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„Auch wir werden uns mit Gewalt durchsetzen!“ - Bericht von den Klassenkämpfen in Frankreich

„Auch wir werden uns mit Gewalt durchsetzen!“ - Bericht von den Klassenkämpfen in Frankreich

28. März 2023

 

Fallende Geburten- und Profitraten

Die Reform des Rentensystems ist eines der Herzensprojekte des französischen Präsidenten Emanuel Macron. Bereits zu seinem Regierungsantritt im Jahr 2017 kündigte er an, dass er das französische System der Renten reformieren werde. Einen ersten Anlauf für dieses Vorhaben startete er im Winter 2019/20. Auf die Ankündigung dieser Reform im September 2019 folgte bereits eine massive Streik- und Protestwelle. Sie ging u.a. als der bis dato längste Generalstreik seit 1968 in die Geschichte ein. Vom 5. Dezember bis Mitte März 2020 protestierte eine breite Bewegung gegen diese geplante Verlängerung der Arbeit und Verkürzung der freien Zeit. Von den gewöhnlich streiklustigen Bahnarbeiter:innen bis zu Tänzer:innen an der Pariser Oper legten die Menschen ihre Arbeit nieder. Zwar kündigte die Regierung im Februar 2020 an, die Reform gegen den Widerstand des Parlaments mithilfe des Paragraphen 49.3 durchzusetzen, doch sorgte die Coronapandemie letztendlich dafür, dass das Reformprojekt vorläufig auf Eis gelegt wurde.

Anfang Januar 2023 kündigte die Regierungspräsidentin Elisabeth Borne an, die Gesetzesveränderung nun doch noch auf den Weg bringen zu wollen. Das Gesetz sieht die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre vor, zugleich sollen mit der Rentenreform alle unterschiedslos in dasselbe System integriert werden. Staatsangestellte wie U-Bahn-Fahrer:innen, Rettungskräfte oder Polizist:innen profitieren bisher von Sonderregelungen. Für sie gilt ein niedrigeres Renteneintrittsalter als für die Arbeiter:innen im allgemeinen Rentensystem. Dies spiegelt einerseits den Status dieser Berufsgruppen wider, aber auch die Tatsache, dass sie besonderen Gefahren oder Risiken ausgesetzt sind. Lokführer:innen zum Beispiel haben wegen der Nachtarbeit, der körperlichen Anstrengung und der Umweltverschmutzung, der sie ausgesetzt sind, ein Renteneintrittsalter von 57 Jahren, während es für die meisten Arbeitnehmer:innen 62 Jahre beträgt. Für Ballerinen liegt es sogar bei 42 Jahren, was noch auf Zeiten mit wesentlich niedrigerer Lebenserwartung zurückgeht. Viele Sonderregelungen sollen mit der Rentenreform nun abgeschafft bzw. die Renten angeglichen werden, so z.B. im Falle der Beschäftigten der Pariser Verkehrsgesellschaft und der Angestellten in der Gas- und Elektrizitätsversorgung. Wohlgemerkt ist ein voller Bezug der Rente bei einem Eintritt mit 62 Jahren momentan auch nur nach 43 vollen Beitragszahlungsjahren möglich. Alle anderen müssen in Frankreich, ebenso wie in Deutschland, bis zum 67 Lebensjahr schuften, wenn sie die vollen Rentenbezüge erhalten wollen. Die Regierung rechtfertigt die Reform mit einem technokratischen Argument, das  bei derartigen Vorhaben häufig  vorgebracht wird: Der demografische Übergang und Alterungsprozess führe aufgrund fallender Geburtenraten und steigender Lebenserwartung dazu, dass der Anteil der Älteren in der Gesellschaft immer weiter zunimmt. Die dadurch steigenden Mehrausgaben für die Renten seien für die Rentenkassen nicht mehr zu tragen.

