Diese historische Mission könne denjenigen, die sich (noch) an den Rändern der kapitalistischen Produktionsweise befinden, durchaus Opfer abverlangen, da erst durch die Ausweitung des Weltmarktes deren vergleichsweise primitive Produktionsweisen überwunden werden. Die Menschen müssen schließlich über ihre natürliche Borniertheit hinauswachsen, sich dann praktisch ins Verhältnis setzten, um schließlich eine zusammenhängende Weltgeschichte entstehen zu lassen, an deren Horizont die Weltrevolution aufscheinen kann, so das kommunistische Entwicklungsmodell.

Im Manifest der Kommunistischen Partei weisen Marx und Engels auf diesen weltgeschichtlichen Fortschritt hin, den die Klasse der Bourgeoisie entfessele: „Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. […] Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. […] An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. […] Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt.“8 Bei aller Emphase sprechen Marx und Engels allerdings nur von einer „sogenannten Zivilisation“9, die die Bourgeoisie hervorbringt, da sie zugleich zahlreiche Widersprüche in sich trägt. Ihr Vorrücken sei mit Krisen, Unterdrückung und Ausbeutung erkauft. Diese Schattenseite des Fortschrittes bekommen vor allem jene Massen zu spüren, die sich mit der global durchgesetzten Trennung von den Produktionsmitteln als Weltproletariat herausbilden. Insbesondere in den Kolonien lasse sich unverschleiert erkennen, dass der zivilisatorische Fortschritt nicht ohne barbarische Gewalt auskommt.10

Eine systematische Theorie des Imperialismus hat Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie nicht entworfen. Bekanntermaßen wurden die geplanten Bücher über den Staat und den Weltmarkt nie geschrieben. So streift Marx das Thema nur kursorisch. Mit Blick auf den Bonapartismus definiert er den Imperialismus etwa als „die prostituierteste und zugleich die schließliche Form jener Staatsmacht, die von der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft ins Leben gerufen war.“11 Im Bonapartismus, der das zweite französische Kaiserreich zwischen 1852 und 1870 charakterisiere, habe die Bourgeoisie ihre ökonomische Herrschaft gerettet, indem sie ihre politische abgab. Die autoritäre und undemokratische Staatsmacht, mit dem Kaiser Louis-Napoléon Bonaparte an der Spitze, habe sich am „Trugbild des nationalen Ruhms“12 aufgerichtet. Die Monopolbildung und Expansionspolitik, die das Zeitalter des Imperialismus auszeichnen, werden in ihrer Verschränkung allerdings kaum angemessen durchdrungen.

Der Auftakt der Imperialismusdebatte

In sozialistischen Kreisen kam die Imperialismusdebatte mit dem sogenannten Dampfersubventionsstreit im Jahr 1884 auf. Der Streit drehte sich um einen Gesetzesentwurf, der die Subventionierung von Handelsschiffen regeln sollte. Die deutsche Sozialdemokratie sah sich vor die Frage gestellt, ob man es lediglich mit einem harmlosen Lösungsversuch von Transportproblemen nach Ostasien, Australien und Afrika zu tun hatte oder ob nun die Ansprüche einer neuen, expansiven Außenpolitik des Deutschen Reiches auf der Tagesordnung standen, wie es die deutschen Sozialdemokraten August Bebel und Wilhelm Liebknecht vermuteten. Nach intensiver Debatte lehnte die Sozialdemokratie den Gesetzentwurf ab.

Eine erste Zuspitzung erfuhr die Imperialismusdebatte durch den Ausbruch des zweiten Burenkriegs im Jahr 1899. In der englischen Arbeiter:innenbewegung sorgte der Krieg zwischen englischen Truppen und der Transvaal-Republik, dem Staat der Buren im heutigen Südafrika, für eine hitzige Diskussion. Während die Mehrheit eine Antikriegsposition vertrat und den Imperialismus mit neuen Erfordernissen der kapitalistischen Konkurrenz in Verbindung brachte, unterstützte eine Minderheit die geplante Annexion der Burenrepublik. So sollten „die südafrikanischen Goldfelder […] internationalisiert und im Interesse aller Völker ausgebeutet werden. Die ideale Lösung der Frage der Wohlfahrt der Eingeborenen Südafrikas wäre die Übernahme der Burenrepubliken durch einen föderativen Weltstaat. Da jedoch ein Weltstaat noch nicht bestünde, so wäre es vom Standpunkt einer sozialistischen Realpolitik gerechtfertigt, für die Annexion der Burenrepubliken durch eine Großmacht, wie etwa das Britische Reich, einzutreten.“13 Eine solche prokoloniale Position ließ sich auch in der deutschen Sozialdemokratie finden – maßgeblich vertreten durch Eduard Bernstein. Dieser setzte sich für die 1897 erpresste Pachtung der Bucht von Kiautschou im heutigen China ein, wogegen die Sozialdemokratie eigentlich heftig protestiert hatte. Damit gewann die Debatte an Schärfe.

