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Die französischen Streiks während des Ausnahmezustands

Die französischen Streiks während des Ausnahmezustands

02. Oktober 2021

Die folgenden Notizen zeichnen den längsten Generalstreik in der Geschichte Frankreichs nach. Sie sind zwischen Dezember 2019 und März 2020 entstanden, als ich als Sprachassistentin an der Sorbonne Bachelorstudent:innen in Englisch unterrichtete. Mittlerweile scheint der Streik, nachdem er unterbrochen und abgebrochen wurde, in ferner Vergangenheit zu liegen. Als die Maßnahmen gegen die Pandemie verkündet wurden, mussten Kurse und Prüfungen an den Universitäten auf Onlinebetrieb umstellen und die zuvor noch streikenden Arbeiter:innen standen vor dem Problem, wie sie die Student:innen am besten unterstützen konnten. Die meisten Arbeiter:innen erhielten ein „technisches Arbeitslosengeld“ in Höhe von etwa 80 Prozent ihres Lohns, aber viele derjenigen, die „von zu Hause“ arbeiteten, taten dies unter schwierigen und oft verschärften Arbeitsbedingungen. Wie in allen Ländern legte der Lockdown bereits bestehende Spaltungen offen und verschärfte sie noch: Während der Teil der Bevölkerung, der von zu Hause arbeiten konnte, sich einsperren musste, konnten Menschen ohne Papiere und Obdachlose dies nicht tun, und systemrelevante Arbeiter:innen mussten weiterhin unter gefährlichen Bedingungen ihrer Arbeit nachgehen. Obwohl die Streiks aus heutiger Perspektive wie unter einer Masse späterer Ereignisse begraben erscheinen, sind ihre Niederlage und die folgende Repression der Schlüssel zum Verständnis des aktuellen „État d'urgence sanitaire“ (Gesundheitsnotstands) mit seinen harten Lockdownmaßnahmen, deren polizeiliche Durchsetzung nicht alle gleichermaßen trifft.

SEPTEMBER

Als im September 2019 die Rentenreform angekündigt wurde, ließen die Beschäftigten der RATP (Betreiber des ÖPNV in Paris und Umland) andeutungsweise die Muskeln spielen und legte in einem eintägigen Streik alle nicht-automatisierten U-Bahnen still. Dadurch ließ sich abschätzen, wie viele cheminot.e.s (Lokführer:innen) sich an einem Streik im Dezember beteiligen würden. Er war zugleich eine erste Drohgebärde an die Regierung, mit der sich die Gewerkschaften für einen Kampf um eine Zurücknahme oder auch Reform der Reform in Stellung brachten. Mit der Rentenreform, die von einem politischen Urgestein aus der Chirac-Ära entworfen worden war, sollten alle unterschiedslos in dasselbe Rentensystem integriert werden. Staatsangestellte wie U-Bahn-Fahrer:innen, Rettungskräfte oder Polizist:innen profitierten bisher von Sonderregelungen. Für sie galt bislang ein niedrigeres Renteneintrittsalter als für die Arbeiter:innen im allgemeinen Rentensystem. Dies spiegelt einerseits den Status dieser Berufsgruppen wider, aber auch die Tatsache, dass sie besonderen Gefahren oder Risiken ausgesetzt sind. Lokführer:innen zum Beispiel haben wegen der Nachtarbeit, der körperlichen Anstrengung und der Umweltverschmutzung, der sie ausgesetzt sind, ein Renteneintrittsalter von 57 Jahren, während es für andere Arbeitnehmer:innen 64 Jahre beträgt. Für Ballerinen liegt es bei 42 Jahren, was noch auf Zeiten mit wesentlich niedrigerer Lebenserwartung zurückgeht. Die einzigen, denen Sonderregelungen erhalten bleiben sollten, waren Polizist:innen – also diejenigen, die gebraucht werden, um den Widerstand gegen die Reformen zu unterdrücken.

Durch die Überführung in das allgemeine System müssen diese Berufsgruppen deutlich länger arbeiten und werden dadurch wahrscheinlich auch noch eine geringere Lebenserwartung haben. Die Reform wird die Ausgaben für alle Renten auf 14 Prozent des Staatshaushalts drücken und ein Beitragssystem durch ein Punktesystem ersetzen, obwohl noch niemand weiß, was ein Punkt genau bedeuten wird. Es gibt keine Garantie, dass diese Punkte an die Lebenshaltungskosten oder die Inflation angepasst werden. Folglich schwanken sie (und die entsprechenden Rentenzahlungen) mit dem Staatsbudget, wie groß das auch immer sein mag. Früher wurde die Rente anhand der Hälfte des Monatsdurchschnitts der letzten sechs Monate Berufstätigkeit (öffentlicher Sektor) oder der 25 Jahren mit dem höchsten Verdienst (privater Sektor) berechnet. Das neue System berechnet einen Monatsdurchschnitt auf Basis der gesamten Erwerbsbiografie – inklusive Prekarität, Arbeitslosigkeit und Mutterschaftsurlaub. Der Durchschnitt wird niedriger ausfallen als im alten System. Frauen werden davon stärker betroffen sein als Männer. Außerhalb Frankreichs wurde die Rentenreform als eine Auseinandersetzung um das Renteneintrittsalter verstanden. Das trifft es jedoch gerade nicht, es ist perfider: Es geht vielmehr darum, dass die Menschen so viel Rente einbüßen werden (Grundschullehrer:innen 450 €/Monat, Lehrer:innen 650 €/Monat), dass sie länger arbeiten müssen.

Gleichzeitig kürzt Macron die Arbeitslosenhilfe und das Wohngeld. Dies ist möglicherweise die Konsequenz einer Strategie, die das alte Rentensystem einzig für die Polizei aufrechterhält. Neben dem Offensichtlichen, den Kosten und dem Staatshaushalt, geht es bei der Reform auch um Disziplinierung. Wie Grégoire Camayou in Die unregierbare Gesellschaft einige linke Ökonomen wiedergibt: „Solange allerdings soziale Sicherheitsnetze existierten, könne die Drohung mit dem Arbeitsplatzverlust nicht voll durchschlagen, da ‚die Existenz der Arbeitslosenversicherung den mit dem Entlassenwerden verbundenen Charakter einer ‚Strafe‘ abschwächt‘.“1 Die soziale Absicherung funktioniert in Frankreich nicht nach dem alten philanthropischen Modell wie in Großbritannien. Um es stark zu karikieren: Nach Ende des Zweiten Weltkriegs und des Vichy-Regimes setzte der bewaffnete kommunistische Widerstand den Staat, die Konzerne und die Industriellen, die alle mit den Nazis kollaboriert hatten, unter Druck und weigerte sich, die Waffen abzulegen, bevor nicht ein allgemeines Gesundheitssystem und ein Sozialstaat eingerichtet wurden. Diese Sozialleistungen und Arbeitnehmerrechte wurden durch die Arbeiterbewegung über Jahre hinweg mehr oder weniger gegen linke wie rechte Regierungen verteidigt, die sie Stück für Stück ausgehöhlt haben. In den letzten fünf Jahren gab es eine außergewöhnliche Welle gewerkschaftlichen und anderen Widerstands gegen die Reformen und Sparmaßnahmen der Regierung sowie eine außergewöhnliche und sich beschleunigende Militarisierung der Polizeirepression. Dieser Text geht nur auf einige Aspekte der gewaltsamen und anhaltenden Liberalisierung der Wirtschaft unter Hollande und Macron ein.

NOVEMBER

Am 18. November jährten sich zum ersten Mal die Proteste der Gilets Jaunes (Gelbwesten), die mittlerweile als Samstagsdemonstrationen institutionalisiert waren. Der Protest explodierte förmlich, Polizist:innen auf Motorrädern wirbelten mit gezücktem Schlagstock um die Ecken und zerlegten die Barrikaden, sie zerstreuten die Menge über ganz Paris, knüppelten sie zusammen und beschossen sie mit Tränengas.