Dieses demografische Argument dient der Politik als eine rein technische Rechtfertigung neoliberaler Reformen im Namen von „Sachzwängen“ und „Notwendigkeiten“, wie es Macron in einem Fernsehinterview vom 22. März ausdrückte. Die Argumentation der französischen Bourgeoisie lautet diesbezüglich wie folgt: Um dem demografischen Druck gerecht zu werden, müssen die Kassen gefüllt werden. Dies könne jedoch nur durch eine Neuverteilung und Abzüge vom Arbeitseinkommen geschehen, da höhere Kapitalsteuern andernfalls die Anreize zur Reindustrialisierung der französischen Ökonomie nichtig machen würden. Aufgrund von Altersprekarität, niedrigen Reallöhnen und Inflation können zugleich weder Rentenbezüge gesenkt, noch Lohnabhängigenbeiträge erhöht werden. Daher kann die Kassenfinanzierung nur über die Verlängerung der Lebensarbeitszeit bewerkstelligt werden. Diese für den Alltagsverstand zunächst auf der Hand liegende Argumentation, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hierbei um eine simple Verteilungsfrage handelt, über die nur der Klassenkampf entscheiden kann: Sollen die Kosten für die Reproduktion der verbrauchten Arbeitskraft von den Lohnabhängigen oder vom Kapital getragen werden?

Seit der Ankündigung des Vorhabens Mitte Januar kam es zu zahlreichen Mobilisierungen und Streiks von Seiten der Gewerkschaften. Die Aktionstage sind momentan sehr kraftvoll und brechen regelmäßig neue Rekorde.  Der Streiktag am vergangenen Donnerstag, den 23. März, war der neunte von den Gewerkschaften ausgerufene Protesttag. Er wurde von allen großen Gewerkschaften, der sogenannten „Intersyndicale“, gemeinsam ausgerufen. Eine gemeinsame Mobilisierung der „Intersyndicale“ gab es seit 2010 nicht mehr, da sich bei früheren Reformprojekten die stark sozialdemokratisch orientierte Gewerkschaft CFDT meist schnell ausgeklinkt hatte, um „sozialpartnerschaftliche“ Verhandlungen mit der Regierung aufzunehmen.

Die Regierung hingegen scheint gegenwärtig dabei zu sein, die Sozialpartnerschaft vollends von oben aufzukündigen, was sich u.a. darin ausdrückt, dass die Gewerkschaften nicht einmal mehr symbolisch am Verhandlungstisch Platz nehmen dürfen. Der französische Ökonom Frédéric Lordon beschreibt die Regentschaft Macrons deshalb wie folgt: „Weil er selbst alle Vermittlungen niedergerissen hat, ist der Autokrat nur noch durch eine Linie von Polizisten vom Volk (peuple) getrennt.“ Dass es sich hierbei um eine anhaltende Tendenz der französischen Politik handelt, haben wir bereits 2019 in unserer Analyse der Gelbwestenbewegung festgehalten: „Das Mittel der staatlichen Befriedung besteht seit je in der Integration von Antagonismen über gesellschaftliche Vermittlungen, wofür paradigmatisch die Verrechtlichung von Arbeitskämpfen steht. Da der Neoliberalismus der letzten Dekaden die gewerkschaftlichen Vermittlungen jedoch immer weiter geschwächt hat und der Parlamentarismus sich mit dem Ende der Sozialdemokratie und dem autoritären Regierungsstil ebenfalls zu erschöpfen scheint, artikuliert sich der soziale Konflikt nun zunehmend antagonistisch, wie uns die samstäglichen Riots im Dezember verdeutlicht haben.“

 

Eine träge Bewegung?

Seit Anfang März nehmen wir in Marseille und Paris an der Bewegung gegen die Rentenreform teil. Im Folgenden wollen wir unsere subjektiven Eindrücke teilen und daraus vorläufige Schlüsse ziehen.

