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Leserbrief: Ivan Segrés Verirrung eines multikulturellen Zionismus

Leserbrief: Ivan Segrés Verirrung eines multikulturellen Zionismus

22. Oktober 2025

Erfreulicherweise legt Ivan Segré in einem Beitrag auf communaut Ende August den Wahn von Benny Morris offen. Morris, ein selbsterklärter Linker, bezeichnete die Palästinenser:innen einst als „wilde Tiere“, um die man „einen Käfig bauen muss“, und forderte im Juni 2024, dass Israel den Iran sofort angreifen solle – auch mit Atomwaffen. Diese Offenlegung der Realitätsverleugnung bei Morris ist deshalb sehr erfreulich und nützlich, da sein Wahn symptomatisch ist für das vollständige geistige Abgleiten zahlreicher Rechter, die sich immer noch für Linke halten, womit der Wahn ja bereits anfängt. Er entkräftet richtigerweise die klassische Behauptung, Israels Vernichtungskrieg gegen Gaza wäre ausschließlich ein Krieg gegen die Hamas, ebenso die verschobene Medienkritik der wahnhaften Israelfreunde, die, wie der delirante Morris, mehr Bilder von Hamas-Kämpfern und weniger ziviles Leid einfordern, um vermeintliche Gleichheit vor dem medialen Weltgericht zu erlangen. Und auch die Behauptung, es wäre allein die arabische Nationalbewegung, die einer Zweistaatenlösung im Wege steht, wird erfreulicherweise einer Kritik unterzogen.

Doch urplötzlich scheint Segré für wenige Sekunden selbst wahnhaft zu werden. Er schreibt realitätsverkennend: „Der binationale Staat ist keineswegs nur ein Traum irgendwelcher Pariser „Bobos“, sondern existiert in Israel bereits genauso wie der Multikulturalismus. Was Morris und so viele andere offenbar nicht verstehen, ist, dass dies kein Fluch, sondern ein Segen ist und der Erfolg des Zionismus genau darin besteht: Er hat de facto die Grundlagen für einen zukünftigen binationalen und multikulturellen Staat geschaffen.“ Diese wahnhafte Aussage ist umso unverständlicher, da sich Segré als Intellektueller, „Talmudist und Philosoph“ mit der Geschichte des Zionismus sicherlich besser auskennt als ich, also muss es auch eine Verleugnung seines eigenen Wissens sein.

Denn ist es nicht eher so, dass der schwächliche Multikulturalismus in Israel trotz und nicht wegen des Zionismus existiert? Ist er zugleich nicht durch den Zionismus ständig gefährdet statt auf ihm errichtet? Meines Wissens ging der Zionismus seit seinen Anfängen davon aus, dass der Antisemitismus ewig sei und immer wieder dort entstehen muss, wo Juden leben. Deshalb sei Widerstand in den Ländern der Diaspora zwecklos und die Ansiedlung in einem ethnisch homogenen Judenstaat die einzige Lösung. Theodor Herzl schrieb über den Antisemitismus in „Der Judenstaat“: „Die Judenfrage besteht überall, wo Juden in merklicher Zahl leben. Wo sie nicht ist, da wird sie durch hinwandernde Juden eingeschleppt. Wir ziehen natürlich dahin, wo man uns nicht verfolgt; durch unser Erscheinen entsteht dann die Verfolgung. Das ist wahr, muss wahr bleiben, überall, selbst in hochentwickelten Ländern.“ Ähnliches lässt sich bei dem rechten Zionisten Zeev Jabotinsky nachlesen: „Wir kehren der Außenwelt den Rücken zu, so wie sie uns seit langem den Rücken zukehrt, und wir wenden uns einer nationalen jüdischen Innenpolitik zu“. Den Widerstand gegen den tödlichen Antisemitismus im Zarenreich organisierte deshalb der sozialistische „Bund“, während die Zionisten, linke wie rechte, vom Kampf gegen den Antisemitismus und die ihn befördernden Verhältnisse absahen. Gleiches kann über den Widerstand gegen den Holocaust gesagt werden: Die zionistischen Kampfgruppen in den Ghettos und Wäldern formierten sich trotz und nicht aufgrund des Zionismus. Die Flucht ins Heilige Land, und nicht der gemeinsame sozialistische Kampf gegen Reaktion und Kapitalismus, also gegen die Ursprünge des Judenhasses, galt den Zionisten als einzige „Lösung“ des Problems des Antisemitismus. Ein Multikulturalismus hingegen würde den Antisemitismus stets neu entfachen, da, so die zionistische Grundannahme, nur Juden mit Juden in Frieden leben können.