Die Place d'Italie wurde auf Befehl des neuen Polizeipräfekten Didier Lallement abgeriegelt. Protestierende gossen Benzin in die Rinnsteine rund um den Park im Zentrum des Platzes, so dass ein Feuerring entstand. Es entwickelte sich ein sechsstündiger Kampf mit der Polizei und mit Feuerwehrleuten, die versuchten, die Brände zu löschen. Es war völlig unmöglich, in dieses Gebiet zu gelangen. Auch an anderen Stellen im Stadtzentrum wurden Brände gelegt und Boulevards blockiert. Im Einkaufszentrum Les Halles kam es zu einem Katz- und Mausspiel mit der Polizei, nachdem ein Aufruf der Gilets Jaunes, von Extinction Rebellion sowie anderen Umweltgruppen auf Twitter zirkulierte. Die Polizei, die Demonstrant:innen nicht mehr von Passant:innen auf Einkaufsbummel unterscheiden konnte, ging auf alle gleichermaßen los und feuerte Tränengas in die Kuppel des Einkaufszentrums hinauf. Der Ort schien plötzlich in denselben Zauber getaucht wie über das vorangegangene Jahr die Champs Elysées. Ein Polizeiwagen wurde umgeworfen. Im Laufe des Abends strömten von Les Halles und der benachbarten Fontaine des Inocents immer neue Manifs sauvages (Spontandemos) aus und kehrten wieder zurück. Dasselbe wiederholte sich die folgenden Samstage mit beeindruckenden nächtlichen Demonstrationen durch die Stadt, die sich der Polizei weitgehend entziehen konnten. Einmal verprügelten sich Zivilpolizist:innen sogar gegenseitig.

Ein paar Wochen zuvor hatte Extinction Rebellion zusammen mit anderen Gruppen, darunter den Gilets Jaunes und antirassistischen Community-Gruppen wie Comité Adama, das riesige Einkaufszentrum Italie 2 besetzt. Allerdings hatte Extinction Rebellion ohne Absprache mit den anderen Gruppen um 2 Uhr morgens „beschlossen, zu gehen“, weil es sich lediglich um eine „symbolische“ Besetzung handele. So lief es auch, als sie eine Woche lang alle Brücken im Stadtzentrum und den Verkehrsknotenpunkt Chatelet blockiert hatten. Wie sich herausstellte, kollaborierte Extinction Rebellion immer mit den Rathäusern: Sie entschieden gemeinsam mit der Stadt, wann eine Aktion beendet wurde. Da sie äußerst hierarchisch strukturiert sind, waren nie alle in ihre Pläne eingeweiht. Sie lieferten Leute der Festnahme aus und bauten auf Fußsoldaten, die sie sogar als „arrestables“ (Festnehmbare) bezeichnen. Die meiste Zeit verbrachten sie damit, antirassistische Tags wegzuwischen, die an schwarze Opfer von Polizeigewalt erinnern sollten, und verkauften das als „Säuberung“ der „Umwelt“. In meinen Augen repräsentierten sie die Restauration gegenüber den Gelbwesten: Sie gaben vor, Teil der Bewegung zu sein, und übernahmen teilweise ihr Auftreten und ihre Taktiken, in Wirklichkeit aber beteiligten sie sich an der Niederschlagung der Bewegung.

Am 8. November zündete sich der 22-jährige französisch-algerischer Student Anas K. aus politischen Motiven vor dem CROUS (dem staatlichen Stipendien- und Wohnungsbüro für Student:innen) in Lyon an. Er hatte sein zweites Studienjahr zum zweiten Mal nicht bestanden und damit seinen bescheidenen Lebensunterhalt von 450 Euro verloren. In einem Abschiedsbrief gab er Präsident Macron, dessen „sozialistischem“ Amtsvorgänger Hollande und Marine Le Pen (die Vorsitzende der faschistischen Oppositionspartei Rassemblement Nationale, früher Front National) die Schuld an seinem Tod. Er prangerte den Neoliberalismus an, der die Ungleichheit vergrößert, und den sich ausbreitenden Faschismus in Europa, der Ängste schürt. Seine Genoss:innen aus der Gewerkschaft rief er dazu auf, den Kampf weiterzuführen. Obwohl er schwere Verbrennungen an 90 Prozent seines Körper erlitt, überlebte er.

Die versuchte Selbsttötung von Anas K. löste landesweit eine Schockwelle unter Studierenden aus, da viele von ihnen unter extrem prekären Bedingungen und in Armut leben. Eine Kampagne mit dem Hashtag #LaPrecaritéTue (Die Prekarität tötet) wurde ins Leben gerufen. In Solidarität mit Anas K. kam es in verschiedenen Städten zu Demonstrationen, Sachbeschädigungen und anderen Aktionen von Studierenden.

Bei einer dieser #LaPrecaritéTue-Demonstrationen in Paris versammelte sich in eisiger Nacht eine Menschenmenge vor dem CROUS-Gebäude. Unter ihnen waren Gewerkschaftsmitglieder, Studierende – nicht zuletzt solche mit Migrationshintergrund – sowie Mütter von Student:innen, die sich das Leben genommen hatten. Die Demonstrierenden brachten die unter Macron verabschiedeten Reformen – Umstrukturierung des Bewerbungssystems für Gymnasien und Universitäten, Erhöhung der Studiengebühren für Nicht-EU-Ausländer:innen um 1000 Prozent im letzten Jahr – und die Arbeitsbedingungen der Studierenden mit der Tatsache in Zusammenhang, dass einige von ihnen während Gig-Economy-Jobs wie bei Deliveroo, mit denen sie sich das Studium finanzieren mussten, ihr Leben verloren haben. Die Menge zog daraufhin mit Bengalos los, rief Parolen gegen die „Mörder“, rannte durch das Quartier Latin und versuchte, den Campus der Sorbonne zu stürmen. Doch die riesigen schweren Türen blieben verschlossen.

Um diese Zeit verfielen die Universitäten in eine chaotische Hektik, weil sie in Erwartung des „Schwarzen Dezember“, wie er apokalyptisch genannt wurde, all ihre Termine umdisponieren mussten. Dieser „allgemeine und unbefristete“ Streik, zu dem die Transport- und Bildungsgewerkschaften aufgerufen hatten, sollte den öffentlichen Verkehr, also Metro und landesweiten Bahnverkehr, komplett lahmlegen. An den Pariser Universitäten wurden die Prüfungen in die letzten Novemberwochen vorverlegt, so dass einige Student:innen zehn Zwischenprüfungen innerhalb einer Woche ablegen mussten, manchmal mehrere pro Tag ohne Pause. Die Prüfungen hätten abgesagt werden müssen – die Vorbereitungszeit war zu knapp, und allen verursachten sie nur Stress und Widerwillen. Manche Dozent:innen ließen die Studierenden ohne wirkliche Prüfungen bestehen – ein Mathematikprofessor an der Sorbonne zum Beispiel ließ seine Student:innen 4 und 5 multiplizieren und gab ihnen dann für das Semester 20 von 20 Punkten.

DEZEMBER

Der Streik in Paris begann in der Nacht zum 4. Dezember mit wilden Stilllegungen wichtiger Metrolinien. Bei kaltem Nebel lief ich mit zwei meiner Kolleg:innen durch Paris und versuchte sie zu überreden, den nächsten Tag nicht zur Arbeit zu gehen. Am Tag darauf standen die Bahnen von zwölf der vierzehn Pariser Metrolinien (die beiden anderen sind automatisiert) sowie die Züge (der SNCF) in ganz Frankreich still.

Paris war paralysé, obwohl die Uberisierung der öffentlichen Verkehrsmittel – die zwischen Ost und West verkehrenden automatisierten U-Bahnen, Lime- und Bird-Scooter, Uber-Wagen, Mietfahrräder – zur Folge hatte, dass die Menschen ihr eigenes Recht missachteten, die Arbeit zu versäumen. Natürlich wurden Limes und Uber-Fahrrädern sabotiert – man muss nur den Barcode mit Kaugummi, Aufklebern oder Farbe unkenntlich machen –, auf Barrikaden verbrannt oder auf die Polizei geworfen. Die Fahrräder waren ohnehin durch Überbeanspruchung ramponiert. Sobald man eines zurückstellte, kamen einem oft schon zombiehafte Yuppies entgegen, die geifernd und nach Luft schnappend fragten, ob das Fahrrad denn noch funktioniere.

