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Die Zerstörung der Bahn und die Rolle von Privatunternehmen

Die Zerstörung der Bahn und die Rolle von Privatunternehmen

09. Dezember 2023
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Von Februar bis August 2023 verhandelte die Eisenbahngewerkschaft EVG mit der Deutschen Bahn über einen neuen Tarifvertrag. Die EVG forderte 650 Euro monatliche Lohnerhöhung bei zwölfmonatiger Laufzeit; sie organisierte zwei kurze Warnstreiks. Den dritten, der für Mitte Mai geplant war und 50 Stunden dauern sollte, hat das Frankfurter Arbeitsgericht nach einem Eilantrag der DB-Bosse verboten. Die Bahn wollte zu dem Zeitpunkt nur 400 Euro bei 27monatiger Laufzeit geben. Das Streikverbot war möglich, weil eine von der DB beauftragte Anwaltskanzlei rausgefunden hatte, dass die EVG einen der vielen Tarifverträge, auf die sich die Forderungen bezogen, nicht gekündigt hatte – und damit noch der Friedenspflicht unterlag. Hätte die EVG trotzdem gestreikt, wäre sie für die Folgen des Streiks schadenersatzpflichtig gewesen. So hatten die DB-Bosse wertvolle Zeit gewonnen – sie spekulierten, dass mit den näher rückenden Sommerferien die Bahnfahrenden weniger Verständnis für einen weiteren EVG-Streik aufbringen würden. Das funktionierte – Ende Juni ließ sich die EVG auf ein »Schlichtungsverfahren« ein.

Hinter der Phrase der »Vertraulichkeit« verhandelten im Hinterzimmer eine Juristin für die EVG und der ehemalige CDU-Innen- und Verteidigungsminister Thomas de Maizière für die Unternehmer. Heraus kam ein »neues« Angebot: 200 Euro monatlich mehr zum Dezember 2023, 210 Euro zum August 2024 und 25 Monate Laufzeit plus 2850 Euro abgabenfreie »Inflationsausgleichsprämie«. Die EVG animierte ihre Mitglieder, für den »Kompromiss« zu stimmen – in einer Urabstimmung, wo 25 Prozent Ja-Stimmen für die Annahme reichen. Selbst die EVG war überrascht, dass 52,3 Prozent dafür stimmten.

In der letzten Wildcat hatten wir noch gehofft, dass die EisenbahnerInnen aus den Hafen-Mobilisierungen Schlüsse ziehen – aber es lief dann ähnlich ab. Was bleibt, sind die berühmten Berichte über »Wut an der Basis«, Gewerkschaftsaustritte von enttäuschten Mitgliedern und der Blick auf die ­nächste Auseinandersetzung. Die Verhandlungen der (deutlich kleineren) Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer GdL laufen gerade, die Friedenspflicht endet am 31. Oktober 2023. Aufgrund des Tarifeinheitsgesetzes gilt bei der DB der Tarifvertrag der Gewerkschaft, die im jeweiligen Betrieb die meisten Mitglieder hat. 282 der 300 Betriebe unterliegen der EVG, 18 der GdL. Die GdL versucht, mit besseren Tarifverträgen EVG-Mitglieder abzuwerben.

Im Folgenden zeigen wir, wie das Eisenbahnsystem in Deutschland auf den aktuellen historischen Tiefpunkt zugesteuert ist.

Schon lange vor der »Klimakrise« wurde mehr Geld in Autobahnen gesteckt als in Schienen. In den letzten 30 Jahren wurden 2700 Schienenkilometer abgebaut (mehr als zehn Prozent) und 270 Bahnhöfe geschlossen – während 2000 Autobahn-Kilometer neu gebaut wurden (plus 18 Prozent). Es scheint in der Entwicklung nur eine Konstante zu geben: Je intensiver darüber geredet wird, dass mehr Verkehr auf die Schiene müsse, umso schlimmer wird es. Kaum jemand, der regelmäßig mit der Bahn zu tun hat, würde sich wundern, wenn sie demnächst einfach komplett den Verkehr einstellt. Das hat eine lange Vorgeschichte.