Die erste Mobilisierung, an der wir teilnehmen, findet in Marseille statt, am Streiktag des 07. März 2023. Der Startpunkt am alten Hafen ist für 10 Uhr festgelegt. Als wir um 11 Uhr ankommen, sind bereits sehr viele Menschen anwesend. Rein quantitativ gesehen ist die Mobilisierung auf jeden Fall ein Erfolg. Dennoch wirkt alles recht behäbig. Als der Zug sich endlich in Bewegung setzt ist es bereits 13 Uhr, also bereits drei Stunden nach dem geplanten Anfang. Dementsprechend wirkt die Demo auch bereits erschöpft ehe sie losläuft. Zudem bewegt sich der Demonstrationszug nur am kaum frequentierten Hafenbecken entlang. An der Seite des Demozugs stellen sich die üblichen radikalen Grüppchen mit ihren Ständen auf, die Trotzkist:innen von „Lutte Ouvrière“ und „Révolution Permanente“ oder auch die Anarchokommunist:innen der „Union Communiste Libertaire“. Sie verteilen ihre Flugblätter und skandieren Parolen per Megafon. Dies sind fast die einzigen Inhalte, die man während der Demo zu hören bekommt. Nach Angaben der Gewerkschaften schlossen sich dieser Demo mehr als 200.000 Menschen an. Diese Zahl erscheint uns kaum übertrieben, auch wenn sie aus deutscher Sicht fantastisch anmutet. In ganz Frankreich haben sich mehr als 3,5 Millionen (Gewerkschaftszahl) an den Streikdemos beteiligt, nach Angaben der Bullen waren es 1,28 Millionen. Dennoch: Für einen Generalstreik waren die Streikaktivitäten doch recht überschaubar und auf einige wenige Sektoren begrenzt. Beteiligt waren vor allem diejenigen Sektoren, in denen die französischen Gewerkschaften seit langem gut aufgestellt sind. Dazu gehört etwa der Bereich der Bildung (mit einer Streikbeteiligung von 60% laut Gewerkschaften, und 30% laut den öffentlichen Behörden), die Elektrizitätsversorgung (mit einer Beteiligung von über 50%) oder die Eisenbahner:innen des staatlichen Eisenbahnbetriebs SNCF. Aufgrund dieser sektoral begrenzten Streiks und der zwar sehr gut besuchten, aber insgesamt eher behäbig wirkenden Demo, war unser erster Eindruck der Bewegung ein tendenziell pessimistischer. Wir vermuteten, dass  sich die Bewegung nicht lange wird halten können, und dass dieser ritualisiert wirkende Protest innerhalb des Rahmens staatlicher Aushandlungen verbleiben wird.

Die nächste Mobilisierung, an der wir am 15. März in Paris teilnehmen, ändert wenig an dem bisherigen Eindruck. Die Mobilisierung ist zwar erneut sehr groß, aber insgesamt wirkt alles etwas blutleer. Anders als in Marseille, finden sich in Paris ein paar Autonome, die hier und da eine Mülltonne anzünden und sich kleinere Scharmützel mit den Bullen liefern. Dennoch scheinen die Bullen zu keinem Zeitpunkt die Kontrolle zu verlieren. Nichts erinnert an die wilden Demos während der Bewegung der Gelbwesten, als im Winter 2018 die Demonstrierenden ganze Viertel im bourgeoisen Pariser Westen quasi unter ihre Kontrolle brachten. Auch der berüchtigte autonome Demoblock, der „Cortège de Tête“, der sich 2016 während der Bewegung gegen die Erneuerung des Arbeitsgesetzes regelmäßig an die Spitze der ritualisierten Gewerkschaftsproteste setzte, und Form wie Inhalt der Proteste radikalisieren konnte, ist höchstens in embryonaler Form zu erkennen. Auch bei dieser Mobilisierung werden jedoch wieder Teilnahmerekorde gebrochen. Sie überholen nun sogar die letzte große Bewegung gegen eine Reform des Rentengesetze aus dem Jahr 1995.

Was in Paris dennoch sehr beeindruckt: Die „Éboueurs“, also die Müllwerker:innen, befinden sich seit Wochen im Streik. Während viele Streiks in der Halböffentlichkeit des Betriebs und der Fabrik verschwinden, schafft es dieser Streik, den öffentlichen Raum zu prägen und ihn so bei jedem Spaziergang ins Bewusstsein zu rufen. Auf den Straßen von Paris stapeln sich bis zu 10.000 Tonnen Müll und einzig die Bewohner:innen bestimmter Straßen sehr reicher Viertel im Pariser Westen haben die finanziellen Möglichkeiten, um eine private Müllentsorgung zu bezahlen. Dort sieht es proper aus wie immer.