Arbeiter:innen aus dem Privatsektor können nicht so leicht streiken: Die versäumte Arbeit muss nachgeholt werden, Kellner:innen werden einfach nicht bezahlt. Einige Arbeiter:innen aus dem Dienstleistungssektor mussten für den Transport zum Arbeitsplatz das Doppelte ihres Nachtlohns zahlen. Depots wurden jeden Tag ab etwa 4 Uhr morgens von Arbeitern:innen blockiert, manchmal mit Hilfe von saisonalen Theaterarbeiter:innen, Gilets Jaunes und Gymnasiast:innen. Diese Streikposten griffen auch auf Gewalt zurück, die Polizei zog Studierende und Arbeiter:innen nach und nach heraus. Da der Streik reconductible war, also über seine Verlängerung abgestimmt werden konnte, wusste niemand, wie lange er dauern würde. Lokale Streikkomitees stimmten jeden Tag neu darüber ab. Dies bedeutet eine enorme Veränderung für die gewerkschaftliche Organisierung und die Autonomie der Basis und könnte das Monopol der Gewerkschaftsbosse auf die Ausrufung und Beendigung von Streiks zu Fall bringen. Führungskräfte der Metro und Verwaltungsangestellte taten ihr Möglichstes, um den Streik zu brechen und zumindest einen eingeschränkten Transport während der Hauptstoßzeiten zu gewährleisten.

Die Züge platzten aus allen Nähten, so dass man jeden Moment mit einem schrecklichen Unfall rechnete. Wir sind viel zu Fuß gegangen. Immer wieder sorgten Arbeiter:innen aus dem Energiesektor für Stromausfälle, und in Rathäusern und Regierungsgebäuden stellten sie den Strom gleich ganz ab. In einer Bar traf ich eine Konzertorganisatorin, die, weil die Straßen so verstopft waren, drei Stunden lang das Equipment (Verstärker, Tubas und andere Instrumente, Kabel) für ein geplantes Konzert quer durch Paris getragen hatte, damit die aus dem Ausland angereisten Musiker:innen auftreten konnten. Wir waren uns einig, dass sie das nicht zur Streikbrecherin machte.

In diesem Monat fanden auch etwa zweimal pro Woche große Demonstrationen statt. Die erste war die größte Demonstration seit den erfolgreichen Streiks von 1995 unter Chirac, den mächtigen Eisenbahner:innenstreiks, die sich ebenfalls an den Renten entzündet hatten. Anderthalb Millionen Menschen aus verschiedenen Berufsgruppen – Sanitäter:innen, Feuerwehrleute, Anwält:innen, Lehrer:innen, Bahnarbeiter:innen – demonstrierten am 5. Dezember in ganz Frankreich gegen die Reformen, allein in Paris waren es 250.000. Macron nannte sie ungeniert eine „elitäre“ Minderheit. Martinez, Chef des Gewerkschaftsbunds CGT, hielt ihm entgegen: „Dann finden Sie mal eine einzige politische Partei in Frankreich mit 1,5 Millionen Mitgliedern“. Macrons Partei, La République en Marche, die nur von einer Minderheit und vor allem aus Mangel an einer wirklichen linken Alternative sowie aus Angst vor Marine Le Pen gewählt wurde, kann sich zahlenmäßig nicht einmal entfernt damit messen.

Obwohl die Dezember-Demonstrationen riesig waren, ging von ihnen keine Gewalt aus, und meistens schafften sie es wegen der ungeheuren Masse an Teilnehmer:innen und der starken Polizeipräsenz kaum einmal, sich überhaupt in Bewegung zu setzen. Nachdem an einem wilden Gilets Jaunes-Samstag im März zwei Gebäude abgebrannt waren und das Restaurant Fouquet’s geplündert worden war, hatte zum 1. Mai 2019 Didier Lallement den Posten des Polizeipräfekten übernommen und seither die Polizeistrategie komplett umgestellt: Unter der Bezeichnung Brigade de Repression des Actions Violentes (BRAV, Brigade zur Niederschlagung von Gewalt, die brutalste Einheit weit und breit) hat Lallement die Voltigeurs (bewaffnete Polizist:innen auf Motorrädern) zurückgebracht, die in den 1980er Jahren nach dem Mord an dem jungen Studenten Malik Oussekine verboten worden waren. Während die französische Polizei zuvor stark zentralisiert war, hat Lallement außerdem eine dezentralisierte Polizei (eine „deleuzianische“, wie sie ein Freund nennt) im Stil des israelischen Militärs eingeführt, bei der kleine Polizeieinheiten befugt sind, selbstständige Entscheidungen zu treffen – eine direkte Antwort auf die beispiellose Mobilität und Stärke der Gilets Jaunes. Die Kluft zwischen der Gelbwesten-Bewegung, die seit November 2018 mit wenig bis gar keiner gewerkschaftlichen Unterstützung ihre Wut auf die Straße trug, und der Gewerkschaftsbewegung war nicht zu übersehen. Polizei und Gilets Jaunes haben sich durch gegenseitige Konfrontation in einer beeindruckenden Gewaltspirale aneinander geschult, während die Gewerkschaftsbewegung weit zurückblieb. Mit Sonderbewaffnung und Motorrädern im Mad-Max-Stil wirkte die Polizei 2020 auf der Höhe der Zeit, während die Gewerkschafter:innen selbst noch den Geldwesten von 2018 weit hinterherhinkten und auf dem Stand der Anfänge der Bewegung gegen das Arbeitsgesetz von François Hollande im Jahr 2016 steckengeblieben schienen.

Aus welchen Dinnerpartys, auf denen er sich seit der Chirac-Ära herumgetrieben hatte, Delevoye, der Mann hinter dem Rentenreformentwurf, auch hervorgekrochen war, bald nach Beginn der Streiks musste er schon wieder seine Sachen packen. Es stellte sich nämlich heraus, dass er CEO eines großen Lebensversicherers war und seine Rentenreform den französischen Markt für Lebensversicherungen öffnen würde. Laurent Pietraszewski, der als Personalchef einer Supermarktkette einmal eine Kassiererin wegen 80 Cent Fehlbetrag in der Kasse gefeuert hatte, übernahm. Dann änderte die Regierung in einer weiteren Offenbarung ihrer Schwäche die Strategie und übergab die Aufgabe an Premierminister Edouard Philippe. Das ist die übliche politische Strategie in Frankreich: Um Reformen durchzudrücken, schicken sie einen Sündenbock oder eine Marionette vor. In diesem Fall war das Fußvolk der Regierung so mickrig, dass sie sich selbst in die erste Reihe stellen musste. Kurz vor Ankündigung der Reformen hatte Black Rock, ein amerikanischer Konzern mit Beteiligungen an allen CAC 40-Unternehmen (französischer Aktienindex, vergleichbar mit dem DAX), Macron in einer öffentlichen Mitteilung ersucht, Renten zu drücken, um einen Markt für Lebensversicherungen zu schaffen.

Sogar die größte rechte Gewerkschaft in Frankreich, die CFDT, trat einen Tag lang in Streik. Nicht einmal François Hollande hatte es mit seinem sehr unpopulären Arbeitsgesetz geschafft, die Gesamtheit der Gewerkschaften gegen sich aufzubringen. Doch die CFDT verriet die Bewegung wieder einmal: Macron warf als Joker irgendetwas zum Renteneintrittsalter in die Runde und nahm es dann als „Zugeständnis“ wieder zurück. Viele Leute auf Facebook bejubelten die französischen Streiks und sprachen davon, sie hätten „gewonnen“ und „ihre Forderungen durchgesetzt“. Das ist absoluter Quatsch. Das Zugeständnis Macrons war für die streikenden Arbeiter:innen – abgesehen von der CFDT – schlicht irrelevant.