Als die „koloniale Frage“ um die Jahrhundertwende immer vehementer in das Zentrum der Außenpolitik rückte, war die Mehrheitsposition in der SPD, wie die Resolution vom Mainzer Parteitag von 1900 zeigt, eine antikoloniale. Als „Feindin jeder Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen durch Menschen“ erklärte sie sich gegen die „Raub- und Eroberungspolitik“14 des Kolonialismus und für die Unabhängigkeit der Völker. Leitend waren hierbei die sozialistischen Prinzipien der Gleichberechtigung und der Freiheit aller Menschen, die das Selbstverständnis der Arbeiter:innenbewegung von Anbeginn prägten. Sie schlossen sowohl die nationale Selbstbestimmung als auch die internationale Solidarität aller Unterdrückten ein.15 Zu dieser Zeit rückte China in den Fokus, wo es durch den Boxeraufstand zu Unruhen gekommen war. Rosa Luxemburg bezeichnete die Geschehnisse als einen Wendepunkt in der Weltgeschichte, da es ihrer Meinung nach um einen „blutigen Krieg des vereinten kapitalistischen Europas gegen Asien“16ging. Zum ersten Mal seien alle entwickelten Großmächte in einem Konflikt involviert, worauf – ganz im Sinne der sozialistischen Prinzipien – mit vereintem Protest der Arbeiter:innenparteien Europas geantwortet werden müsse.

In der Öffentlichkeit wurde die Diskussion um die „koloniale Frage“ hingegen immer stärker durch ein deutsches Sendungsbewusstsein geprägt. Die Überhöhung des deutschen Wesens, an dem die Welt genesen solle, stellte die Vormachtstellung anderer Großmächte offensiv in Frage. Das herangezüchtete Sendungsbewusstsein trug zur politischen Bündelung der junkerlichen, mittelständischen und bürgerlichen Interessen in den Händen der Schwerindustrie bei, die eine aggressive Außenpolitik forcierte, um ihren Rohstoffhunger zu stillen.

Wurde der Patriotismus als neue Bürgerreligion gepriesen und mit völkisch-nationalistischen Elementen versehen, so prallte er an der revolutionären Sozialdemokratie nicht einfach ab. Auf dem Mainzer Parteitag vertrat Bernstein seine prokoloniale Position nun lautstark: Der Kolonialismus diene der Produktivkraftentwicklung, vergrößere den Radius der Zivilisation und schaffe neuen Lebensraum für europäische Völker. Im Sinne des allgemeinen Fortschritts müsse die entwickelte Welt die nicht-entwickelte Welt als eine minderwertige kolonialisieren dürfen.17 Bernstein rechtfertigte den Kolonialismus vor allem durch ein „höheres Recht“ einer „höhere Kultur“. Insbesondere die wachsende revisionistische Minderheit in der Partei weichte die sozialistischen Prinzipien zugunsten einer „sozialistischen Kolonialpolitik“ auf. Damit wurde ein bestimmtes Ziel verfolgt: Explizit forderten die Revisionisten, die Sozialdemokratie müsse nationale Interessen in der Außenpolitik vertreten, um ihre eigenen Interessen innenpolitisch besser verhandeln können. Die Partei sollte der herrschenden Klasse entgegenkommen, um diese ihrerseits zu einem Entgegenkommen zu bewegen. Für eine solche Klassenversöhnung aber war die nationale Eingemeindung der Arbeiter:innenbewegung nötig.

Eine geeinte Position zur „kolonialen Frage“ war weder in der deutschen Sozialdemokratie, noch in der Zweiten Internationale zu finden. Auf dem fünften Kongress, der 1900 in Paris stattfand, wandte sie sich gegen den Kolonialismus als einer „unvermeidlichen Begleiterscheinung der neuen Erscheinungsform des Kapitalismus, dem Imperialismus.“18 Die Resolution ließ jedoch die Frage nach dem angeblich zivilisierenden Charakter des Kolonialismus aus, der von den Revisionisten und den englischen Sozialisten hartnäckig behauptet wurde.

Der Streit um eine antikoloniale Position

Für eine erneute Zuspitzung der Debatte sorgte die Reichstagswahl von 1907, die als sog. Hottentottenwahl in die Geschichte einging. Das beherrschende Thema der Wahl war die Kolonialpolitik in Deutsch-Südwestafrika, wo deutsche Truppen zwischen 1904 und 1908 ca. 65.000 Hereros und Nama ermordeten.19 Die Sozialdemokraten hatten das Vorgehen des Generals von Throta gegen die Herero verurteilt und gegen die Kriegskredite für einen geplanten Feldzug gestimmt. Daraufhin wurde der Reichstag aufgelöst und es kam zu Neuwahlen, welche die erste größere Niederlage für die Sozialdemokratie seit 1884 zur Folge hatten. Die SPD verlor fast die Hälfte ihrer Sitze im Reichstag und die Zahl ihrer Abgeordneten fiel von 81 auf 42. Zwar kann dieses Ergebnis als Ausdruck des zunehmenden nationalistischen Fiebers im Deutschen Reich gedeutet werden, hinsichtlich der Arbeiter:innenbewegung bedarf es jedoch einer gewissen Einschränkung. So hatte die Sozialdemokratie absolut eine Viertelmillion Wähler gewonnen und nur relational zu anderen Parteien an Stimmen verloren.20 Gleichwohl wirkte sich die Niederlage auf ihre politische Ausrichtung aus. 