Historische Besonderheit: die Teilung

Bis auf die kurze Aufbauphase in den 1950er Jahren war die Bahn im Westen immer strukturell unterfinanziert. Das geht einher mit der massiven Subventionierung des individuellen und des öffentlichen Automobilverkehrs auf allen Ebenen: Vom geforderten und geförderten Leitbild der autogerechten Stadt mit getrennten Wohn-, Einkaufs- und Arbeitsdistrikten (Ausweisung von Industrie-, Gewerbe- und Wohngebieten), dem bis heute anhaltenden Ausbau der entsprechenden Straßeninfrastruktur bis hin zur direkten Subventionierung der Autohersteller.

Der Marktanteil der Bundesbahn am Personenverkehr halbierte sich von 1950 bis 1970 in etwa alle zehn Jahre (37 Prozent 1950, 17 Prozent 1960, neun Prozent 1970). Danach schrumpfte er weiter auf sieben Prozent 1980 und schließlich sechs Prozent im Jahr der Wiedervereinigung 1990. Auch im Güterverkehr verlor die Schiene beständig: von 56 Prozent 1950 auf 37 Prozent 1960 und nur noch 21 Prozent 1990. Einen großen Teil des verbliebenen Transportaufkommens machen Massen- und Schüttgüter aus wie Öl, Erz und Kohle. Gleichzeitig stieg aber das Transportvolumen insgesamt gewaltig an (s. Artikel zu Gräfenhausen auf S. 18).

In den 1980er Jahren startete der Versuch, zunächst mit der Schnellfahrstrecke Hannover - Würzburg, dem französischen Modell des TGV zu folgen und dem Flugzeug mit einem Schnellzugnetz (Geschwindigkeiten von 160 bis 300 km/h) Konkurrenz zu machen. Hier sollten vor allem Punkt-zu-Punkt-Verbindungen zwischen Metropolen entstehen. Das hatte auf einigen Strecken durchaus Erfolg, z. B. Hamburg – Berlin und (seit ein paar Jahren) Berlin – München. Zum ersten Mal wurde wieder in die Infrastruktur der Bahn investiert. Allerdings waren die Kosten dieser Leuchtturmprojekte enorm. Oft wurden sie aus politischen Gründen (Bahnhof in der Landeshauptstadt o. ä.) ­besonders teuer geplant, mit vielen Tunneln und Brücken, obwohl es oft bessere Streckenführungen gegeben hätte.

Die real-sozialistischen Staaten setzten auf die Bahn. In der DDR konnte die Reichsbahn bis zur Wende im Personenverkehr einen Anteil von über 40 Prozent halten. Es gab verhältnismäßig große Anstrengungen, das Netz zu elektrifizieren und allgemein auszubauen. In den 1980ern wurden 77 Prozent des Güterverkehrs auf der Schiene abgewickelt, und es gab den Plan, bis zum Jahr 2000 auf über 90 Prozent zu kommen. Es war vorgeschrieben, dass Güter ab 50 Kilometer Entfernung auf die Schiene müssen, wenn Versender und Empfänger einen Gleisanschluss haben. Ab 1981 galt die Vorschrift sogar bereits ab zehn Kilometern. Das Bahn-Netz war dicht gewebt, aber in keinem besonders guten Zustand. Ausbau und Erhalt fanden unter den Bedingungen des Materialmangels statt und waren teilweise wenig nachhaltig. Die Brücken und viele Schwellen des neuen Berliner Außenrings, einer der wichtigsten Infrastrukturmaßnahmen der DDR, mussten nach der Wende ersetzt werden, weil mit günstigeren Zutaten beim Beton experimentiert worden war und dieser schnell bröckelte. Und wenn ein Bahnhof mit modernen Lichtsignalen ausgestattet wurde, blieb die Arbeit der Fahrdienstleiter oft dieselbe, weil auf die alten mechanischen Stellwerke praktisch nur elektrische Kontakte geflanscht wurden. Der Betrieb blieb somit personalintensiv. In Bahnhöfen, in denen heute kein Bahnbeschäftigter mehr vor Ort ist, haben zu Ostzeiten sechs bis neun Leute in Zwei- oder Dreischicht gearbeitet.