 

Die Nächte der Müllbarrikaden

Die entscheidende Wendung sollte die Bewegung am 16. März nehmen. Premierministerin Elisabeth Borne kündigt an, dass sie auf den Artikel 49.3 der französischen Verfassung zugreifen wird, um die Gesetzesänderung durchzuboxen. Zwar behauptete die Regierung seit Wochen, dass über die Reform einzig das Parlament entscheiden könne, doch die Ungewissheit über den Ausgang der Abstimmung angesichts der zögernden Haltung zahlreicher konservativer Abgeordneter veranlasste den Präsidenten schließlich doch dazu auf das berüchtigte Dekret zurückzugreifen. Bei dem Artikel handelt sich um eine Besonderheit der französischen Verfassung der fünften Republik von 1958, welcher es der Regierung erlaubt, ein Gesetz ohne die Zustimmung des Parlaments zu verabschieden. Mit elf Rückgriffen auf den Artikel 49.3 seit ihrem Amtsantritt brach Premierministerin Elisabeth Borne hier bereits den Rekord, den bis dato der Sozialist Michel Rocard (1988- 1991) hielt. Wird nicht innerhalb von 24 Stunden ein Misstrauensantrag gegen die Regierung gestellt, gilt der Gesetzestext als angenommen Ein solcher Antrag muss von mindestens einem Zehntel der Abgeordneten gestellt werden und wird nur dann wirksam, wenn er von der absoluten Mehrheit der Abgeordneten angenommen wird. Die Annahme des Antrags würde also sowohl zum Rücktritt der Regierung als auch zur Ablehnung des Textes führen.    

Nach dieser Ankündigung wächst die Wut im Land spürbar und die Bewegung gewinnt merklich an Dynamik. Am Abend kommt es im ganzen Land zu wilden Demonstrationen.  Die Bewegung, die bisher in den klassischen Bahnen der französischen Sozialproteste von Massendemonstrationen und Streiks im öffentlichen Sektor verharrte, scheint nun ihre Aktionsformen der Ansage der Regierung anzupassen. Im Verlaufe des weiteren Abends strömen Tausende auf den „Place de la Concorde“ und durch das Parlamentsviertel ziehen Spontandemonstrationen, die Barrikaden errichten, den durch den Streik angehäuften Müll entzünden und sich Auseinandersetzungen mit den Bullen liefern, die knapp 300 Leute in Gewahrsam nehmen. Der Abend sollte sich im Nachhinein als Vorschein sowohl der neuen Aktionsformen als auch der Polizeistrategie der totalen Einschüchterung erweisen.

Von nun an finden jeden Abend Spotandemos statt, zu denen auf Twitter und in Telegramkanälen aufgerufen wird. Sie verteilen sich auf ganz Paris, um den Bullen das Eingreifen schwer zu machen. Am Samstag findet etwa eine Versammlung auf der im Süden von Paris gelegenen „Place d‘Italie“ statt. Zwar versuchen die Bullen den Platz einzukesseln, doch immer wieder gibt es wilde Demonstrationen kleinerer Gruppen, die wütend durch die angrenzenden Straßen und Viertel ziehen. Erinnerungen an die Bewegung „Nuit Débout“ von 2016 werden wach, als sich derartiges wochenlang um die „Place de la République“ abspielte. Auch der Müllstreik bricht nicht ab: Die Müllsäcke in den Straßen von Paris stapeln sich mittlerweile meterhoch, was sich als sehr nützlich für die wilden Demonstrationen erweist. In ganz Paris findet sich zu jeder Zeit genug Material für schnell zu errichtende und gut brennbare Barrikaden.