Auf dem Stuttgarter Parteikongress im August 1907 schloss sich die Mehrheit der vom Kongress eingesetzten Kolonial-Kommission – angeführt durch den holländischen Revisionisten Henri van Kol – zunächst einer Position an, die nicht prinzipiell jede Kolonialpolitik verwarf. Die Kommission ließ verlautbaren, dass der Kolonialismus „unter einem sozialistischen Regime zivilisatorisch wird wirken können.“21 Die Mehrheit des Kongresses jedoch lehnte dies ab und stimmte vielmehr für die Resolution der Kommissions-Minderheit, die an den sozialistischen Prinzipien festhielt. Die zivilisatorische Mission – die von den Verfechtern einer sozialistischen Kolonialpolitik ins Feld geführt wurde – wird hier als „Deckmantel für die Eroberungs- und Ausbeutungsgelüste“ entlarvt. Die Kolonialpolitik setze stets brutale Gewalt gegen die eingeborene Bevölkerung ein. Zudem zerstöre sie „durch Versklavung und Verelendung der Eigeborenen wie durch mörderische und verwüstende Kriege den natürlichen Reichtum der Länder, in die sie ihre Methoden verpflanzt. Sie verlangsamt oder verhindert dadurch selbst die Entwicklung des Handels und des Absatzes der Industrieprodukte der zivilisierten Staaten.“22

Zugleich wurde auf dem Stuttgarter Parteikongress um eine Einstellung zu einem möglichen Krieg zwischen den imperialistischen Großmächten gerungen. Während ein vom utopischen Sozialismus bzw. Anarchismus geprägte Flügel um Figuren wie Ferdinand Domela Nieuwenhuis, Gustave Hervé und Jean Jaures einen möglichen Krieg mit Generalstreik und Aufstand beantworten wollte, sprach sich das marxistische Zentrum gegen eine solche Politik aus, die Leuten wie August Bebel oder Georgi Plechanow als vollkommen unrealistisch galt. Weder in Großbritannien, Russland oder den USA existierten sozialistische Massenparteien, die sozialistischen Parteien in Frankreich, Österreich-Ungarn und Italien waren politisch noch immer schwach und selbst in Deutschland stand die SPD der preußisch-deutschen Militärmaschinerie ohnmächtig gegenüber. Wenn überhaupt, würden Generalstreik und Aufstand also gerade in denjenigen Ländern Wirkung zeigen, die eine starke Arbeiter:innenbewegung bereits entwickelt hatten; sie würden diese damit ins Nachtreffen gegenüber den autokratischen Regimen bringen, die die Bewegung unterdrückten – so die Befürchtung des Zentrums. 

In Stuttgart gelang es Lenin, Luxemburg und Julius Martow eine Kompromissresolution durchzubringen. Damit war zwar keine konkrete Strategie zumindest aber eine weitreichende Konsequenz aus einem Kriegsausbruch vorgeschlagen, forderten sie doch „die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunützen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“23 Dass sich eine Mehrheit des Kongresses diese revolutionäre Konsequenz tatsächlich zu eigen gemacht hat, darf indes bezweifelt werden. Im Gesamtverlauf der Debatte stellte der Parteikongress einen Kipppunkt dar: Auch wenn antiimperialistische und antikoloniale Stimmen in der deutschen Sozialdemokratie noch präsent waren, sollten der linke Parteiflügel von nun an durch das Bündnis aus Revisionisten, Gewerkschaften und Parteiführung zunehmend zurückgedrängt werden. Ihre Stimmen verloren sukzessive an Einfluss und die Haltung der Fraktion verschob sich immer weiter nach rechts.

Nur einen Monat später im September 1907 sollte der Parteitag in Essen diese Entwicklung bestätigen. Gustav Noske schlug hier stark nationalistische Töne an und wollte zu verstehen geben, dass die SPD-Führung nicht – wie ihr oft vorgeworfen wurde – aus vaterlandslosen Gesellen bestehe, und dass Deutschland wehrhaft zu sein habe und das deutsche Volk ein Interesse an der militärischen Aufrüstung zur Verteidigung des Vaterlandes besitze. Bebel hielt seine berühmt-berüchtigte Flintenrede, in welcher er verkündete, er sei „als alter Knabe noch bereit, die Flinte auf den Buckel zu nehmen und in den Krieg gegen Russland zu ziehen.“24 An der Frage des Verteidigungskrieges wurde die sozialdemokratische Einstellung zur Nation neu verhandelt. Gemeinhin war die Verteidigungsbereitschaft im Falle eines Angriffskrieges sozialistische Tradition, die von einer Mehrheit der Ersten und Zweiten Internationale vertreten wurde. Insbesondere im Hinblick auf einen möglichen Krieg mit Russland, das aufgrund des undemokratischen Zarismus als besonders rückständig galt, fand die Vaterlandsverteidigung nun einen immer größeren Rückhalt und stärkte die Bindung an die eigene Nation.