In der DDR gab es kein Berufsbeamtentum. Auch die Bahner waren – anders als im Westen – keine Beamten. Ihre Arbeitsbedingungen waren hart und gefährlich. Der Druck, vor allem bei der Zugvorbereitung und beim Verladen, war relativ hoch. Bei »Vergehen« aller Art gab es Lohnabzug – das konnte eine nicht getragene Uniform-Mütze sein, bis hin zu Verspätungen von wichtigen Zügen.

Die Privatisierung

Nach der Wende wurde die Reichsbahn innerhalb weniger Jahre auf das westdeutsche Niveau geschrumpft. Der Marktanteil der Reichsbahn sank schon 1990 auf 41, im Personenverkehr auf 14 Prozent. Dazu kam eine insgesamt gesunkene Transportleistung durch den Einbruch der ostdeutschen wie osteuropäischen Industrie. Es wurden Sozialpläne verabschiedet, was aber bedeutete, dass alle jungen Kollegen gehen mussten und über 30 Jahre kaum noch ausgebildet wurde. Dadurch ist die ­Belegschaft der Bahn heute stark überaltert.

Jedem Kollegen mussten vor seiner betrieblichen Kündigung drei Jobangebote gemacht werden. Diese wurden mit Absicht unattraktiv gestaltet. Bis in die 2010er Jahre herrschte in den ostdeutschen Betriebsstellen ein extrem raues Klima. Gruppenleiter verteilten wegen jeder Kleinigkeit Abmahnungen, viele Kollegen reden von massivem Mobbing und hassen die DB als Arbeitgeber aus tiefstem Herzen. Die Renitenz der GDL wurzelt in dieser Erfahrung der ostdeutschen EisenbahnerInnen. Ostdeutsche Kollegen, die nach der Wende in den Westen gegangen sind, machen Witze über die westdeutsche Bundesbahn, die als »Beamtenbahn« sozialistischer als die gesamte DDR gewesen sei. Das Klima in westdeutschen Betriebsstellen wird bis ­heute als entspannter als im Osten beschrieben.

Der Erhalt und die Modernisierung des Schienennetzes wurden in beiden deutschen Staaten vernachlässigt. Im Osten wurde die Bahn, wie die gesamte Wirtschaft, auf Verschleiß gefahren, im Westen mit Absicht geschrumpft. Der Investitionsstau bei Zügen, Bahnhöfen und Gleisanlagen wurde bis zur Wiedervereinigung immer größer, allein bei der völlig maroden Reichsbahn wurde er zur Wendezeit auf weit über 100 Milliarden Euro veranschlagt. Das Netz der Bundesbahn war zwischen 1949 und 1989 um ein Zehntel auf 27 000 Kilometer, die Belegschaft von 539 000 auf 255 000 geschrumpft. Die ostdeutsche Reichsbahn hatte 1990 noch fast ebenso viel Personal – aber den Schrumpfungsprozess beim Netz erst noch vor sich. Nach einem Bericht der »Regierungskommission Bundesbahn« von 1992 waren beide Bahnen faktisch überschuldet und handelsrechtlich sogar insolvent, was aber in den Bilanzen durch überbewertete Anlagen – vor allem der Bahn-Immobilien – kaschiert worden sei.