Am Freitag den 17. März kursiert ein Aufruf zur Unterstützung der Streikenden in der größten Müllverbrennungsanlage Europas in Ivry-sur-Seine. Die 10.000 Tonnen Müll in den Pariser Straßen sind nämlich nicht nur Konsequenz des Streiks der Müllabfuhr, sondern auch der Arbeitsniederlegung der Beschäftigen in der Müllverbrennung. Im Gespräch mit  Streikenden am Fabriktor erfahren wir, dass die  Anlage bereits seit zwei Wochen stillsteht. Ein Arbeiter, der schon seit mehreren Jahrzehnten im Betrieb ist, bemerkt, dass es sich um den größten Streik im Betrieb seit 1995 handelt. Damals wurde die Anlage einen Monat lang lahmgelegt und das Eingangstor zugeschweißt. Die Streikstrategie im Müllsektor der Pariser Region scheint aufzugehen: Die Beschäftigten sowohl der Verbrennungsanlage als auch der Müllabfuhr sind im Ausstand und die Zugänge zu den Müllautos sowie zur Fabrik werden vor allem dank studentischer Unterstützung von außen blockiert. Auf einem Flugblatt der CGT heißt es: „Die große Mehrheit der Angestellten der Stadtreinigung hat eine um 12 bis 17 Jahre geringere Lebenserwartung als die Gesamtheit der Beschäftigten.“ Auf unsere Frage, ob der Streik noch länger durchhalten könne, erwidert ein Arbeiter : „Wir halten durch bis zum Ende. Wir haben nichts zu verlieren. Wenn wir jetzt aufhören, dann zahlen wir sowieso später dafür.“ Ein anderer erzählt: „Hier liegt kein Müll mehr. Daher müsste man überhaupt erst mal 2000 Holzpaletten bestellen, um die Verbrennungsmaschine wieder in Gang zu bringen. Bislang umgehen sie unseren Streik, indem sie den Müll in Gruben zwischenlagern, wodurch die Böden und die Umwelt verschmutzt werden.“ Der Staat reagiert auf den ausufernden Streik gegenüber den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes mit Zwang. Die Polizei oder Gerichtsvollzieher zwingen einzelne Streikende zur Wiederaufnahme der Arbeit. Diesbezüglich erklärt man uns: „Wird man zum Dienst eingezogen, muss man in der Regel eine spezielle Aufgabe verrichten. Der Plan ist, dass wir das schnell hinter uns bringen, um dann wieder in den Streik treten können.“

Bei der Spontandemonstration am Sonntag merkt man den Teilnehmenden an, dass sie bereits seit Tagen an der Bewegung teilnehmen. Wir starten mit so viel Verspätung, dass die Bullen die Demo bereits nach wenigen Minuten einkesseln können. Wir sind dennoch schneller, können entkommen und verbringen den restlichen Abend damit, uns mit den Eingekesselten und Verhafteten zu solidarisieren. An dem Abend spielen sich Szenen ab wie die Folgende: Eine etwas ältere und eher bourgeois gekleidete Dame wird lauthals protestierend zum Gefangenentransporter abgeführt. Sie lässt sich neben dem Transporter nieder, gestikuliert und proklamiert lauthals, dass es überhaupt nicht Frage käme, dass sie sich jetzt festnehmen und abführen lasse. Sie werde sich ebenso wenig durchsuchen lassen. Sie sei lediglich auf der Straße gewesen und habe die Marseillaise und die Internationale angestimmt. Das lasse sie sich nicht verbieten. Sie ist so entschieden, dass die Bullen sich zunächst nicht trauen, die Festnahme fortzusetzen, zumal sich um sie eine Traube von solidarischen Protestierenden gebildet hat. Sie kann erst abgeführt werden, als eine weitere Bulleneinheit die Menge auseinandertreibt. „Libérez nos camarades!“ schallt es aus der Menge, als die Bullen ihre Helme aufsetzen.

Am darauffolgenden Montag, den 20. März, steht der Misstrauensantrag im Parlament an. Die Opposition, die sich um den Antrag der zentristischen Parlamentsfraktion gruppiert, braucht 18 Stimmen aus den Reihen der Mitte-Rechts-Partei der Républicains, um die Regierung Borne zu stürzen. Die absolute Mehrheit für den Antrag wird nur um neun Stimmen verpasst. Fast hätte Frankreich den Sturz der Regierung erlebt.