Als nächstes verrieten die anderen Gewerkschaftsbosse den Streik, indem sie einen „Kompromiss“ für die Weihnachtszeit ankündigten, damit die Leute nach Hause zu ihren Familien fahren könnten. Die Basis der RATP und der SNCF weigerte sich aber und setzte den Streik in beeindruckender Manier auch über Weihnachten fort.

Die Ballerinen und Musiker:innen der Opéra de Paris schlossen sich dem Streik an und führten beim Streikposten auf den Stufen der Oper Schwanensee auf. Vor einem Streikbanner rafften und falteten sie ihre in Tutus gekleideten Körper, die von lebenslanger Arbeit, oft schon ab dem Alter von 8 Jahren, zugrunde gerichtet sind. Es war ein „historischer“ Moment. Ballerinen haben einen ganz besonderen Arbeitsstatus, der auf die Zeit unter Ludwig XVI. zurückgeht. Sie werden in ein Leben in Tanzkonservatorien hineingedrängt, wo sie massivem Raubbau an ihren Körpern und ganz besonders ihren Füßen ausgesetzt sind. Zwischen den Auftritten verschwinden sie hinter verschlossenen Türen, und mit 42 Jahren werden sie pensioniert. Dieses jugendliche Renteneintrittsalter hat sich seit Ludwig XVI. nicht geändert und spiegelt noch die damalige Lebenserwartung von etwa 48 Jahren wider. Durch den Streik aus ihrem Arbeitsrhythmus gerissen, drehten sie durch und stürzten komplett ab. Eine Freundin von mir, J., hat mit einigen von ihnen Silvester verbracht: mit wilden Blicken, zugedröhnt und ekstatisch.

Über 70.000 Anwält:innen in ganz Frankreich warfen ihre Roben ab und verweigerten die Arbeit. Feuerwehrleute kämpften bereits seit September in ihren Masken und Uniformen mit der Polizei. Ihnen ging es zusätzlich um Forderungen, die nichts mit der Rente zu tun hatten. Die einen Feuerwehrleute löschten Brände, die Demonstrant:innen gelegt hatten. Die anderen legten selber welche und warfen Tränengasgranaten zurück. Dies sorgte für Verwirrung über das Verhältnis der Feuerwehr zur Polizei, aber eigentlich ist es ganz einfach: Die Feuerwehrleute aus dem Pariser Zentrum gehören der Militär-Feuerwehr an und arbeiten eng mit der CRS (Bereitschaftspolizei) zusammen. Die Feuerwehrleute, die die Polizei konfrontierten, arbeiten in den Vororten. Sie streikten, weil sie ihr Job zu allem Möglichen zwingt, was völlig außerhalb ihres Arbeitsvertrags liegt.

Ballerinen und Orchester tanzten und spielten weiter.

JANUAR

Anfang 2020 war der Generalstreik nicht nur zum größten seit 1995, sondern auch zum längsten seit 1968 geworden. Die cheminot.e.s streikten noch bis weit in die zweite Januarwoche hinein. Dann setzte der Niedergang ein. Mittlerweile befanden sich die Arbeiter:innen 52 Tage ununterbrochen im Ausstand und hatten ihre gesamten Gehälter verloren. Familien mit zwei streikenden Familienmitgliedern bekamen das deutlich zu spüren. Die Streikkasse füllte sich nicht ausreichend, obwohl Student:innen, Gewerkschafter:innen und Queers in ganz Paris Soli-Partys organisierten. Nun begann ein Teilstreik. So wartete man beispielsweise in der Linie 7 auf die zwei Minuten entfernte Bahn, die dann plötzlich einfach von der Anzeigetafel verschwand. Die Arbeiter:innen verlangsamten den Betrieb eigenmächtig („grèves du zèle“, Bummelstreiks) oder führten periodisch unangekündigte Streiks durch („grèves perlées“, „geperlte“ Streiks). Ende Januar wurde eine weitere Maßnahme angekündigt: Die RATP zahlte Arbeiter:innen, die den Streik gebrochen hatten, eine Prämie von 1.500 €. Einige streikende Arbeiter:innen erhielten zudem negative Gehälter, weil sie trotzdem noch Steuern zahlen mussten.

Die Universität von Nanterre hatte für Januar mit einem Ende des Transportstreiks gerechnet und alle Prüfungen in die Wiederholungswoche vor Semesterbeginn gelegt. Da der Streik aber weiterging, entschied der Präsident, dass die Student:innen ja in der Turnhalle schlafen und auf Duschmöglichkeiten verzichten oder sich auf eigene Kosten Hotelzimmer oder Uber nehmen konnten. Wer bei den Prüfungen fehlte, bekam null Punkte. Mehrere Institute streikten aus Empörung darüber, dass Prüfungen unter diesen Bedingungen abgehalten und Studierende gegen Streikende ausgespielt wurden.

Nachdem ich gesehen hatte, wie schwierig die Organisierung von Arbeiter:innen aus anderen Ländern mit wenig Streikkultur war, gründete ich mit meiner Freundin Jess, die in Nanterre denselben Job machte wie ich in Paris, die Gruppe LectXs en Lutte. Wir diskutierten über die spezifische Prekarität nicht-französischer Arbeiter:innen (oft kommen sie aus noch neoliberaleren Ländern und ihre Visa sind an Arbeitsverträge gebunden) und über die Gründe, aus denen sie so oft gegen Streiks mobilisiert werden (über das, was im Land passiert, und über ihre Rechte werden sie von einem dazwischengeschalteten englischsprachigen oder sonst einem Mittelmanager „aufgeklärt“).

Als ich im Januar widerwillig zur Arbeit zurückkehrte, sprudelten die Kursräume über vor gut artikulierter Kritik an den Studienbedingungen. Ich drängte meine Student:innen, sich am Streik zu beteiligen, und wann immer ich zur Arbeit ging, sprach ich im Unterricht ausschließlich über Streiks, Reformen und Feminismus. Ich versprach ihnen, dass sie für meine Kurse in jedem Fall 20 von 20 Punkten bekämen, so dass ich einige Male vor leeren Kursräumen stand. Vielleicht war ich auch zu überschwänglich, schließlich war es das erste Mal, dass ich einen Job hatte, in dem ich streiken konnte. Ich wollte meine Student:innen von schlechten Prüfungsbedingungen und Notendruck entlasten und ihnen die nötige Zeit geben, um ihren eigenen Streik zu organisieren. Ich wollte auch nicht, dass sie sieben Stunden lang Schlange stehen müssen, um mit der Verwaltung über eine Änderung der Kurszeiten zu sprechen, weil diese mit ihrer Schicht als Kellnerin kollidieren, nur um dann gesagt zu bekommen, dass ihr Vertrag nicht zählt, weil er nicht unbefristet ist. Eine junge Frau fiel in der 7-Stunden-Warteschlange sogar in Ohnmacht.

An diesem Punkt war es ziemlich offensichtlich, dass als nächster Sektor die Universität den Generalstreik hätte unterstützen müssen – sie hatte die Macht, den Streik fortzuführen, so dass die cheminot.e.s schnell Geld verdienen und ihre Ressourcen wieder hätten auffüllen können. Eine weitere Reform, die LPPR, wurde angekündigt, die die Forschungsfinanzierung privatisieren wird, was zu weiterer Prekarität unter Wissenschaftler:innen führt und eine ganze Reihe unbefristeter Mitarbeiter:innenstellen abschafft. Die Universität wird so unterfinanziert, daher von privaten Interessen, die Einfluss auf die Forschung nehmen, abhängig und weiter prekarisiert und gespalten.

