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Frankreich: Ende einer Bewegung, eine Explosion der Wut

Frankreich: Ende einer Bewegung, eine Explosion der Wut

23. September 2023

Im Folgenden veröffentlichen wir die Übersetzung eines weiteren Beitrags, den Charles Reeve für den Brooklyn Rail über die jüngsten Kämpfe in Frankreich verfasst hat.

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Am 27. Juni 2023, nur wenige Wochen nach den letzten riesigen Demonstrationen gegen die »Reform« des Rentensystems, erlebte die französische Gesellschaft eine kraftvolle Explosion jugendlicher Revolte, die das ganze Land für mehrere Tage in ihren Bann zog. Auslöser war der Polizeimord am 17-jährigen Nahel Merzouk, der ohne Führerschein mit einem Auto durch die Banlieue fuhr. Im Zuge einer Polizeikontrolle wurde er durch einen Schuss ins Herz umgebracht. Wie kamen wir von einer Massenbewegung gegen eine Regierungs-»Reform«, deren Ziel es war, das Mindestrenteneintrittsalter um zwei Jahre zu erhöhen und in der Folge die Verarmung der Rentner:innen zu vergrößern, zu einer Explosion gegen Polizeigewalt?

Zu Beginn sollten wir einen Blick zurück auf das abrupte Ende der Bewegung gegen die »Reform«1 werfen. Nach einer Reihe von durch die Gewerkschaften ausgerufenen Demonstrationen, einer größeren Anzahl von Streiks, denen es nicht gelang, sich auszubreiten oder zu verlängern, schmälerten sich die Aussichten für die Kämpfe zusehends. Schließlich machten sich Müdigkeit und Abgeschlagenheit breit, zusammen mit dem Gefühl der Ohnmacht, die Machtverhältnisse zugunsten einer von kapitalistischen Kräften und vermögenden Teilen der Gesellschaft getragenen Regierung zu ändern. Die Streiks, an denen sich zwar aktive und entschlossene Arbeiter:innen beteiligten, erreichten nie ein Ausmaß, das das Funktionieren der Gesellschaft hätte blockieren können. Sich wiederholende Demonstrationen, die Energie und Kreativität der Demonstrierenden, der Einsatz von Blockaden und Sabotage, die Bildung von Netzwerken kämpfender Gruppen, die geschmiedeten Verbindungen zwischen Student:innen und Arbeiter:innen sowie die Sympathie der Mehrheit der Arbeiter:innenklasse – alles das reichte nicht aus, die Dynamik aufrechtzuerhalten und den Übergang zu einer offensiveren Form der Auseinandersetzung zu ermöglichen. Trotz ihrer Popularität blieb die aktive Bewegung das Werk einer Minderheit. Die aufeinanderfolgenden Demonstrationen führten den Teilnehmenden lediglich die Sackgasse vor Augen, die die gewerkschaftlichen Kräfte mit triumphalistischen Reden und einer irritierenden Demagogie zunehmend zu verbergen versuchten. Die Bewegung war schließlich erschöpft und der Aktivismus der Minderheiten konnte daran nichts ändern.

Das klare Ende der Bewegung war nicht in der Lage, das kollektive Bewusstsein auszulöschen, das eine tiefgreifende und massive Ablehnung der neoliberalen Ausprägung des heutigen Kapitalismus und seiner stetig autoritärer werdenden Regierungsformen enthält. Die in der Bewegung zum Ausdruck gebrachte Ablehnung war erfolglos darin, zu einer ausschlaggebenden Gegenmacht zu werden. Aber sie ist weiterhin vorhanden, sodass die Niederlage nicht als Niederlage des Kollektivs und seiner subversiven Energie erlebt wurde. Das allgemeine Gefühl lässt sich in zwei Sätzen zusammenfassen, die unterschiedliche Betonungen und Nuancen beinhalten: »Wir haben verloren, aber sie haben nicht gewonnen. Der Kampf wird früher oder später erneut beginnen.«