Auch in der Zweiten Internationalen wurde die Strategie des Generalstreiks von einer klaren Mehrheit abgelehnt – nicht zuletzt Sozialdemokraten wie Lenin.25 Dabei sticht hervor, dass trotz dieser Ablehnung und abgesehen von parlamentarischem Protest keinerlei konkrete Maßnahmen für den von vielen regelrecht fatalistisch erwarteten Kriegsausbruch entwickelt wurden. Hier tat sich eine offene Flanke eklatanten Ausmaßes in der Arbeiter:innenbewegung auf. Diese fatale Strategielosigkeit angesichts der Kriegsgefahr darf nicht als Folge politischer Unfähigkeit betrachtet werden, sondern muss auf den vorherrschenden Unwillen einer zunehmend auf nationale Klassenversöhnung orientierten Sozialdemokratie zurückgeführt werden. Sich gegen die eigene Regierung zu stellen, schien der Mehrheit zunehmend indiskutabel, konnte dies doch die Anerkennung der Partei in der nationalen Ordnung gefährden. Anstatt gegenjene Ordnung zu opponieren, sah sich die Sozialdemokratie zunehmend als Opposition in der Ordnung, womit sie ihren Fortbestand gleichsam an den Fortbestand der Ordnung selbst knüpfte.

Die zweite Marokkokrise von 1911

Einen weiteren Katalysator für die Imperialismusdebatte stellte die zweite Marokkokrise von 1911 dar. Die auch als Panthersprung nach Agadir bekannte Krise brach aus, als mehrere deutsche Kriegsschiffe auf Befehl Wilhelms II. in den Gewässern vor der marokkanischen Hafenstadt Agadir aufkreuzten. Mit dieser Drohgebärde reagierte das Deutsche Reich auf eine Intervention Frankreichs, das kurz zuvor die marokkanischen Städte Fes und Rabat besetzt hatte.26 Die Krise tangierte auch Großbritannien, das dem Deutsche Reich wichtige Seewege nach Ägypten versperren wollte. Sie wurde beigelegt mit dem Marokko-Kongo-Vertrag. Das Deutsche Reich stellte seine Ansprüche in Marokko zurück und erhielt dafür einen Teil Äquatorialafrikas von Frankreich, das als Neukamerun an die deutsche Kolonie Kamerun angegliedert wurde. Die Aussicht auf ein deutsches West-Marokko heizte die nationalistische Stimmung in Deutschland jedoch massiv an. Umso mehr erschien der Kompromiss danach als eine Demütigung.27

„Aber auch, wenn wir noch einmal um den Krieg herumkommen“ – so merkt Kautsky zu dieser Lösung an – „die kriegdrohende Situation bleibt; sie verschärft sich von Jahr zu Jahr; der Krieg wird immer schwerer vermeidbar, solange das Deutsche Reich seine jetzige Weltpolitik und seine damit zusammenhängende Politik des Wettrüstens mit England fortsetzt, eine Politik, die wohl nur beabsichtigt, Englands Ansehen und Macht zurückzudrängen, die aber unter den gegebenen Voraussetzungen geradezu die Existenz der herrschenden Klassen Englands bedroht. Keine Klasse, keine Nation läßt sich friedlich expropriieren; und so treibt unsere jetzige Weltpolitik Deutschland unvermeidlich einem blutigen Konflikt mit England entgegen oder vielmehr mit den herrschenden Klassen Englands.“28 Der Krieg, der sich im imperialistischen Machtkampf immer deutlicher abzeichnete, müsse mit politischen Mitteln verhindert werden. Kautskys Verständnis des Imperialismus veränderte sich jedoch in dieser Zeit. Sah er den Imperialismus zunächst als Folge einer ökonomischen Entwicklung an, so begriff er ihn nun als eine bestimmte Form der Politik. Dieser Politik einen antimilitaristischen Gegenstoß zu verpassen, sei die Aufgabe der Sozialdemokratie. Konkret müsse sie für einen parlamentarischen Abrüstungsbeschluss eintreten und dafür gar ein Bündnis mit den etablierten Kräften in Erwägung ziehen.29