Im Heiligen Land begann der Arbeiterzionismus schließlich mit dem Aufbau eines zionistischen Arbeiterstaates. Und auch hier, trotz sozialistischer Orientierung und arabischen Arbeitern, keine Spur eines zionistischen Multikulturalismus. Unter der Parole der „Eroberung der Arbeit“ und der „Hebräischen Arbeit“ erschufen die Arbeiterzionisten ab den 1920er Jahren ein rein jüdisches Proletariat. Hierzu übten sie zum einen Druck auf jüdische Arbeitgeber aus, ihre arabischen Arbeiter zu entlassen und durch jüdische Proletarier zu ersetzen. Zum anderen wurde mit Geldern aus dem Ausland eine rein jüdische Industrie aufgebaut, deren Arbeiter durch den jüdischen Gewerkschaftsbund „Histadrut“ organisiert wurden, der seinem jüdischen Proletariat gleichzeitig Wohnungen, Dienstleistungen sowie ein Bankenwesen zur Verfügung stellte. 1935 arbeiteten bereits 97 Prozent der 130.000 jüdischen Lohnabhängigen in einer rein jüdischen Umgebung, obwohl sie in einem vorwiegend arabischen Land lebten. Dies war der Keim der israelischen Staatsgründung und zugleich der Ursprung erster ethnischer Konflikte. Und auch in den vermeintlich sozialistischen und egalitären Kubbutzim: keine Spur von Multikulturalismus. Stattdessen rein jüdische Arbeit und militärischer Drill. 

Doch der Zionismus duldete auch keinen jüdischen Multikulturalismus. Er richtete sich ebenso gegen das Diasporajudentum, seine Kultur und seinen politischen Radikalismus. Er wollte die jüdischen Lebenswelten der Diaspora, die die meisten Zionisten verachteten, durch einen „Neuen Juden“ oder „Muskeljuden“ ersetzen. Dieser zionistische Unikulturalismus drückte sich besonders im Kampf gegen das jahrhundertealte und lebendige Jiddisch aus, welches durch das tote Hebräisch ersetzt werden sollte, das seit Jahrhunderten kein Mensch mehr im Alltag sprach. Im Jahr 1910 forderte Ben Gurion: „Wir sollten keine andere Sprache als Hebräisch in unserer kulturellen Arbeit verwenden“. Im Jahr 1948 sprachen bereits 70 Prozent der erwachsenen palästinensischen Juden und 98 Prozent ihrer Kinder miteinander Hebräisch. Als die aus ihren Ländern vertriebenen arabischen Juden in den 1950er Jahren Israel erreichten, wurden sie an den Flughäfen mit dem Insektizit DDT abgespritzt und in heruntergekommenen Siedlungen untergebracht und separiert. Auch das arabische Judentum, seine Kultur, Sprache und Erscheinungsform, wurde durch die europäischen Zionisten verachtet, die schließlich eine europäische Kolonie errichten wollten. Und auch die arabischen Juden wurden erfolgreich hebräisiert und verhalfen der rechten und antiarabischen Likud-Partei Ende der 1970er Jahre an die Macht.

Angesichts dessen, aber fraglos auch angesichts jahrzehntelanger Apartheid in den besetzten Gebieten, fällt es schwer, den Zionismus als die „Grundlage eines binationalen und multikulturellen Staats“ zu verstehen, vielmehr ist er die Grundlage der gegenwärtig herrschenden Stimmung in der israelischen Gesellschaft: Im Juni 2025, als die Zahl der Toten in Gaza auf 60.000 zuging, ergab eine Umfrage, dass nach wie vor 72 Prozent der jüdischen Bevölkerung Israels die Todesopfer als gerechtfertigt ansahen. Die Mehrheit der jüdischen Israelis sprach sich in derselben Umfrage (Peace Index Survey der Tel Aviv University) sogar für eine „Zwangsumsiedlung der Palästinenser“ aus. In einer Umfrage des Israel Democracy Institutes wenig später waren 77 Prozent dagegen, sich um das Leid in Gaza zu kümmern und 63 Prozent lehnten jede humanitäre Hilfe ab.

Ein Multikulturalismus müsste deshalb gegen den zionistischen Staat und seine Ideologie erkämpft werden, wie es in den allermeisten bürgerlichen Nationen der Fall ist. Das sich gegenwärtig wieder stärker politisch artikulierende, radikale, diasporische Judentum wäre in diesem Kampf sicherlich ein besserer und verlässlicherer Alliierter als der Zionismus. Gleiches gilt für den Kampf gegen den Antisemitismus.