Diese Empörung über die politische Klasse und ihre Propagandist:innen, über die zunehmende Repression aller Formen der Opposition, über die generelle Unzufriedenheit, soziale Verarmung und wachsenden Klassenunterschiede lieferte den Kontext für die Explosion der Revolte junger Menschen in Arbeiter:innenvierteln gegen Polizeigewalt. Es handelt sich um rassistische Gewalt, die eine alltägliche Erfahrung innerhalb der Viertel darstellt. Diese fungieren als Abstellgleise für junge Menschen – arm und zumeist ausgeschlossen von der Arbeitswelt und dem Sozialleben im Allgemeinen –, welche, obwohl mit migrantischem Hintergrund, oftmals seit ein oder zwei Generationen »französisch« sind. Polizeigewalt und ihre rassistische Dimension haben in Frankreich eine lange Geschichte, sie sind tief verwurzelt innerhalb der Klassenkämpfe, die den Ursprung des industriellen Kapitalismus in Frankreich bilden, und in der Unterdrückung nachfolgender Gruppen von Einwanderer:innen, die seit langem die Arbeiter:innenklasse bilden. Hinzu kommen die Konsequenzen eines schlecht aufgearbeiteten kolonialen Erbes und die nationalistischen Rebellionen der Nachkriegszeit. In jüngerer Zeit gelangte die Polizeigewalt mit den Gilets Jaunes an die Oberfläche des sozialen Lebens, wurden von ihnen doch mehr als 3.000 durch die Polizei verletzt und misshandelt. Mittlerweile erstreckt sie sich auf alle Formen der Opposition gegen die soziale Ordnung, Kämpfe gegen die Zerstörung der Umwelt eingeschlossen. Diese wurden von der Polizei systematisch kriminalisiert und bekämpft. Ein herausragendes Beispiel ist der Fall in Sainte-Soline, einem Ort im mittleren Westen Frankreichs, wo 30.000 Menschen, mobilisiert zur Blockade eines agrar-industriellen Projekts zur Privatisierung von Grundwasser, sich einer militarisierten Polizeimacht ausgesetzt sahen, die Dutzende Verwundete und zwei junge Menschen im lebensbedrohlichen Zustand zu verantworten hatte.

Es ist schwer, ein Ereignis wie die Jugendaufstände in den Banlieues zu analysieren, die geprägt sind von Spontaneität und Improvisation. Es ist klar, dass die Spontaneität das Ergebnis einer bereits bestehenden Situation ist und das Unvorhersehbare war offensichtlich vorherzusehen. Diese Revolte nahm jedoch unerwartete Formen an und es ist schwierig, die Verbindungen zu vorherigen Kämpfen auszumachen. Karl Marx hat einmal nahegelegt, dass soziale Revolten wie Erdbeben sind – es ist sinnlos, sie vorhersagen zu wollen und noch viel mehr sie zu sezieren oder sie in vorher festgelegte Schemata und politische Projekte einzuordnen. Nichtsdestotrotz, wenn jemand in Opposition zur bestehenden Ordnung steht, kann man diese Ereignisse nicht von der gegenwärtigen Krise der Gesellschaft abspalten und man wird unweigerlich zur Solidarität mit ihnen veranlasst, auch wenn diese Solidarität rein abstrakt ist und unmöglich konkretisiert werden kann; auch wenn diese Revolten keinerlei Perspektive auf radikalen Wandel aufzeigen. Vielleicht stehen die Zeichen für etwas anderes am Horizont. In der Zwischenzeit können uns einige Fakten dabei helfen, die Ursachen der Explosion zu verstehen.