An den Pariser Universitäten hat das aber nur offenbart, was längst Realität war: 75 Prozent des Unterrichts wird von Précaires mit unterschiedlichem Status bestritten – Doktorand:innen, Befristeten wie mir, Vacataires (die stundenweise bezahlt werden und keine Sozialversicherung oder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erhalten), Forscher:innen. Die Titulaires, die Festangestellten der Universität, hatten ebenfalls genug Grund, in Streik zu treten. Sie sollten ihre Sonderrenten verlieren und wären ebenso von der Unsicherheit betroffen, die diese neoliberale Reform nach sich ziehen würde. Außerdem riskieren Titulaires beim Streiken dank ihres Status keine Lohnkürzungen und keine Nicht-Verlängerung ihres Vertrags, was andere Angestellte von offenen oder erklärten Streiks abhält. Zudem hatten sie vom mittlerweile abflachenden Transportstreik profitiert und keine Lohneinbußen hinnehmen müssen. Sie hätten ihre Gehälter an Streikfonds spenden können, um die cheminot.e.s dabei zu unterstützen, den Streik fortzusetzen. Doch das taten sie nicht, sondern überlegten hin und her, ob sie nun streiken sollten, stimmten dann für den Streik, arbeiteten aber letztlich trotzdem. Solange vollumfängliche Streiks nicht von den Titulaires angeführt werden, bleibt es für Prekäre und Student:innen schwierig, sich am Streik zu beteiligen.

Andere Sektoren traten in den Streik ein. Wir hatten gehofft, dass die Raffinerien ihre am 7. Januar begonnenen Blockaden aufrechterhalten würden, aber sie nahmen den Betrieb wieder auf. Ein Streik, der sowohl die öffentlichen Verkehrsmittel lahmlegt als auch die Benzinversorgung kappt, hätte enorme Sprengkraft entfaltet. Die Müllabfuhr streikte mehrere Wochen lang. Das hatte auch zur Folge, dass der Sperrmüll stark anwuchs, den die Gymnasiast:innen als brennbares Blockadematerial verwenden konnten, um gegen die neuen Abiturprüfungen zu protestieren. In Vitry wurde Ende Januar sogar eine Müllsortieranlage eine Woche lang von überwiegend outgesourcten Arbeiter:innen besetzt. Aber die großen industriellen Privatunternehmen waren stark unterrepräsentiert. An einer Demonstration Ende Januar nahmen Peugeotarbeiter:innen und Beschäftigte aus dem berühmten Renault-Werk in Flins teil, wo die Polizei 1968 beim Angriff auf einen Streikposten einen Gymnasiasten in die Seine getrieben hatte, der dort ertrank. Bei Renault traten nur wenige Beschäftigte in den Streik – etwa vierzig von tausend, sagte mir ein Arbeiter. Das Gleiche galt für die Hafenarbeiter:innen, die in unterschiedlichen Schichten arbeiten und sich in einer rechtlich schwierigen Lage befinden, wenn sie streiken wollen. Die Arbeiter:innen der Elektrizitätsgesellschaft EDF führten weiterhin Stromabschaltungen und Sabotageaktionen durch. Künstler:innen entwarfen Transparente: „Bei der nächsten Vernissage wird der Cocktail ein Molotow sein“. Im Januar gingen außerdem die Samstagsdemonstrationen der Gilets Jaunes weiter.

FEBRUAR

Januar und Februar hinterließen einen bitteren Beigeschmack. Obwohl die Kämpfe befristeter Arbeiter:innen an der Universität stärker in den Blickpunkt rückten, schlossen sich die Titulaires dem Streik noch immer nicht an. Extrem friedliche (bzw. befriedete) wöchentliche Gewerkschaftsdemonstrationen fanden in Paris immer an Tagen statt, an denen ich sowieso nicht gearbeitet hätte. Das ist ein großes Problem für prekär Beschäftigte: Solange nicht zu einem Generalstreik aufgerufen wird, können sie nur begrenzt teilnehmen, weil sie möglicherweise Nebenjobs haben (zum Beispiel als Kindermädchen oder Sexarbeiter:innen), die auf die Protesttage fallen. Die Demonstrationen hatten etwas Folkloristisches: Obwohl sie riesig waren und Lehrer:innen, Studierende, Anwält:innen, Ballerinen, Künstler:innen (art en greve), militante Queer-Gruppen (CLAQ: comité de liberation autonome et queer), Autoarbeiter:innen, Prekäre, Gilets Noirs, Gilets Jaunes und andere Gruppen Schulter an Schulter mit den lebhaften cheminot.e.s liefen, gab man sich damit zufrieden, unter massiver Polizeipräsenz von A nach B zu gehen. Da es aufgrund der Polizei jedoch nicht leicht ist, von A nach B zu kommen, gingen viele einfach direkt zu B. Diese Umzüge bei strahlendem Sonnenschein, die trotz der Beteiligung von Gilets Jaunes einen völlig anderen Charakter hatten als deren eigene Demonstrationen, wirkten auf mich wie PR-Aktionen für eine nutzlose Gewerkschaftsführung. Denn warum riefen die Gewerkschaften nicht zum Generalstreik auf, anstatt es bei vereinzelten Arbeitsniederlegungen zu belassen? Die „Bourgeoisie“ (die Titulaires wie auch andere Arbeiter:innen auf den Märschen) verriet die cheminot.e.s (die sehr viel riskiert und sehr viel verloren hatten), die Basis, die Prekären und besonders die Gilets Jaunes (die in zwei Wochen mehr „politische“ Siege errungen hatten als die Gewerkschaften in vierzig Jahren). Es kotzte mich an, wie diese Teile der Gesellschaft praktisch verhöhnt wurden. Zur selben Zeit blockierten Feuerwehrleute aus der Banlieue, die nicht mit der Polizei zusammenarbeiteten, die Ringstraße um Paris, setzten sich selbst in ihren feuerfesten Uniformen in Brand und schleuderten die Tränengasgranaten der Polizei zurück. Ihre Forderungen, die nicht nur die Rentenreform betrafen, wurden sofort erfüllt. So schieden sie leider noch in derselben Nacht aus dem Spiel aus.

So mag ich den Beginn des Jahres zwar erlebt haben, doch meine Fragen waren die falschen, und meine Abscheu grenzte zugegebenermaßen an Moralismus. Es gibt eine bessere Erklärung für die Ereignisse. Im Folgenden einige Gedanken aus einem Gespräch, das ich mit L. geführt habe. Im Dezember fragten sich viele, wie der aufständische Charakter der Gilets-Jaunes-Proteste auf den Streik übertragen werden könnte. Es gab viel Respekt für die Gelbwesten, und natürlich wurde das in Sprechchören und Gesprächen bekundet. Aber jenseits dessen hatte der Streik mit ihrem Aufstand nichts gemein. Das ist wahrscheinlich nicht besonders verwunderlich, auch wenn die Gelbwesten an der Gewerkschaftsbasis stark vertreten sind und häufig zu den Demonstrationen kamen und auch wenn sie mehr dazu beigetragen haben, Macrons Autorität zu untergraben und sozioökonomische Zugeständnisse zu erreichen. Ihre Klassenzusammensetzung, Erfahrungen (mit dem Staat, mit der Klasse, mit der Arbeit), ihre Art der Organisierung und Einsatzbereitschaft sind andere als die der meisten Streikenden. Während die Gewerkschaftsbewegung sich immer noch indirekt auf Löhne bezieht, entstanden die Gilets Jaunes aus einem Konflikt um Reallöhne, Preise und Lebensstandard.