Zum 1. Januar 1994 wurden die beiden Staatsbahnen zur privatrechtlich organisierten Deutsche Bahn AG fusioniert. Durch den Druck der EU, den Wettbewerb auf der Schiene zu ermöglichen, wurde die Deutsche Bahn AG 1999 in eine Holding umgewandelt, indem einzelne Tochteraktiengesellschaften für den Fernverkehr, Güterverkehr, das Eisenbahnnetz, die Energieversorgung, die Ausbildung, die Personenbahnhöfe, die Bahn-Immobilien und nicht zuletzt fünf regionale AGs für den Nahverkehr gegründet wurden. Ursprünglich war geplant, die Dachholding aufzulösen und die Tochtergesellschaften einzeln zu privatisieren. Gleichzeitig kaufte sich die Bahn in alle möglichen Logistiksparten im In- und Ausland ein, was zu einem unübersichtlichen Konstrukt an AGs unter dem Dach der DB-Holding mit extrem aufgeblähten Verwaltungsstrukturen geführt hat.

Die Börsengänge wurden mehrfach abgesagt. Endgültig gestorben waren sie 2009, als unter dem Spardruck bei der Berliner S-Bahn der Betrieb zusammenbrach und die Finanzkrise ihren Höhepunkt erreicht hatte.

Neben dem rigiden Sparkurs und der weiter bestehenden Unterfinanzierung der Schiene war diese Aufsplittung einer der härtesten Schläge für die Bahn. Wo sich früher alle Sparten einen gemeinsamen Lok-, Wagen- und Personalpool geteilt haben, hat jetzt jede Teil-AG der Bahn ihre eigene Infrastruktur und ihr eigenes Personal. So hat man ein strukturell unflexibles System noch unflexibler und vor allem unzuverlässiger gemacht.

Ebenso ging die Entwicklung weiter, das Schnellzugnetz auszubauen und abseits großer Metropolen das Netz und die Verbindungen auszudünnen. Viele mittelgroße Städte wurden vom Fernverkehrsnetz abgehängt. Während sich für viele Milliarden die Tunnelbohrmaschinen weiter durch die deutschen Mittelgebirge frästen, blieben fast alle Grenzbahnhöfe Richtung Osteuropa ohne Oberleitungen und Strecken wie Uelzen – Stendal eingleisig, obwohl sie auch für den Güterverkehr extrem nützlich wären. Dazu kam das Einsparen von immer mehr Ausweichgleisen, Weichen und Bahnhöfen. Noch mehr wurde an Werksanschlüssen gespart. Durch die starke Ausdünnung des Netzes in der Fläche haben Menschen außerhalb der Metropolen oft Schwierigkeiten, mit der Bahn überhaupt zum Schnellzug-Bahnhof zu kommen. Trotz immer schnellerer Züge sind wegen längeren Umstiegszeiten und komplizierten Verbindungen die Bahnverbindungen für die meisten Menschen in Deutschland langsamer geworden.

Dieser Rückbau geht immer noch weiter – der Höhepunkt ist Stuttgart 21. Hier wird für wenige Minuten Fahrzeitgewinn auf den Schnellstrecken und ein paar Immobilien-Flächen die Funktionsfähigkeit des Regionalverkehrs einer ganzen ­Region aufs Spiel gesetzt.

Wo früher überall Leute waren, die eingreifen oder einen Notbetrieb organisieren konnten, müssen heute – z. B. fürs Schneeräumen – kompliziert Fremdfirmen angeworben werden. Diese sind dann oft gar nicht oder schlecht eingewiesen, was zu Unfällen führt. Fahrdienstleiter sind nicht mehr vor Ort in den Stellwerken, sondern in riesigen, zentralen Leitstellen. Durch Automatisierung und Zentralisierung wurden die Fahrdienstleiter massiv reduziert, ihre Arbeit ist stark verdichtet, jeder ist für mehrere Bahnhöfe zuständig. Dabei steigt aber auch ihre Macht – das hat der im Mai 2023 geplante Warnstreik der EVG wieder gezeigt: Während die DB bei den Streiks der Lokführer zumindest ein Rumpfangebot aufrechtzuerhalten versuchte, hat sie bei der Streikandrohung der Fahrdienstleiter präventiv den Betrieb für den ganzen Tag eingestellt. Hier können schon wenige Streikende das ganze System – deutschlandweit und darüber hinaus – zum Erliegen bringen. Im Verhältnis dazu verdienen sie schlecht. Sie haben ihre Macht bisher nicht wirklich eingesetzt.