In den Abendstunden wiederholt sich in Paris das gleiche Szenario wie die Tage zuvor: Eine Spontandemonstration mit mehreren Tausend Teilnehmer:innen zieht aus dem Pariser Westen über die Rue Rivoli in Richtung Châtelet und entzündet alles, was ihren Weg kreuzt. Weit und breit keine Polizei. In den späteren Abendstunden liefern sich Demonstrierende und Bullen auf dem „Place de la Bastille“ kleinere Straßenkämpfe. Mit weiteren Hunderten von Demonstrant:innen ziehen wir für mindestens eine Stunde umher, skandieren „Paris, debout, soulève-toi“ („Paris, steh auf, erhebe dich!“ ), bis schließlich die massiv überforderte Polizei die Aktion mit Tränengas beendet. An diesem Abend wird klar, dass diese neue Phase der Bewegung zum Großteil von einer radikalisierten Jugend, Schüler:innen und Studierenden getragen wird. Bevor die Demonstrant:innen vom Tränengas in die Metro gedrängt werden, ertönt der neue Spruch des Abends in Anspielung auf den Artikel 49.3: “Nous aussi, on va passer en force!“ („Auch wir werden uns mit Gewalt durchsetzen!“)

Wie stark das Land inzwischen mobilisiert ist, zeigt sich auch in der Kunst. Die soziale Realität erscheint nun auch auf den Theaterbühnen. Bei der Aufführung von Adeline Rosensteins antikolonialem Dokumentartheaterstück „Laboratoire Poison“ am 17. März im Pariser Vorort Gennevilliers zeigt sich das noch zaghaft. Eine Schauspielerin wendet sich vor der Vorstellung an das Publikum und erklärt, dass die Schauspieler:innen solidarisch mit der Bewegung und den Streiks sind. Während sie ihrer Hoffnung Ausdruck verleiht, dass der Kapitalismus baldmöglichst „verrecken“ werde, teilt ein Kollege Flyer mit QR-Codes aus, über die man per Paypal direkt in die Streikkassen einzahlen kann. In Frankreich sind solche Geldsammlungen bitter nötigt, denn anders als in Deutschland kommen hier die Gewerkschaften nicht für die durch den Streik anfallenden Lohneinbußen auf. Ein paar Tage später, vor der Aufführung des Stücks „Mystery Sonatas. For Rosa“ (gemeint sind Rosa Luxemburg und Rosa Parks) der belgischen Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker im „Théâtre du Châtelet“, stürmt eine Delegation der Theatersektion der der kommunistischen Partei Frankreichs nahestehenden Gewerkschaft CGT die Bühne und skandiert Parolen gegen die Rentenreform. In diesem in der Innenstadt gelegenen Theater ist das Publikum ungleich bürgerlicher. Es kommt vereinzelt zu Buhrufen. Der Großteil des Publikums solidarisiert sich jedoch, steht von seinen Plätzen auf, skandiert gemeinsam mit den Gewerkschafter:innen Parolen gegen die Rentenreform und applaudiert dem Gewerkschafter, der auf der Bühne für den kommenden Streik mobilisiert. Nach ca. 10 Minuten ist das Spektakel beendet und die eigentliche Aufführung beginnt. Man will sich gar nicht vorstellen, wie die Reaktionen ausgefallen wären, hätten Streikende eine ähnliche Aktion in einem deutschen Theater durchgeführt.

 

Die Streikbewegung explodiert

Als am Donnerstag den 23. März der inzwischen neunte Streiktag seit Beginn der Bewegung begangen wird, ziehen bereits seit einer Woche jeden Abend Spontandemonstrationen durch die Hauptstadt. Inzwischen sind auch einige Mitarbeiter:innen der Raffinerien in den Streik getreten. „Ein Schwarm spontaner Initiativen explodiert von allen Seiten, unangekündigte Arbeitsniederlegungen, Blockaden von Straßenachsen, Ausschreitungen oder einfache wilde Demonstrationen, studentische Vollversammlungen an allen Ecken, die Energie der Jugend auf der Concorde, auf der Straße“, , resümiert Fréderic Lordon euphorisch. Wie die Zeitungen am Morgen berichten, ist um 09 Uhr morgens an 15% der Tankstellen kein Treibstoff mehr erhältlich. In der Region Loire-Atlantique betrifft dies sogar mehr als 50% der Tankstellen. Von strategischem Interesse ist insbesondere die Raffinerie von Total in der Normandie bei Le Havre, die die Pariser Region und Flughäfen mit Brennstoffen versorgt. Die gestörte Kerosin-Verteilungskette und Streiks vom Flughafenpersonal führen zu massiven Flugausfällen. Die Regierung reagiert hierauf mit Zwangsdiensten für Raffinerie-Arbeiter:innen in Fos-sur-Mer, Gonfreville und Donges, die von der CGT-Anwältin als politische Instrumentalisierung bezeichnet wird: “Die Realität ist, dass die Regierung diesen Streik beenden will und so tut, als gäbe es einen zwingenden Grund. Aber wir reden hier nicht über Benzin für Krankenwägen, sondern über Kerosin für Flugzeuge.“