Ich dachte zunächst, dass der Streik eine starke Wirkung hätte – stark und apokalyptisch –, zumal Macron unglaublich schwach war und eigentlich zurücktreten müsste – wie konnte er einfach so weitermachen? In dieser Situation würden sich die Gilets Jaunes und die Streikbewegung gegenseitig stärken, so meine Hoffnung. Aber Macron hatte sich bereits im Konflikt mit den Gilets Jaunes völlig verhärtet, und es ist mittlerweile klar, dass er an einer Debatte oder an Verhandlungen kein Interesse hat, egal wie groß die sozialen Unruhen auch sein mögen. Daran ist sicherlich niemand schuld, darum geht es auch nicht, und es ist sicher auch kein Grund, nicht zu streiken. Aber es ist durchaus möglich, dass Macron dank der Gilets Jaunes seine Position der Nichtverhandlung stärken konnte, genau wie die Gilets Jaunes selbst. Sie lernten, die Polizei und das Fernsehen zu hassen und zu bekämpfen, so wie die Polizei ihrerseits lernte, sie besser zu bekämpfen. Und die Gewerkschaften sind ausgesprochen schwach – Jahre der Niederlage, Misstrauen gegenüber linken Politikern und allgemeiner Zynismus: In Paris hört man ständig, dass Streiks nichts bringen. Professoren bringen lächerliche „historische“ Argumente vor, die bestimmte geschichtliche Konstellationen oder Momente gerade ignorieren: Ein Streik wird in der Zukunft nicht funktionieren, da er bereits in der Vergangenheit keinen Erfolg brachte, so der Tenor.

Der sozialdemokratische Pakt, wenn man so will, hat sich geändert. Früher sahen die stillschweigenden Regeln folgendermaßen aus: Die Regierung stand einer Opposition gegenüber, die von den Gewerkschaften gebildet wurde. Diese ließ ihre Muskeln spielen und mobilisierte Menschen für Streiks oder Demonstrationen, um neue Gesetze und Reformen abzuwehren und den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat zu verteidigen, für den die Kommunist:innen, die Résistance und die Gewerkschaften lange kämpfen mussten. Die Zahl der Menschen auf der Straße stärkte die Legitimität der Gewerkschaften in den Verhandlungen mit der Regierung. Zahlen waren enorm wichtig für diese Verhandlungen, sie standen hinter den sozialen Errungenschaften wie auch hinter dem Verrat, den die Gewerkschaften an ihrer Basis begingen. Da es im Fall der Gelbwestenbewegung jedoch keine gewählten Sprecher:innen, Repräsentant:innen oder Gewerkschaften gab, mit denen man hätte verhandeln können, stand die Frage von Verhandlungen oder Zahlen nicht länger im Raum. Macron suchte zwei Wochen lang händeringend nach einem Verhandlungspartner und bot der Bewegung auch ohne Gespräche mehr Zugeständnisse an, als andere Politiker je der Gewerkschaftsbewegung gemacht hatten. Das brachte die Gilets Jaunes jedoch nicht zum Verschwinden. Es gab keine klaren Forderungen, beziehungsweise es gab sehr viele. Aber Verhandlungen fanden nicht statt. Das Jahr bestand aus frontaler Gewalt, verhandelt wurde nur in einem abstrakten Sinne – die Straße gegen Macron. Zahlen waren irrelevant, weil es keinen Verhandlungstisch gab. Macrons Seite stützte sich dabei auf eine Polizei mit wachsenden Befugnissen. Er suchte nicht mehr das Gespräch mit der Bewegung.

Noch eigenartiger ist die Frage der Legitimität: Macron ist Vorsitzender der schwächsten Partei, die je in der 5. Republik regiert hat. Die Gewerkschaften waren noch nie so schwach. Die Linke ist praktisch abwesend. Es wirkt fast so, als würde niemand mehr auch nur versuchen, mit der Gegenseite zu sprechen, oder als würde in dieser Leere plötzlich eine nackte Konfrontation zwischen Lohnabhängigen und Kapital in der Hauptstadt stattfinden. Aber diese „Enthüllung“ ist irreführend, sie ist gleichzeitig eine „Verschleierung“, schließlich ist es falsch anzunehmen, dass wir durch die einfache Enthüllung der „Politik“ auf magische Weise zur Wahrheit oder zu irgendeinem Ergebnis gelangen. Die Gründe für die Wahl Macrons erschöpften sich darin, dass er „recht gut aussieht“, dass es keine Linke gibt und dass alle Angst vor Le Pen hatten. Hinter Macrons Erfolg stand das alte Märchen, man könne den drohenden Faschismus abwehren, indem man einen Liberalen wählt. Aber einmal im Amt, konnte er sich nur dank Marine Le Pens Fußsoldaten an der Macht halten – der Polizei. Die meisten Polizist:innen und die Gendarmerie wählen den RN Le Pens, ihre Gewerkschaften sind ausdrücklich an die Partei gebunden. Macron brauchte Le Pen gleich zweimal: Um an die Macht zu kommen, trat er als ihr Gegenspieler auf; um an der Macht zu bleiben, glich er sich ihr an. Macrons einzige Legitimation gegen die Gilets Jaunes, die diese in beeindruckender Weise anfochten, war sein nahezu unumschränktes Gewaltmonopol. Er beschenkte die Polizei dafür mit neuen, teils tödlichen Waffen und mehr Befugnissen. Das verleiht der Polizei jedoch eine gewisse Unberechenbarkeit. Ihr ist vermutlich klar, dass Macron seine Legitimität einzig ihr verdankt. Deshalb beobachten wir momentan auch eine faschistische Radikalisierung der Polizeistrategien.

Die Gewerkschaften jedoch, sagt L., orientieren sich immer noch an dem anachronistischen Spiel der Machtbalance, das ich bereits beschrieben habe. Die Lokführer:innen zum Beispiel sind zwar genauso intelligent und potenziell antagonistisch wie die Gilets Jaunes, aber das Umfeld, in dem sie agieren, straft sie mit Gleichgültigkeit. Es gibt genügend uberisierte und privatisierte Verkehrsmittel – etwa Bahnen, Busse, Limes, sogar Citymapper-Apps (die sichere Optionen für Streiktage anbieten) –, um einen Transportstreik unmöglich zu machen. Daher kann es sich Macron leisten, die Sache auszusitzen. Und während Transport und Logistik enorme Möglichkeiten für Streiks bieten, sind sie mangels gemeinsamer Kämpfe mit anderen Branchen in ihrer potenziellen Wirkung begrenzt. Würden die Streikenden anfangen, sich so zu verhalten wie die Gilets Jaunes, würde das bedeuten, die Hinfälligkeit der symbolischen Ordnung von Gewerkschaften, Lohnabhängigen und Staat anzuerkennen. Manche Lohnabhängige können sich (noch) nicht wie die Gilets Jaunes verhalten oder Gewalt anwenden, nicht nur wegen der Gewalt der Polizei, sondern auch, weil ihr Status (noch) in dieser symbolischen Ordnung verankert ist und ein Wechsel der Taktik das Eingeständnis ihres eigenen Verschwindens als Subjekte bedeuten würde.

Das war im Januar und Februar. Am 17. Februar wurde die Reform in der Nationalversammlung „debattiert“ und es fand eine Demonstration statt, die wahrscheinlich aufgrund der Ferienwoche sehr klein ausfiel. Am 28. Februar wurde Roman Polanski für seinen Film über die Dreyfus-Affäre mit dem Cesar (dem französischen Pendant zum Oscar) als bester Regisseur ausgezeichnet. Feministinnen, die vor dem Saal demonstrierten, in dem die Preisverleihung stattfand, wurden von der Polizei übel verprügelt und mit Tränengas eingenebelt. Adele Haenel, die eine brillante MeToo-Kampagne innerhalb der Filmindustrie angeführt hat, verließ den Festakt angewidert. Am nächsten Tag, einem Samstag, kündigte die Regierung gegen 17 Uhr an, dass sie die Rentenreform mithilfe des Paragrafen 49.3 verabschieden würde – ein „Notstandsgesetz“, mit dem bereits das Arbeitsgesetz von 2016 ohne parlamentarische Mehrheit durchgesetzt wurde. Außerdem erklärte sie, dass alle „öffentlichen Versammlungen“ (d.h. Demonstrationen) von mehr als 5000 Menschen wegen des Coronavirus verboten würden – eine weitere Notstandsmaßnahme. Um es zu wiederholen: In diesen vierundzwanzig Stunden brachte es das französische Establishment fertig, einem Vergewaltiger, den sie seit vielen Jahren vor dem Hintergrund weltweiter feministischer Proteste rechtlich schützt, einen Preis zu verleihen, Demonstrationen unter dem Deckmantel der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit zu verbieten und zu verkünden, dass sie eine massiv umstrittene Reform mithilfe eines Ausnahmegesetzes durchsetzen wird. Eine Menschenmenge, die sich aus Protest vor dem Parlament versammelte, wurde auf der Brücke über die Seine eingekesselt und mit Tränengas beschossen. Nachdem sie mehrere Stunden in der Kälte festgehalten wurde, eskortierte die Polizei sie zu nahegelegenen Metrostationen.