Die privaten Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU)

Die EU hat ähnliche Prozesse wie in Deutschland europaweit durchgesetzt. Grundsätzlich müssen alle staatlichen Leistungen, auch der Bahnverkehr, weltweit ausgeschrieben werden.

Zu den angekündigten massenhaften privaten Investitionen in den Bahnverkehr ist es dabei nicht gekommen. Die meisten sogenannten »privaten Eisenbahnverkehrsunternehmen« (EVU) gehören ausländischen Staatsbahnen, die sich jeweils in den anderen Ländern über deregulierte Tochterfirmen Konkurrenz machen. Einige sind auch aus kommunalen Betrieben wie Hafenbahnen oder anderen kleinen Bahninfrastrukturbetreibern hervorgegangen, die in einem Industriegebiet (Stahlwerks- oder Bergwerksbahnen) den Bahnverkehr auf eigener Infrastruktur betreiben und dann ab den 1990ern bundesweit expandiert sind. Andere sind sogar Ausgründungen der DB selbst, die andere DB-Betriebe bzw. vor allem die ArbeiterInnen, unter Konkurrenzdruck setzen.

Die meisten EVU, vor allem die wirklich »privaten«, sind in der Personalvermittlung tätig. Weil zu wenig ausgebildet wurde, während der Güterverkehr insgesamt zunahm – vor allem zwischen den großen europäischen Häfen (Rotterdam, Hamburg, Genua) und dem europäischen Binnenland – entstand im Westen schnell ein Mangel an Lokführern. Hier sprangen kleine Personalvermittlungen ein, oft gegründet von entlassenen ostdeutschen Lokführern, die mal als einfache Leiharbeitsklitsche, mal als EVU organisiert sind. Über Leiharbeit bzw. Werkverträge ließen sie die überzähligen ostdeutschen Lokführer im Westen fahren. Für die Arbeiter ist das deshalb attraktiv, weil sie somit nicht umziehen mussten. Das Geschäftsmodell gerät allerdings zunehmend an seine Grenzen und wird spätestens mit der in zehn Jahren abgeschlossenen Verrentungswelle auslaufen.

Seit dem erfolgreichen Streik der GdL 2011 und den folgenden Kämpfen ist der Lohndruck auf die Lokführer durch die privaten Firmen praktisch verschwunden. Es gibt einen Manteltarifvertrag, die Bezahlung ist überall in etwa gleich. Der Grundlohn bei der DB-Tochter MEV ist sogar fast 200 Euro höher als bei der DB. Als die ODEG (Ostdeutsche Eisenbahngesellschaft; gehört je zur Hälfte Trenitalia und den Hamburger Hochbahnen) vor zehn Jahren versuchte, der DB in Berlin über geringere Löhne durch niedrigere Einstufung der Lokführer Konkurrenz zu machen, gewann sie zwar die Ausschreibung, musste dann aber Lokführer bei der DB mieten, um die versprochenen Linien überhaupt bedienen zu können.

Deutlich schlechter als bei der DB sind bei den »Privaten« die Arbeitsbedingungen der Lokführer im Güterverkehr. Sie haben längere Arbeitstage, arbeiten weiter von zu Hause entfernt und sind länger unterwegs. Sie haben praktisch keine soziale Infrastruktur an den Bahnhöfen, keine Pausenräume, keine Klos, keine Büros, somit kaum Treffpunkte mit Kollegen. Weil sie praktisch auf Montage arbeiten und meist eh nach der Schicht nicht mehr nach Hause kommen, haben die meisten auch kein besonderes Interesse, kürzere Schichten zu arbeiten. Bei den privaten Güterverkehr-EVUs werden die Grenzen des EU-Arbeitszeitgesetzes (14 Stunden Schichtzeit, davon maximal zehn Stunden Arbeitszeit) oft erreicht und oft überschritten.