Die Mobilisierung am 23. März erweist sich erwartungsgemäß als massiv. Nach den Zahlen der Gewerkschaft CGT versammeln sich in Paris bis zu 800.000 und in ganz Frankreich insgesamt 3,5 Millionen Demonstrant:innen. Der Demozug verläuft zunächst ohne weitere Vorkommnisse. Die Wiederkehr der autonom geprägten Demospitze, die sich vor den Gewerkschaftszügen aufstellt, lässt Erinnerungen an die Bewegung gegen das Arbeitsgesetz von 2016 wach werden. Auf den Grands Boulevards wird die Stimmung zwischen den Bullen und der Demospitze angespannter und die ersten Auseinandersetzungen gefolgt von Tränengasbeschuss entzünden sich schnell. Zwischenzeitlich versucht die Polizei, wie 2016, die Demospitze vom Rest der Demonstration zu isolieren und einzukesseln. Die Menge antwortet darauf mit der Parole: „Nous aussi on va passer en force“ („Auch wir werden uns mit Gewalt durchsetzen“), woraufhin die Bullen uns mit Tränengas bis zur Atemnot übersäen. Nach kurzer Orientierungslosigkeit formiert sich der Zug neu und kann bis zum „Place de l’Opéra“ durchstoßen. Dort erwartet die Demo schließlich ein Kessel.

In den frühen Abendstunden brodelt es überall in Paris: im Westen bei Opéra, im Osten bei Bastille, im Zentrum bei Les Halles. Baustellengeräte, Zäune, Mülltonnen, E-Scooter, Fahrräder verbauen der Polizei den Weg. Diese Demos, die erneut extrem jung sind, haben sich auf die neue Form staatlicher Repression eingestellt. Konnten noch zur Zeit der Gelbwesten die neu eingesetzten mobilen und motorisierten BRAV-Einheiten der Polizei die Bewegungsfreiheit der Demonstrierenden leicht einschränken, so unterlaufen die diffusen, mobilen und klandestinen Spontandemos die Polizeistrategie. Wir ziehen wild durch die Straßen und sobald die aufheulenden Motoren der Einheiten zu hören sind, zerstreut sich die Menge, um Verhaftungen zu entgehen. Die Polizei zieht weiter und wenige Minuten später setzt sich der Demozug neu zusammen.

In Marseille geht es an dem Tag entspannter zu. An der Streikdemo beteiligen sich wieder mehr als 200.000 Menschen, also knapp ein Viertel der Einwohner:innen der Stadt. Dort bleibt es aber ruhig. Abends brennen im Viertel „La Plaine“ zahlreiche Mülltonnen, die für meterhohe Flammen und Gestank im ganzen Viertel sorgen. Auch in Marseille kommt es seit dem 16. März jeden Abend zu Spontandemonstrationen, in deren Verlauf der nicht mehr abgeholte Müll in Flammen aufgeht – auch hier hat sich die Müllabfuhr nun dem Streik angeschlossen.

 

„Müssen wir die Rückkehr des Kommunismus fürchten?“

Es lässt sich in den letzten Tagen eine starke Beschleunigung der Bewegung und eine Radikalisierung ihrer Aktionsformen beobachten. Dies betrifft zum einen konkrete Streikaktivitäten – etwa Blockaden von Raffinerien und Müllverbrennungsanlagen –, zum anderen werden die Demonstrationen in den Städten immer unvorhersehbarer und militanter. Es scheint sich eine neue Generation von radikalisierten Jugendlichen aus den Städten der Bewegung anzuschließen, deren Hass auf den Status Quo und die Polizei zunimmt.