Die jüngste Revolte junger Menschen in Arbeiter:innenvierteln hat die ähnlichen Revolten von 20052 an Intensität und Breite übertroffen. Während die Rebellion damals drei Wochen anhielt, dauerte sie diesmal nur wenige Tage, betraf aber einen größeren Teil des Landes. Sie erreichte viele kleine Provinzstädte, die traditionell als »ruhig« angesehen werden, und nicht nur die großen urbanen Zentren. Ein kommunistischer Stadtbeamter in der Pariser Region beobachtete: »Symbolisch gesprochen ging das weit über das, was 2005 passierte, hinaus.«3 Tatsächlich konzentrierte sich die Explosion von Wut und Zorn vor allem auf »Symbole des Staates« und insbesondere auf die sogenannten Ordnungskräfte, die Polizei und die Gendarmerie (Militärpolizei), die in jedem Fall von der Jugend dieser Nachbarschaften als das Herz der repressiven Überwachung des Staates gesehen werden. Im Gegensatz zu dem, was die Regierung und ihre Propagandist:innen den Leuten weismachen wollen, waren nicht Schulen und öffentliche Einrichtungen (Bibliotheken, Kulturzentren) die am häufigsten attackierten Orte – obwohl für viele Jugendliche diese Orte Zentren der Macht sind, Räume, die sie eingliedern, in denen sie abgelehnt, abgewertet und ausgeschlossen werden. Unter den 2.500 Gebäuden in mehr als 500 städtischen Gebieten, die in Brand gesetzt oder beschädigt wurden, gab es eine hohe Anzahl an Polizeistationen und Gendarmerieposten, verglichen mit einer kleinen Anzahl an Schulen (168). Waffenläden wurden hier und dort von Menschen geplündert, die Jagdgewehre und andere Waffen mitnahmen, eine Novum, das das erhöhte Gewaltniveau in den Zusammenstößen mit den Autoritäten bezeugt. Eine weitere Neuheit: Hundert Bürgermeister:innenbüros wurden attackiert, ebenso gewählte Politiker:innen, gelegentlich auch in ihren Privatwohnsitzen.

Repressions- und Kontrollbehörden ersetzen die kollabierenden Institutionen des Sozialstaates. Diese Entwicklung war bereits seit Jahren sichtbar: Der Anstieg der Repression ist der Gegenpart zum bewussten und kontinuierlichen Abbau des Sozialstaates. Die Realisierung der Tatsache war zentral für die Revolte der Gilets Jaunes und in letzter Zeit für die Bewegung gegen die Renten-»Reform«. Um Marx noch einmal zu zitieren, tendieren die Formen politischer Macht dazu, mit den Formen der kapitalistischen Ausbeutung der Arbeit zu korrespondieren. Letztere ist zunehmend brutal, charakterisiert durch Prekarität, Fragilität, harte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne. Die Repressionskräfte sind verhasst in armen Nachbarschaften, wo junge Menschen den »uberisierten« Jobs überlassen werden. Diese Nachbarschaften bilden gewissermaßen eine eigene Welt von Proletarier:innen außerhalb des klassischen Proletariats. Die Polizei auf der anderen Seite wird immerzu von den bürgerlichen Klassen unterstützt (natürlich), sowie von den Ladenbesitzer:innen und auch den Arbeiter:innen, die Angst haben, das letzte bisschen, was sie noch haben, zu verlieren und an einer »ausbalancierten« Vergangenheit hängen, die mythologisiert und herbeigesehnt wird, die nicht zurückkehren wird.

Der moderne französische Staat (und hier nimmt er eine Vorbildfunktion für Europa ein) ist zunehmend gestützt auf Institutionen, die offen Gewalt ausüben. Die Polizei ist ein Staat im Staat geworden. Noch schlimmer, jüngste Entwicklungen weisen darauf hin, dass die Teile der Polizei, die mit der Repression auf der Straße betraut sind, die Verbindung mit der Spitze der Institution verloren haben, mit der Hierarchie des Kommandos. Stattdessen stehen sie stark unter der Kontrolle der Polizeigewerkschaften, deren Verbindungen zur extremen Rechten wohlbekannt sind. Diese Entwicklung erzeugt Unruhe innerhalb der herrschenden Klasse, der führenden liberalen Presse und der Judikative. Die gleiche Entwicklung findet sich auch in anderen Teilen des Staates: zum Beispiel weiß jede:r (obwohl es nicht offen gesagt wird), dass der Innenminister, verantwortlich für die Polizei, nicht ohne die Zustimmung der Polizeigewerkschaften nominiert werden kann. Ähnlich wird der Minister für Landwirtschaft und Ernährungssicherheit »ausgewählt« von den wichtigsten agrar-industriellen Unternehmen, so wie der Energieminister »ausgewählt« wird durch die Bosse der nuklearen Industrie. Man könnte sagen, wir sind auf dem Weg zu mehr Transparenz über die echte Natur der Demokratie.