Tatsächlich vollzog die Parteiführung eine diplomatische Annäherung an die Reichsführung, ohne jedoch die Kriegsgefahr damit nachhaltig zu bannen. Wurde nach der Marokkokrise ein militärisches Aufrüsten vorangetrieben und in der medialen Öffentlichkeit unter Einfluss diverser Propagandavereine (Alldeutscher Verband, Flottenverein, Wehrverein, etc.) immer stärker für eine aggressive Außenpolitik getrommelt,30 schien der Kanzler Bethmann Hollweg aus Sicht der Parteiführung eine eher mäßigende Rolle zu spielen. Sein erklärtes Ziel war es, einerseits England zur Neutralität zu bewegen und aus dem französisch-russischen Bündnis herauszubrechen, andererseits die revolutionäre Gefahr der Arbeiter:innenbewegung zu bannen und diese politisch zu integrieren. Ganz im Gegensatz zum Kaiser, der meinte, man müsse erst „die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen, wenn nötig, per Blutbad, und dann Krieg nach außen [führen]“, hoffte der Reichskanzler „eine Reform der Sozialdemokratie nach der nationalen und monarchischen Seite anzubahnen.“31 Diese Annäherung zwischen Sozialdemokratie und Reichskanzler schlug sich u.a. darin nieder, dass die Fraktion 1912 für die Wehrvorlage der Regierung stimmte und sich damit über das Zentrum und den linken Flügel der Partei hinwegsetzte, oder darin, dass sozialdemokratische Abgeordnete 1913 zum ersten Mal an geheimen Sitzungen der Budget- und Reichshaushaltskommission teilnehmen durften, wo sie in Aufmarschpläne gegen Belgien und Frankreich eingeweiht wurden. Die politische Integration der Sozialdemokratie in die bestehende Ordnung erhielt damit abermals Vorschub.

Kautsky wurde für seine Position u.a. von Radek und Luxemburg heftig kritisiert, womit sich der Konflikt zwischen der Mehrheit des Parteizentrums und dem linken Flügel vertiefte. Laut Luxemburg müsse sich die Sozialdemokratie die „bürgerlichen Friedensillusionen“32 aus dem Kopf schlagen, weil der Imperialismus ein notwendig kriegerisches Wesen besäße. Kein parlamentarischer Abrüstungsbeschluss könne diese Entwicklung aufhalten.33 Nach Radek sollte die Sozialdemokratie „im prinzipiellen Kampfe gegen den Imperialismus, in der Ablehnung und Bekämpfung seiner Kombinationen ihre Aufgabe sehen“, wobei er „das Fehlen aller nationalistischen Regungen in der Arbeitermasse“ unterstellte.34 Mit einer solchen auf Massenaktion abstellenden Strategie war der linke Flügel in der Partei allerdings zunehmend isoliert. 

Im Jahr 1912 fand der letzte internationale Sozialistenkongress vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges statt. In Basel schien auf den ersten Blick Einigkeit zu bestehen: Das Basler Manifest forderte, dass sich die Arbeiter:innen aller Länder gegen imperialistische Bestrebungen, die einen Krieg auslösen, stellen und erheben sollten. Allerdings wurden grundlegende Fragen schlicht übergangen, um den inneren Frieden zu wahren. Wie die internationale Arbeiter:innenbewegung auf einen drohenden Krieg reagieren sollte, ob mit Gegenagitation, Massenstreiks oder im Bündnis mit bürgerlichen Kräften, wurde nicht geklärt. Auch das Basler Manifest ließ die zentralen Fragen offen, die strategisch hätten beantwortet werden müssen.

Theoretische Fundierung und praktische Hilflosigkeit

In ihrer Breite durch weit auseinandergehende Positionen aufgespannt, erfuhr die Imperialismusdebatte zugleich eine theoretische Fundierung. Eine systematische Theorie des Imperialismus, die die Verschränkung von Monopolbildung und Expansionspolitik aufnimmt, verfasste zunächst der bürgerliche Ökonom John Atkinson Hobson (Imperialism – A Study, 1902), ehe Rudolf Hilferding (Das Finanzkapital, 1910), Luxemburg (Die Akkumulation des Kapitals, 1913) und Lenin (Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, 1916) nachlegten. Letzterer lieferte den wohl bedeutendsten Beitrag zur theoretischen Einordnung.

Lenin begriff den Imperialismus als historisches Endstadium des Kapitalismus, in welchem dieser, in seiner monopolistischen Phase, an seiner parasitären Fäulnis zugrunde gehen wird. Durch das „Übergewicht des Finanzkapitals“35verschmelzen Großbanken zunehmend mit den Industrieverbänden. Die daraus hervorgehenden Monopole teilen sich Weltmarkt und Kolonien auf: „Die Monopole sind überall Träger monopolistischer Prinzipien: An Stelle der Konkurrenz auf offenem Markt tritt die Ausnutzung der ‚Verbindungen‘ zum Zweck eines profitablen Geschäftes.“36 Das Ausschalten der freien Konkurrenz sei der ökonomische Grundzug des Imperialismus. Dabei werde es in den imperialistischen Großmächten auch möglich, Teile der Arbeiter:innenbewegung zu kaufen und in ein sozialchauvinistisches Fahrwasser zu führen. Demgegenüber betont der österreichische Sozialdemokrat Hilferding die zunehmende Vergesellschaftung der Produktivkräfte (die in einem umfassenden Generalkartell münde)37 während Luxemburg die strukturelle Krisenanfälligkeit der Produktionsverhältnisse (die einen definitiven Zusammenbruch herbeiführe) bestimmt.38 Beide stimmen mit Lenin allerdings darin überein, dass der Imperialismus das Endstadium des Kapitalismus sei. Die Produktionsweise müsse in dieser Entwicklung zugrunde gehen.