Im Personenverkehr ist es anders: Hier versuchen vor allem kleine regional tätige Anbieter (was nicht heißt, dass sie nicht Tochterfirma einer großen Staatsbahn sind) immer noch über niedrigere Löhne der DB Konkurrenz zu machen. Doch die Arbeitsbedingungen ähneln sich mehr.

Seit etwa 2005 ist die Situation auf dem Arbeitsmarkt gekippt. Lokführer wurde endgültig zum Mangelberuf, und auch in allen anderen Bereichen fehlen Leute. So werden die Bedingungen zum einen durch die Streiks bei der DB besser, deren Lohnabschlüsse meist mit etwa einem Jahr Verzögerung ohne weitere Kämpfe von den Privaten übernommen werden. Zum anderen stimmen die Kollegen mit den Füßen ab und gehen, wenn es ihnen nicht mehr passt. Viele handeln kleine Deals mit den Personalplanern aus, um den Job irgendwie an ihr restliches Leben anzupassen. Funktionieren diese nicht mehr, sind sie weg. Die Fluktuation in den Belegschaften der privaten EVUs ist groß, aber auch die Belegschaften von Zeitarbeitsfirmen wachsen oft stark und schrumpfen innerhalb von wenigen Jahren wieder um die Hälfte.

Im Zuge dessen hat der Druck von Disponenten und Personalplanern, die Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes zu überschreiten, stark abgenommen. Die Hotels wurden besser, Taxifahrten auch zu weniger entlegenen Einsatzorten selbstverständlich. Die schlimmsten Klitschen haben dicht gemacht oder ihre Bedingungen stark verbessert.

Durch die hohe Fluktuation und die fehlenden Treffpunkte ist die Individualisierung – nicht nur bei den Lokführern – stark gestiegen. Die Zusammenarbeit wird immer mehr über Disponenten vermittelt, der kurze Dienstweg wurde in vielen Bereichen praktisch abgeschafft. Seit der Aufspaltung der DB gilt dies auch für den Staatskonzern selbst, allerdings wurde hier die schlechte Angewohnheit, sich für jeden Handgriff Rechnungen zwischen den verschiedenen DB AGs zu schreiben, lange von unten boykottiert: Ein großer Teil des überbordenden Wasserkopfs der verschiedenen DB-AGs beschäftigt sich mit nichts anderem, als sich gegenseitig Rechnungen zu schreiben und dadurch wenigstens die Illusion der Kontrolle darüber aufrechtzuerhalten, was die ArbeiterInnen den lieben langen Tag so treiben.

Die Solidarität funktioniert trotzdem – auch über Firmengrenzen hinweg, bis hin zur Bahnsteigreinigung. Trotz (und wegen!) der Isolierung sind alle bemüht, sich zu helfen. Die berufsständische Arroganz z. B. von Lokführern gegenüber Rangierern hat stark abgenommen. Es steigt eher das Bewusstsein, dass alle gebraucht werden.

Ausblick

Wie bei jeder Zentralisierung und Automatisierung von Arbeitsschritten wird der Ablauf unflexibler. Neben den oben beschriebenen Problemen hat das im Falle der Fahrdienstleiter das Eisenbahnsystem an den Rand des Zusammenbruchs getrieben. Im Moment ist noch nicht absehbar, ob der flächendeckende Einsatz von Sensoren – was uns als »Digitalisierung der Schiene« verkauft wird – diese Zentralisierung wieder ausgleichen kann. Diese Sensoren müssten sehr zuverlässig sein, damit sie nicht mehr Arbeit produzieren, als sie einsparen sollen. Zudem ist überhaupt nicht absehbar, ob es genug ArbeiterInnen gibt, um sie einzubauen. Schon jetzt ist der Personalmangel im Gleisbau eines der stärksten Hemmnisse beim großen Sanierungsprogramm.