Da ist auch die Frage der sozialen Verelendung. Die Explosionen der Revolte brachten viele Plünderungen mit sich – deutlich mehr als 2005. Nachdem die Jugendlichen die Schaufenster eingeschlagen und Süßigkeiten gestohlen hatten, waren es an vielen Orten die Mütter und Großmütter, die kamen, um Nudeln, Zucker, Mehl, Öl und Konserven zu besorgen. Das sagt uns viel über die Zeit, in die wir in unserer angeblichen Wohlstandsgesellschaft eintreten. Diese Revolten waren zumindest teilweise auch Hungerrevolten.

Die Jugendlichen, die frei auf den Straßen herumliefen, waren zum größten Teil sehr jung, zwischen zwölf und siebzehn, jünger als 2005. Es gab über 3.000 Verhaftungen, mit mehr als 1.300 in beschleunigten Verfahren angeklagten Jugendlichen, und mehr als 700 Personen, die zu schweren Haftstrafen verurteilt wurden, mit acht Monaten im Durchschnitt.4 So wächst die inhaftierte Surplusbevölkerung weiter an. Einige wenige Großstadtvororte und Nachbarschaften sahen eine vorübergehende Mischung von Jugendlichen in der Revolte und jenen, die seit Jahren zu Zusammenstößen mit der Polizei auf Demonstrationen angezogen werden, dem sogenannten Schwarzen Block. Für die meiste Zeit blieben dies zwei Welten, getrennt durch Ideologie. Ich hörte von der (echten oder ausgedachten) Antwort eines jungen Aufständischen an jemanden aus dem Schwarzen Block: »Ihr lasst euch verhaften, weil ihr politisch aktiv seid, wir tun es, weil wir jung sind.« Andererseits, in Anbetracht der Form der Revolte, ihrer Spontaneität und Plötzlichkeit und den Orten an denen sie ausbrach (Straßen und Straßenzüge), zeigten sich Arbeiter:innen im Allgemeinen nicht solidarisch. Ab und an führte die Intervention von Lehrer:innen oder lokalen Sozialarbeiter:innen dazu, dass Dinge diskutiert werden konnten und die Wut der jungen Leute »zur Vernunft gebracht« werden konnte. Die Geschehnisse wurden sicherlich auf der Arbeit und zuhause diskutiert, allerdings ohne besondere Auswirkungen. Man fragt sich, inwiefern die Institution »Familie« in der sich auflösenden oder implodierenden Welt der Proletarier:innen noch existiert. Wir wissen, dass die Zahl der Familien mit nur einem Elternteil immer weiter ansteigt, vor allem diejenigen mit alleinerziehenden Müttern, denen es zumeist nicht gelingt, den Kindern in Anbetracht des täglichen Überlebenskampfes Aufmerksamkeit zu schenken: lange Arbeitszeiten und Fahrten, lähmende Müdigkeit. Macrons Rede davon, dass Familien »ihre Kinder in Schach halten« sollen, fehlte es offensichtlich an Bezug zur Realität.

In den Vierteln, in denen die Revolte ausbrach, äußerten die Menschen jedoch ein klares Verständnis der Situation und eine Kritik an der Polizei. Das Gefühl, dass die Regierung lügt, dass die Polizei außer Kontrolle geraten ist und die Interessen der Reichen verteidigt, wird allgemein geteilt. Die Menschen lehnen staatliche Gewalt ab, die als Gewalt gegen die Arbeiter:innenklasse angesehen wird – auch wenn sie gleichzeitig mehr vom Staat einfordern. Ein Widerspruch, der den gegenwärtigen Stand des gesellschaftlichen Bewusstseins offenbart, das weit davon entfernt ist zu verstehen, dass der repressive Staat der einzig mögliche Staat in der gegenwärtigen Periode des Kapitalismus ist.