Der Kapitalismus befand sich am Vorabend des Ersten Weltkrieges allerdings, wie sich bald herausstellen sollte, nicht in seiner finalen Krise. Die Imperialismustheorien sind jedoch nicht nur mit ökonomischen Fehlannahmen behaftet, die, einmal aufgearbeitet, den Imperialismus kaum als Endstadium des Kapitalismus erscheinen lassen.39 Vor allem fallen die politischen Fehlannahmen der Imperialismusdebatte ins Gewicht.

England hatte seine Vorreiterrolle als ‚Werkbank der Welt‘ an die USA verloren, wo sich das Kapital durch den Massenkonsum eines riesigen Binnenmarktes rascher akkumulierte. In Europa lief ihm das Deutschen Reiches in der industriellen Entwicklung den Rang ab. In Asien sah es seine kolonialen Besitzstände (insbesondere Indien) durch das Vordringen Russlands bedroht.40 So polarisierte sich das politische Bündnissystem, wobei sich England auf die Seite des französisch-russischen Entente schlug, während das Deutsche Reich mit dem Habsburger Reich koalierte. Für Einflussnahmen der Großmächte eröffnete die Schwächung des osmanischen Reiches einen politischen Spielraum. Gerade Konstantinopel und die türkische Meerenge stellten den „ultimativen Preis“41 dar, der dabei zu gewinnen war. Während dieser Preis zuvorderst für Russland eine Chance bot, sich nach der Niederlage im Krieg mit Japan zu rehabilitieren, barg er insbesondere für Österreich-Ungarn ein Risiko, nationalistische Unabhängigkeitsbestrebungen im Vielvölkerstaat heraufzubeschwören. 1908 verschärfte die Annexion Bosniens durch Österreich-Ungarn den Antagonismus der beiden Mächte gravierend.42 1911 startete Italien einen Eroberungskrieg in Libyen, einer Kolonie des Osmanischen Reiches – damit fiel der Startschuss, das Osmanischen Reich auch auf dem Balkan anzugreifen. 1912 schlossen sich Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro zusammen und rückten im Ersten Balkankrieg bis kurz vor Konstantinopel vor. Der Zusammenbruch der osmanischen Herrschaft in Südosteuropa gab den nationalistischen Bewegungen auf dem Balkan Auftrieb und ließ die Stellung Österreich-Ungarns immer fragiler werden.43Das Habsburger Reich drohte zu zerbröckeln. Damit aber wurde auch die Stellung des Deutschen Reiches geschwächt. Im äußersten Gegensatz zu England sah sich das Deutsche Reich, das sich ökonomisch im Aufstieg befand, ohnehin bereits politisch durch die Verteilung der Kolonien benachteiligt. Im Resultat stieg die Bereitschaft der Mittelmächte, einen Präventivkrieg vom Zaun zu brechen, um die Entwicklung umzuwenden.44

Die ökonomische Ungleichentwicklung führte zu einer zunehmenden politischen Destabilisierung des europäischen Staatensystems. Konnten die imperialistischen Mächte für ihre Konflikte bei der Aufteilung der Beute auf dem afrikanischen und asiatischen Kontinent noch immer eine diplomatische Lösung finden, so legten sie mit ihrer aggressiven Außenpolitik doch Feuer an eine Zündschnur, die in das europäische Staatensystem zurückführte – der Balkan als Pulverfass. In der Imperialismusdebatte wurde die sich zuspitzende Hegemoniekrise kaum adäquat begriffen.

Gravierender aber ist ein anderer Punkt: So wurde in der Imperialismusdebatte zwar auf bedeutende Wegmarken der Gesamtentwicklung mitsamt ihren Gefahren hingewiesen, doch ging daraus keine sozialistische Position hervor, eine Position, die eine internationale Einigkeit in der Arbeiter:innenbewegung im Angesicht des imperialistischen Krieges hätte stiften können. Doch die Bewegung stand praktisch hilflos vor dem katastrophischen Gang der Dinge. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges ließ diese fehlende Einigkeit offenkundig und besonders schmerzhaft werden. Endeten Marx und Engels im Manifest der kommunistischen Partei noch mit der dringenden Aufforderung: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“, so wurde es nun zur blutigen Realität, dass sich Proletarier für imperialistische Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer massenhaft dahinschlachteten.