Die Fieberträume der DB-Vorstände, die Arbeit der Lokführer zu automatisieren, die immer dann gepuscht werden, wenn ein Lokführerstreik ansteht, sind technisch schon seit den 80er Jahren umsetzbar und funktionieren in lokal begrenzten Inselbetrieben wie der Nürnberger U-Bahn einwandfrei. In einem offenen und über ganz Deutschland verzweigten Netz der DB wäre es aber das Ende des Eisenbahnverkehrs: Jede Störung im System – ein paar Sensorfehler zu viel hier, ein etwas zu langer Übertragungsabriss dort – würde zu Komplettsperrungen von Strecken führen. Da der Lokführer oft die letzte qualifizierte Arbeitskraft in der Fläche ist, ist er zumindest in dieser Funktion unersetzlich. Am Ende muss er mit den Fehlern und Umwelt-Einflüssen umgehen, er ist das Backup, das es immer brauchen wird. Die Dequalifizierung durch eine weitgehende Digitalisierung hat jedoch schon längst stattgefunden: Wo früher Lokführer ihre Maschinen kennen mussten und immer auch Mechaniker waren, stehen sie heute vor versiegelten Schaltschränken, auf die per Ferndiagnose zugegriffen wird. Die meisten Störungen sind heute Computer- und Messfehler. Nur deswegen war es überhaupt möglich, die Ausbildung zum Lokführer auf zehn Monate zusammenzuschrumpfen.1

Im letzten Jahr wurde ein weiteres Mal Anlauf genommen, das letzte Potenzial der Automatisierung von Arbeit im Eisenbahnsystem zu heben. Die Automatische Kupplung könnte einen großen Teil der ArbeiterInnen im Bahnhof überflüssig machen, erst recht, wenn zusätzlich entsprechende elektronische Sensoren den Zustand der Wagen und Bremsen an die Lok melden. RangiererInnen und WagenmeisterInnen hätten wesentlich weniger zu tun. Sogar der Einzelwagenverkehr könnte wieder konkurrenzfähig werden, den die DB in den letzten Jahren nur noch wegen industriepolitischer Entscheidungen der Bundesregierung aufrechterhalten hat. Das ganze macht aber nur Sinn, wenn es in ganz Europa eingeführt wird. Daran ist das Projekt der Automatischen Kupplung schon einmal in den 70er Jahren gescheitert. Die verschiedenen Staatsbahnen in Europa konnten sich nicht über die Finanzierung einigen.

Sollte das Projekt erneut scheitern, würde der eh schon stark wachsende »kombinierte Verkehr« noch weiter gepuscht. Darunter versteht man den Transport von Containern, LKW-Aufliegern bzw. ganzen Trailern auf Zügen, die selten auseinander rangiert werden müssen. Gerade investiert die DB in Versuche, auch Schüttgüter über Containerplattformen zu transportieren. Der »kombinierte Verkehr« bleibt allerdings vom LKW abhängig und wird nur auf der Langstrecke zu etwas weniger LKW-Verkehr führen. Im Nahverkehr könnte um die wenigen zentralen Terminals herum die Belastung durch den Verkehr sogar steigen.

Egal welche strategischen Überlegungen in den letzten Jahren angestellt wurden und egal wie viel in die Digitalisierung der Eisenbahn investiert wurde – am Ende landet man immer wieder am selben Punkt: Das Netz müsste schneller saniert und ausgebaut werden, als es zusammenbricht. Nur dann könnte der Anteil der Schiene am zunehmenden Verkehr wieder steigen. Die dringend notwendige gesellschaftliche Diskussion, ob die weitere Zunahme des Verkehrs überhaupt sinnvoll ist, hat allerdings noch nicht mal angefangen.

 

Dieser Textes erschien erstmals im wildcat-Magazin.

  • 1. Die zehnmonatige Ausbildung betrifft nur Umschulungen für Quereinsteiger, die immer weiter zunehmen, um dem Personalmangel zu begegnen. Die normale und bei den Arbeitgebern bevorzugte Qualifikation bleibt fürs erste die dreijährige Ausbildung zum Eisenbahner im Betriebsdienst.