Gruppen, die sich selbst für »radikal« halten, sahen in der Revolte die Grundlage für eine »revolutionäre« Situation, die weiterentwickelt und »politisiert« werden sollte. In Anbetracht der Umstände, besonders der repressiven Macht des modernen Staates, erscheint es unverantwortlich 14-jährige dazu anzustacheln, diesen Weg der Konfrontation zu gehen und dabei ihre Schwächen zu ignorieren. Viel weiser waren die Worte einer Frau aus einem Nachbarschaftsverein, die, weil sie keine Lust auf Diskussionen hatte, um die jungen Leute zu beruhigen, ihnen einfach einen Rat gab: »Passt auf euch auf und bringt euch nicht in Gefahr!« Schließlich sind sie einer tatsächlichen Gefahr ausgesetzt, sowohl vor als auch während der Revolte. Es ist bereits viel Wert, die Gründe für ihre Wut ernst zu nehmen.

Im Kontrast dazu demonstrieren beinahe alle Diskurse der alten Linken ein Unverständnis in Bezug auf die Ereignisse, eine Verleugnung des Zustandes dieser allein gelassenen Jugendlichen, die »wütend sind auf alle, auf die ganze Welt«, wie jemand sagte. Es stimmt, dass Wut auf die Welt nicht zwangsläufig zu der Erkenntnis führt, dass eine andere Welt möglich ist. Darin besteht ein großer Unterschied zu der sozialen Bewegung zuvor, bei der diese Idee präsent war, auch wenn sie nicht umgesetzt werden konnte. Tatsächlich ist eine soziale Explosion ohne Ergebnisse oder unmittelbare Perspektiven verstörend. So führte der renommierte Denker Edgar Morin (einer der letzten nonkonformistischen linken Intellektuellen), der über die Ereignisse schrieb, ohne auf die materiellen Bedingungen, die sie auslösten – die tägliche Gewalt – einzugehen, den Dschihadismus an, um ihnen eine nihilistische Qualität zu unterstellen. Hierbei handelt es sich um einen einfachen und perfiden Schachzug, da die meisten der beteiligten jungen Menschen einen Migrationshintergrund haben: »Im Gegensatz zu den Dschihadisten, die vom Hass auf Ungläubige motiviert sind, sehen wir hier das Gegenteil des Glaubens, eine Art Nihilismus. Abgesehen von der Wut über den Tod von Nahel M. scheint es, dass der Rausch, alles zu zertrümmern und anzuzünden, von den Beteiligten als ein finsteres Fest erlebt wurde.«5 Das bedrohliche Bild der (12- bis 17-jährigen?!) »Barbar:innen« ersetze somit diskret das Bild des »Dschihadisten«, ein diskursive Entwicklung, die es Wert ist, diskutiert zu werden. Auf jeden Fall kam Morin zu dem Schluss, dass »die Ereignisse auf zwei verschiedene Arten gelesen werden können: als Offenbarung des tiefen Übels, das sich durch unsere Gesellschaft frisst, oder als ein Anfall von pubertärem Wahnsinn, kollektiv und vorübergehend«. Das »abgrundtiefe Übel unserer Gesellschaft« erscheint mir als die richtige Interpretation.