  • 1. Vgl. Hobsbawm: Das imperiale Zeitalter 1875-1914, S. 52 ff.
  • 2. Vgl. Jaeger: Geschichte der Wirtschaftsordnung in Deutschland, S. 111 ff.
  • 3. Industriegüter wie Leuchtmittel, Zweiräder, Wasserzähler, aber auch Gebrauchs- und Haushaltswaren wie Seife, Farbe, Schuh-creme und schließlich Importwaren wie Kaffee, Kakao, Bananen wurden nun dem Massenkonsum zugänglich gemacht.
  • 4. „Die Grundüberlegung der meisten Regierungen und Unternehmen des Nordens war in der Tat, daß die abhängige Welt für den Import der Fabrikate aus dem Norden mit dem Verkauf ihrer Rohstoffe bezahlen sollte.“ Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, S. 259.
  • 5. Marx: Kapital. Band 1, MEW 23, S. 779.
  • 6. Vgl. Marx: Kapital. Band 3, MEW 25, S. 457.
  • 7. „Die eigentliche Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft ist die Herstellung des Weltmarkts, wenigstens seinen Umrissen nach, und einer auf seiner Basis ruhenden Produktion. Da die Welt rund ist, scheint dies mit der Kolonisation von Kalifornien und Australien und dem Aufschluß von China und Japan zum Abschluß gebracht“ Marx: Marx an Engels. 8. Oktober 1958, MEW 29, S. 360.
  • 8. Marx, Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 465 f.
  • 9. Marx, Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 466.
  • 10. „Die tiefe Heuchelei der bürgerlichen Zivilisation und die von ihr nicht zu trennende Barbarei liegen unverschleiert vor unse-ren Augen, sobald wir den Blick von ihrer Heimat, in der sie unter respektablen Formen auftreten, nach den Kolonien wen-den, wo sie sich in ihrer ganzen Nacktheit zeigen. […] Erst wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte, gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidni-schen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte.“ Marx: MEW 9, Die künftigen Ergeb-nisse der britischen Herrschaft in Indien, S. 225 f.
  • 11. Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S. 338.
  • 12. Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, S. 338.
  • 13. Braunthal: Geschichte der Internationale, Band 1, S. 312.
  • 14. Braunthal: Geschichte der Internationale, Band 1, S. 313.
  • 15. Dabei wurden die Prinzipien in der Arbeiter:innenbewegung durchaus umgesetzt. Es sei hier nur an die Unterstützung der englischen Arbeiter:innenklasse für die Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg erinnert, von der eine direkte Linie zur Gründung der ersten Internationalen Arbeiterassoziation führt. https://communaut.org/de/die-internationale-arbeiterassoziation
  • 16. Luxemburg: Rede über die Agitation der Partei gegen den Chinakrieg, Gesammelte Werke, Band 1, S. 800.
  • 17. Zwar müsse die Expansionspolitik kontrolliert werden, „aber“ – so Bernstein – „im Princip lässt sich nicht viel dagegen sagen, dass England ein möglichst weites Gebiet der unbesetzten Welt dem Freihandel zu reservieren sucht.“ Bernstein: Sozialdemo-kratie und Imperialismus. https://www.marxists.org/deutsch/referenz/bernstein/1900/05/sozdemimp.h…
  • 18. Braunthal: Geschichte der Internationale, Band 1, S. 313.
  • 19. Der Aufstand der Herero brach aufgrund der rassistischen Kolonialverwaltung und der kolonialen Landnahme aus, welche die Viehzucht als Existenzgrundlage der Indigenen bedrohte. Er wurde militärisch niederschlagen. Als sich ein Großteil der Her-eros in die wasserlose Omaheke-Wüste zurückzog, ließ General von Trotha das Gebiet abriegeln, sodass Zehntausen-de verdursteten. Dabei war die Vernichtung der Hereros intendiert: General von Trotha, unterstützt von Kaiser Wilhelm II, war der Auffassung, dass diese Bevölkerungsgruppe als feindliche Nation vernichtet werden müsse. Der Aufstand der Nama, der daraufhin folgte, wurde nicht minder brutal bekämpft.
  • 20. Der Grund für ihre Niederlage war, dass sich die Wahlbeteiligung von 76,1 auf 84,7% erhöht hatte, was insbesondere den nati-onalistischen Parteien einen enormen Stimmenzuwachs bescherte. Dies mit eingerechnet, scheint es nicht die Arbeiterklasse gewesen zu sein, die die den mörderischen Imperialismus der Reichsregierung unterstützte.
  • 21. Braunthal: Geschichte der Internationale, Band 1, S. 324.
  • 22. Braunthal, Geschichte der Internationale, Band 1, S. 325, vgl. die gesamte Resolution bei Taber: Under the Socialist Banner: Resolutions of the Second International, 1889-1912, S. 107ff.