Der Verfassungsartikel 49.3 ist an sich bemerkenswert. Er bildet den grundlegenden rechtlichen Mechanismus der Fünften Republik, die 1958 durch einen Staatsstreich eingeführt wurde. Die Vierte Republik, nach dem Zweiten Weltkrieg vom Conseil nationalde la Résistance [Rat der Résistance] begründet, war ihrerseits eine Antwort auf die Tatsache, dass die Dritte Republik den Nazis bzw. Pétain während der Besatzungszeit zu viel Macht gegeben hatte. Die Fünfte Republik versuchte vor diesem Hintergrund, die Macht zwischen der Exekutive und dem Parlament neu zu verteilen. Traditionell musste das Parlament der Regierung das Vertrauen aussprechen. Artikel 49.3 erlaubt es der Regierung jedoch, die Nationalversammlung (das Parlament) unverzüglich und ohne Abstimmung zur Annahme eines Gesetzes zu zwingen; seine Einführung war eine Reaktion auf die Algerienkrise, auf die wir hier nicht eingehen können. Die Nationalversammlung kann das Gesetz nicht ablehnen, ohne zugleich einen Misstrauensantrag zu stellen, der zum Sturz der gesamten Regierung führen kann. Wenn die Regierung diese Karte ausspielt, die alle bisherigen Spielregeln außer Kraft setzt, dann wirkt dieser Vorrang vor der Legislative zwar einerseits stabilisierend, zugleich bringt sie damit aber ihre eigene Position in Gefahr, weil sie möglicherweise zurücktreten muss – was höchst destabilisierend wäre. Ein Misstrauensvotum hat es in der Fünften Republik allerdings nur einmal gegeben, am "Ende" der Algerienkrise im Jahr 1962. So sind derzeit gewissermaßen drei Formen von Ausnahmezustand in Kraft: die Notstandsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Coronavirus, der Ausnahmezustand, der 2015 nach den Terroranschlägen im Bataclan verhängt und nie offiziell aufgehoben wurde, und der Artikel 49.3, mit dem 2016 bereits das Arbeitsgesetz durchgesetzt wurde.

MÄRZ

Bereits im Januar tauchte das Coronavirus in Zeitungsartikeln über Rassismus auf, dem asiatisch aussehende Menschen in U-Bahnen ausgesetzt waren und aufgrund dessen chinesische Supermärkte schlossen. Ende Februar gab es dann die ersten drei Todesfälle. Die Zeitung Libération brachte eine Sonderausgabe über das Virus; die Studierenden in meinem Kurs meinten, die Konstruktion des Virus erinnere sie an die von Feindbildern im Kalten Krieg. Das Virus sei vom Staat instrumentalisiert worden, um den Streik niederzuschlagen, und zugleich Teil eines Handelskriegs gegen China. In ihren Augen war es „nur eine Grippe“.

Anfang März zog eine große Gewerkschaftsdemonstration von der Place de la République zur Kirche La Madeleine. Es herrschte eine völlig andere Stimmung als auf den vorangegangenen Demonstrationen, der tête de cortege (die Demonstrationsspitze) war gut gelaunt und wütend. Die Nachrichten über das Coronavirus nahm die Menge mit Humor auf: Nun könne man vielleicht wieder Masken tragen, was nach dem loi anti-casseur (2019) verboten ist. Man fragte sich, ob der Ausbruch der Pandemie genutzt werden könnte, um die Universität zu schließen. Die Demonstration hatte teilweise sogar den Geist der Gilets Jaunes, als die Leute Banker und Bourgeois, die auf Balkonen standen und die Demonstration filmten, verbal angriffen. In klassenkämpferischen Parolen wurde das Virus gegen die Bourgeoisie beschworen: „Wir hoffen, ihr bekommt das Coronavirus und sterbt“, „Lasst das Glotzen, stürzt euch aus dem Fenster“ (normalerweise heißt es „Lasst das Glotzen, reiht euch ein“) und „Jeder hasst die Bourgeoisie/Banker“. Wir wurden allerdings bereits an der Madeleine blockiert, obwohl es eigentlich bis zur Assemblée gehen sollte.

Damals befiel mich der Gedanke, dass die Leute in großer Masse einen Weg gefunden hätten, wäre dies ein Marsch der Gilets Jaunes gewesen. Die Gelbwesten hatten ein ganz anderes Verhältnis zum städtischen Raum. Sie erfanden eine symbolische Ordnung: Orte in der Stadt wurden mit Bedeutung aufgeladen, die Champs Elysées waren nun der Schauplatz der Straßenschlachten der vorangegangenen Woche und der Woche davor. Die Menschen bewegten sich um diese neuen Symbole herum, sie veränderten ihre Bedeutung, bevölkerten Gegenden, in denen sie normalerweise nie gewesen wären, zogen mit Straßenkarten durch ganz Paris, lernten die Namen von Vierteln kennen, die ich nur deshalb besser kannte als meine Pariser Freund:innen, weil ich dort früher als Kindermädchen gearbeitet hatte. Gewerkschaftsdemonstrationen dagegen können überall stattfinden, für sie existieren die bestehenden Symbole und die Paläste lediglich als Hintergrund.

Eine kleinere Gruppe fuhr mit der Metro bis zur Assemblée, wo sie von Polizist:innen verjagt wurde. Eine weitere Gruppe, hauptsächlich Oberschüler:innen, lief über eine andere Brücke in die Tuilerien, den Park um den Louvre. Die Angestellten des Louvre hatten in dieser Woche in verschiedener Weise gestreikt und die Arbeit verweigert, da aus dem Verbot von Demonstrationen mit mehr als 5000 Teilnehmer:innen gefolgert werden könne, dass auch ihr Arbeitsplatz – eine riesige Galerie voller Gemälde und Tourist:innen – nicht mehr sicher sei. Die Gymnasiast:innen durchquerten den Park, verzierten klassische Cäsar-Statuen mit Slogans gegen die Polizei („ACAB“) und versuchten, die schweren schmiedeeisernen Tore vor Polizist:innen auf Motorrädern zu verschließen. Sie scheiterten, und so kam es zu einem furchterregenden Schauspiel, bei dem Mad-Max-Schläger in den Park eindrangen und mit ihren Schlagstöcken wild um sich schlugen. Als sie gerade eine Gruppe in eine Ecke drängten, winkten die Securitys die Demonstrant:innen herbei und brachten sie bei strahlendem Sonnenschein sicher auf die Rue de Rivoli hinaus. Die Straße wurde blockiert, ein wütender LKW-Fahrer versuchte alles, um die Leute zu überfahren. Wir jagten ihm hinterher, nur um CRS-Beamten in die Arme zu laufen, die aufgereiht wie in einem Western auf uns zukamen. In diesem Moment der Verwirrung schlugen die motorisierten Polizist:innen zu, warfen junge Frauen zu Boden und rannten mit gezückten Schlagstöcken in die Menge, um uns zu teilen wie Moses das Meer. Es ist hier kaum möglich zu vermitteln, wie furchterregend diese Einsatzkräfte mit ihren weißen Helmen und Uniformen wirken. Sie treten wie synchronisiert oder choreographiert auf, rauschen als Truppe um die Ecken und setzen sich in den Boulevards, breiten Straßen und rechtwinkligen Abzweigungen filmreif in Szene. Sie geben ein Bild des Faschismus, zwar nur ästhetisch, aber doch ernst zu nehmen. Wie es scheint, braucht es kein Gas und keine Gummigeschosse, weder Granaten noch Wasserwerfer (auch wenn ein Wasserwerfer vor Ort war), um die Leute zu verängstigen.