Um mit ein paar Bemerkungen über die Haltung der politischen und gewerkschaftlichen Kräfte zum Schluss zu kommen: Hier sind die Dinge im Moment etwas verwirrend. Fast die Gesamtheit der politischen Kräfte in Frankreich verteidigt die liberalen Prinzipien des Kapitalismus. Nur die neue Partei La France insoumise nimmt eine Position gegen diese Orientierung ein, mit schwacher Unterstützung verschiedener marginalisierter Sozialist:innen (die Mehrheit hat sich Macrons neoliberalen Projekt verschrieben) und der Grünen, die ihrerseits in »Realist:innen« und »Radikale« gespalten sind. Im Kontrast dazu hält die verwesende Kommunistische Partei, die aktuell von einem neostalinistischen, patriotischen und produktivistischen Klan angeführt wird, an demagogischen Ideen von der »Ordnung« und den Polizeikräften fest, die als »Ordnungsarbeiter:innen« angesehen werden. Die politische Klasse als Ganzes ist an einem heftigen Kampf beteiligt, um La France insoumise, nun der Hauptgegner des liberalen Konsens, aus dem Verkehr zu ziehen. Bis auf Weiteres hat sich die Partei auf eher würdevolle Weise innerhalb der bürgerlichen Politik verhalten: Sie hat die jungen Verhafteten verteidigt und eine »demokratische Rekonstitution« (?) der Polizei verlangt. Dass sie die wütenden jungen Menschen aufgefordert hatte, nicht soziale Güter (Schulen, soziale Zentren, Bibliotheken, Gesundheitszentren, öffentliche Verkehrsmittel) zu zerstören, ohne die Angriffe auf die Polizei und ihre Gebäude zu erwähnen, wurde von anderen politischen Organisationen sehr schlecht aufgenommen. Das würde erklären, zum Teil dank der Wahlkampfdemagogie, warum sie weit von der Macht entfernt sind. Was würden sie tun, wenn sie in der Regierung wären? Hinzu kommt die Tatsache, dass die neue Partei zusammengesetzt ist aus Menschen aus der Zivilgesellschaft, Militanten, die an den jüngsten Kämpfen beteiligt waren, und Nachbarschaftsaktivist:innen. Es ist eine Partei, die motiviert ist durch das starke Gefühl des sozialen Konfliktes, der die letzten Jahre in Frankreich am Werk ist. Aber selbst in Anbetracht der Abscheu junger Menschen gegenüber der Politik, ist es wahrscheinlich, dass diese Haltung im Zuge der nächsten Wahlen belohnt werden wird. Auch die Gewerkschaften waren vorsichtig mit ihren Reaktionen. Die größten (CFDT, CGT) und die eher kämpferischen (SUD) verurteilten die Jugend nicht; sie versuchten vorsichtig Verbindungen zwischen ihrer Revolte und der allgemeinen sozialen Situation aufzubauen.

Eine kurze soziologische Information regt zum Nachdenken an: Ein Vergleich der Schauplätze der Revolte mit den Demonstrationen gegen die Renten-»Reform« zeigt eine Überschneidung, vor allem in kleinen provinziellen Städten. Wir können zumindest daraus schließen, dass die Atmosphäre der sozialen Revolte, die aktuell tief in der französischen Gesellschaft verwurzelt ist, die jungen Menschen erreicht hat, die aus dieser ausgeschlossen sind. Ihr Bedürfnis, gegen soziale Ungerechtigkeit zu kämpfen, gegen Ungerechtigkeit im Allgemeinen, ist eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Wie die Anerkennung dessen, dass die Regierung lügt und dass wir nicht erwarten können, dass sie die Situation der schwächsten Teile der Gesellschaft verbessern wird. Wir sollten nicht vergessen, dass die jüngsten Kämpfe der Gilets Jaunes und ihr aufständischer Geist weiterhin am Leben sind. Alles ist da: Alles ist gegenwärtig, im Gedächtnis des Moments.

Wir werden sehen, was als Nächstes kommt, im Guten wie im Schlechten. Die allgemeine Situation wird sich nicht stabilisieren, die arbeitende Klasse wird zunehmend unter Austerität leiden, der Ausschluss der Jugend wird sich fortsetzen und sogar verschärfen. Die Formen der politischen Repräsentation werden sich weiter selbst diskreditieren, die parlamentarische Demokratie wird noch autoritärere Formen annehmen, andere Ereignisse, Bewegungen, Kämpfe werden kommen. Die Geschichte geht weiter.

  • 1. Charles Reeve, »Neue antikapitalistische Energie gegen den alten Liberalismus – Brief aus Paris«.
  • 2. Im Jahr 2005 kam es am 27. Oktober in den französischen Banlieues zu Aufständen, nachdem zwei Jugendliche bei dem Versuch, einer Polizeistreife zu entkommen, in einer Stromanlage durch einen Stromschlag ums Leben kamen.
  • 3. Der Bürgermeister von Grigny, L'Humanité, 30. Juni 2023.
  • 4. Zahlen des französischen Innenministeriums, 5. Juli 2023.
  • 5. Edgar Morin, »La crise française doit être située dans la complexité d’une polycrise mondiale«, Le Monde, 29. Juli 2023.