  • 23. Osterroth, Schuster: Chronik der deutschen Sozialdemokratie. http://library.fes.de/fulltext/bibliothek/chronik/band1/e235e699.html
  • 24. Sozialdemokratische Partei Deutschlands: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutsch-lands. Abgehalten zu Essen vom 15. bis 21. September 1907, S. 255.
  • 25. Vgl. Braunthal: Geschichte der Internationale. Band 2. S.20ff.
  • 26. Frankreich handelte unter dem Vorwand, dass es lediglich zur Aufstandsbekämpfung dem Sultan von Marokko zur Hilfe ge-kommen sei. Es brach faktisch allerdings mit der Algericas-Akte, die Marokko für unabhängig erklärte.
  • 27. Vgl. Fischer: Krieg der Illusionen, S. 127 ff.
  • 28. Kautsky: Weltpolitik, Weltkrieg und Sozialdemokratie! https://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1911/08/flugmarok.htm
  • 29. Kautsky: Krieg und Frieden. Betrachtungen zur Maifeier, in: Die Neue Zeit, April 1911.
  • 30. Clark: Die Schlafwandler, S. 311.
  • 31. Zitiert nach Sauer: Der Erste Weltkrieg – ein Verteidigungskrieg?, S. 100.
  • 32. Luxemburg: Friedensutopien, in: Leipziger Volkszeitung, 6.-8. Mai 1911.
  • 33. „Das innerste Wesen, der Kern, der ganze Sinn und Inhalt der imperialistischen Politik der kapitalistischen Staaten ist das fortschreitende und unausgesetzte Zerreißen aller nichtkapitalistischen Länder und Völker in Fetzen, die von dem Kapitalis-mus nach und nach verschlungen und verdaut werden. Es ist also […] nichts andres von Hause aus als ein fortlaufender, zum Gesetz erhobener Rechtsbruch und Gewaltakt.“ Luxemburg: Kleinbürgerliche oder proletarische Weltpolitik? https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1911/08/kbodprol.htm
  • 34. Radek: Unser Kampf gegen den Imperialismus. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/radek/1912/05/imperial.htm
  • 35. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Werke 22, S. 242.
  • 36. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Werke 22, S. 248.
  • 37. „Die unabhängigen Industrien geraten, wie wir gesehen haben, immer mehr in Abhängigkeit von kartellierten, um schließlich von ihnen annektiert zu werden. Als Resultat des Prozesses ergäbe sich dann ein Generalkartell. Die ganze kapitalistische Pro-duktion wird bewußt geregelt von einer Instanz, die das Ausmaß der Produktion in allen ihren Sphären bestimmt.“ Hilferding: Das Finanzkapital, S. 349.
  • 38. „Die Kapitalakkumulation kann demnach sowenig ohne die nichtkapitalistischen Formationen existieren, wie jene neben ihr zu existieren vermögen. Nur im ständigen fortschreitenden Zerbröckeln jener sind die Daseinsbedingungen der Kapitalakku-mulation gegeben. […] Hier beginnt aber die Sackgasse. […] Die Unmöglichkeit der Akkumulation bedeutet kapitalistisch die Unmöglichkeit der weiteren Entfaltung der Produktivkräfte und damit die objektive geschichtliche Notwendigkeit des Unter-gangs des Kapitalismus. Daraus ergibt sich die widerspruchsvolle Bewegung der letzten, imperialistischen Phase als der Schluß-periode in der geschichtlichen Laufbahn des Kapitals.“ Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals, S. 363.
  • 39. So wird ausgespart, dass Monopole nicht nur aus der freien Konkurrenz entstehen, sondern auch von dieser wieder aufgelöst werden. Monopole erzielen Extraprofite durch ihre Marktmacht in einer Branche, sind dadurch aber auch auf diese Branche beschränkt und mindestens von anderen Monopolen bedroht, die in ihre Branche einwandern können. „Die Konkurrenz beruht auf dem Interesse, und das Interesse erzeugt wieder das Monopol; kurz, die Konkurrenz geht in das Monopol über. Auf der andern Seite kann das Monopol den Strom der Konkurrenz nicht aufhalten, ja es erzeugt die Konkurrenz selbst, wie z.B. ein Einfuhrverbot oder höhe Zölle die Konkurrenz des Schmuggelns geradezu erzeugen.“ Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, MEW 1, S. 513.
  • 40. Vgl. Clark: Die Schlafwandler, S. 418 ff.
  • 41. Lievien: Towards the Flame. Empire, War and the End of Tsarist Russia, S. 7.
  • 42. Vgl. Clark: Die Schlafwandler, S. 126 f.
  • 43. Vgl. Schroeder: World War I as Galloping Gertie, S. 337. Sein großer Antagonist, Serbien, ging gestärkt aus den Balkankriegen hervor, während Rumänien sich von der Donaumonarchie abwandte und Bulgarien als Verlierer des Zweiten Balkankrieges empfindlich geschwächt wurde.
  • 44. Clark: Die Schlafwandler, 431 ff.