Es folgte eine riesige Demonstration von Student:innen am 5. März, für den zu einem Tag der „Toten Universität“ (Université Morte) aufgerufen worden war. Universitäten wurden von Studierenden blockiert, von Streikenden besetzt, Tausende gingen auf die Straße. Leider hatte an meiner Universität der Direktor den Betrieb vorsorglich geschlossen, um „Diskussionen“ über den Streik zu ermöglichen und die Studierenden daran zu hindern, das Gebäude zu betreten und sich zu organisieren.

Ihr wisst ja, wie es ist: Wenn ich nur mehr darüber wüsste, würde die Vernunft das Gebäude zertrümmern; von seinen inneren Widersprüchen gesprengt, würde das Ganze in sich zusammenfallen. Oder mit Kant: „Räsoniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt; nur gehorcht!“

Der schwarze Block brach am Ende noch zu einer freudigen, aber kurzen Spontandemo in der Nähe des Quartier Latin auf, griff eine faschistische Bar und auf dem Rückzug befindliche Polizist:innen an. Ein junger Demonstrant, der sich gerade gegen die sich schließende Tür des Bildungsministeriums geworfen hatte, entwand sich der Polizei und warnte die ihm im Regen nachstellenden Beamten: „Leute, Leute, ihr habt nicht mal eure Helme auf, seid vorsichtig!“ Dies war die bisher größte Mobilisierung von Student:innen und sie ließ vermuten, dass die Universität während der Prüfungsphase geschlossen bleiben würde. Obwohl es stark regnete, verhieß sie auch Gutes für den Frühling, der mittlerweile abgesagt ist. Am Abend erhielt ich eine E-Mail von der Universitätsleitung. Tagsüber hatten Studierende die Räume auf den Kopf gestellt und die Gänge mit Stühlen und Tischen verbarrikadiert. Der „Schaden“ sei so groß, dass man die Universität am nächsten Tag schließen werde. Es folgten wütende E-Mails von Festangestellten: „Entwürdigung unseres Arbeitsplatzes“, „wir sind mit dem Streik einverstanden, aber die Methoden sind nicht gerechtfertigt“, blablabla. Innerhalb weniger Tage erwies sich unser Streik, der nicht einmal ein paar Universitätsgebäude schließen konnte, als machtlos und wurde durch ein Virus hinweggefegt, das wie ein deus ex machina auf der Bühne erschien und alles zum Erliegen brachte.

FRÜHJAHR

Ich ende spekulativ, mit einigen assoziativen Anekdoten – ein Luxus, den mir der Lockdown mit seinem ganzen Warten und Nachdenken erlaubt. Am 20. Januar speisten Emmanuel Macron und Edouard Philippe in einem noblen Restaurant in Versailles mit Hunderten von Topmanagern, die an der Tagung „ChooseFrance“ teilnahmen. Obwohl Macrons Abendessen während des Streiks immer wieder zur Zielscheibe der Gilets Jaunes geworden waren, die manchmal militante Blockaden vor den betreffenden Restaurants durchführten, und obwohl das Nobelrestaurant die Kellner:innen sorgfältig überprüft hatte, gelang es einem von ihnen, eine Notiz unter Edouard Philippes Teller zu legen. Darauf stand sinngemäß: „Wir, die Gilets Jaunes, sind überall, wir sind sogar in Ihrer Suppe!“. Der Premierminister fuhr erschrocken zusammen, als sein Teller abgetragen wurde. Als ich im Februar mit einem Freund über das Scheitern der Streiks sprach, erzählte er mir von diesem Vorfall und begeisterte sich darüber, wie sehr sich Frankreich 2018/19 verändert habe. Der Hass auf die Regierung sei nun so weit verbreitet, dass ihn jede Kellnerin, jeder Uber-Chauffeur, jede Fahrerin mit jeder Faser ihres nicht gewerkschaftlich organisierten, überarbeiteten Körpers spüre; dieser Hass sei historisch beispiellos und zutiefst politisch. Die Streiks waren für ihn „eine Angelegenheit für die Linke“; viel interessanter sei, was sich mit den Gilets Jaunes ereignet habe.

Zweitens wurden die Lockdown-Maßnahmen in Frankreich trotz ihres allgemeinen Gesetzescharakters völlig unterschiedlich erlebt. Alle Widersprüche, die in unserem Leben und in den sozialen Bewegungen schon immer vorhanden waren, werden nun offengelegt. Wie kann man einen pauschalen Lockdown verhängen und im gleichen Atemzug fordern, dass die am meisten benachteiligten Arbeiter:innen – die „systemrelevanten“ – trotzdem zur Arbeit gehen und dem Virus ausgesetzt werden? Wie kann man Isolation zu Hause fordern, wenn nicht alle ein Dach über dem Kopf haben? Die quartiers populaires – die hauptsächlich in den Vorstädten gelegenen Arbeiter:innenviertel – sind am dichtesten bevölkert, Menschen mit geringem Einkommen müssen dort oft in beengten Wohnverhältnissen leben. Währenddessen strömte die bürgerliche Pariser Bevölkerung in die ländlichen Gebiete und verbreitete dort das Virus – eine eigentümliche Rache für den Einfall der Gilets Jaunes in die Metropole. Die Arbeiter:innenviertel haben auf das harte polizeiliche Vorgehen reagiert, überall kam es zu Ausschreitungen: in Toulouse, Limoges, der Pariser Banlieue… – beispielsweise, weil Polizist:innen versucht haben, durch Öffnen ihrer Autotür einen Motorradfahrer zu töten. Er verlor sein Bein. Es schienen gute Chancen zu bestehen, dass diese Krawalle über den Lockdown hinaus andauern würden und dass die Situation nach der Aufhebung der Beschränkungen viel interessanter sein würde als die Stagnation unmittelbar davor. Wenn überhaupt, hat der Lockdown das Bewusstsein geschärft und Widersprüche aufgedeckt. Beide Bewegungen – die der Banlieues und die der überwiegend periurbanen2 Gilets Jaunes – sind etwas, wovon sich die Linke traditionell fernhält.

Schließlich sind während des Lockdowns auch neue Formen der gegenseitigen Hilfe und des Streiks entstanden, sei es das von den Beschäftigten besetzte McDonalds-Restaurant in Marseille, das nach Inkrafttreten der Maßnahmen zur Verteilung von Lebensmittelpaketen umfunktioniert wurde, seien es Menschen, die sich statt Demonstrationsspektakeln der Verteilung von Ressourcen zuwandten. Lehrkräfte weigerten sich, per Zoom zu unterrichten, Prüfungen durchzuführen und Noten zu vergeben, sogar einige Mietstreiks fanden statt. Am 11. Mai wurden die Maßnahmen in Frankreich aufgehoben, ein Akt, der öffentlich als das verstanden wurde, was er war: eine Entscheidung, die Wirtschaft wieder anzukurbeln und die Menschen zurück an die Arbeit zu schicken. Als Reaktion auf den George-Floyd-Aufstand in Minneapolis gab es mehrere Großdemonstrationen in Paris, zu denen das Comité Adama aufgerufen hatte. Auch ohne Corona-Skeptizismus, wie er zuletzt in Deutschland aufkam, war die Zeit nach dem Lockdown chaotisch, und es scheint, dass uns eine zweite Welle droht. Auf der Île de France und in anderen Regionen besteht nun mit Ausnahme von Bars und Restaurants in allen öffentlichen Räumen Maskenpflicht.

(zuerst erschienen auf endnotes.org.uk)

  • 1. Grégoire Camayou, Die unregierbare Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus, übers. v. Michael Halfbrodt, Suhrkamp, Berlin 2019, S. 37.
  • 2. Ein vom französischen périurbanisation entlehnter Bergiff, der verstädterte, vormals ländlich-argrarische Gebiete bezeichnet (Anm. d. Übers.).