Positiv festzuhalten ist dabei, dass die Demonstrantinnen nicht dem bürgerlichen Demokratismus einer Bewegung á la „Nuit Debout“ aufsitzen. Auch wenn sich die Bewegung damals wie heute ausgehend von der Wahrnehmung eines demokratischen „Verrats“ formiert, der bei „Nuit Debout“ zur fragwürdigen Forderung einer 6. Republik mit neuer Verfassung führte und sich momentan in der Skandalisierung des antiparlamentarischen Artikels 49.3 ausdrückt, so scheint das Potenzial der Kämpfe heute größer zu sein. Noch konnte sich keine demokratische Fraktion an die Spitze der Bewegung stellen und sie durch ihren demokratischen Formalismus und endlose Debatten lähmen. Freilich ist es bislang auch noch keiner Bewegung von Kommunist:innen gelungen die Energie und Unzufriedenheit zu sublimieren.

Statt wie Lordon von einer „vorrevolutionären Situation“ zu fantasieren, gilt es daher, bei aller Schönheit der zarten vorwärtsweisenden Tendenzen, nüchtern die Grenzen und Schranken der Bewegung zu beleuchten. Sie fokussiert sich, in populistischer Manier, immer noch stark auf den «Autokraten» Macron. So könnten Teile der Bewegung schlechtestenfalls zum außerparlamentarischen Arm der von der sozialdemokratisch-linkspopulistischen „France Insoumise“ angeführten parlamentarischen Opposition regredieren. Anderseits könnte das Scheitern des parlamentarischen Misstrauensantrags auch ein ideologisches Antidot sein, welches der Bewegung zeigt, dass über das Ja oder Nein einer Reform nicht mehr in Form „parlamentarischer Hirnweberei“ (Marx) entschieden werden kann, sondern nur im Klassenkampf. Ein ängstlicher Newsfeed des privaten Fernsehsenders BFMTV lautete bereits: «Müssen wir die Rückkehr des Kommunismus fürchten?“
Hoffnungsvoll stimmt auch, was uns eine Genossin aus Marseille berichtet. Es komme momentan  zur Zusammenarbeit zwischen Leuten aus dem linksradikalen Milieu und Teilen der Gewerkschaften. Auf der einen Seite radikalisieren sich viele Gewerkschafter:innen, da sie feststellen müssen, dass ihre traditionellen Aktionsformen nicht mehr ausreichend sind: Die Regierung ignoriert die Millionen auf den Straßen beharrlich und regiert einfach durch. So lassen sich mittlerweile radikalere Praxen beobachten, seien dies sehr entschiedene Streiks, Blockaden oder brennender Barrikaden. Der Gewerkschaftssekretär Olivier Mateu von der CGT Bouches du Rhône – einer der Kandidaten für die Ende März anstehende Neuwahl der CGT-Führung – sagte etwa bezüglich der Zwangsdienste in den Raffinerien im französischen Fernsehen, dass sich die Arbeiter der Raffinerie in Fos-Sur-Mer auch von der Bereitschaftspolizei CRS nicht von der Blockade und Besetzung ihres Betriebes abhalten lassen werden. Sollte die Regierung sich entschließen, diese einzusetzen, um die Raffinerie zurückzuerobern oder um Zwangsrekrutierungen durchzuführen, werde diese schon merken, dass die Arbeiter dies nicht einfach mit sich machen lassen werden.

Ebenso berichtet unsere Genossin davon, dass sich Linksradikale aus Marseille an der Blockade der Zufahrtsstraßen der Raffinerie von Fos-sur-Mer beteiligt haben. Während der Vollversammlung der Bewegung wurde diese Woche darüber diskutiert, wie eine weitere Konvergenz mit den Kämpfen der Arbeiter:innen aussehen könne. Viele französische Linksradikale, die sich in den letzten 20 Jahren auf den urbanen „Aufstand“ konzentrierten, merken nun offenbar, dass diese Taktik ebenso ihre Grenzen hat. Schließlich konnten auch die Massenmobilisierungen auf den Straßen und die damit einhergehenden Krawalle, wie während der Bewegungen von 2016 oder 2018ff., nichts gegen die Regierungsprojekte ausrichten. Eine stärkere Verbindung mit Arbeiter:innenstreiks und -kämpfen sei deshalb eine wichtige Weiterentwicklung. Oder wie unsere Genossin augenzwinkernd sagt: „In meinem Herzen bin ich eine 16jährige Gymnasiastin geblieben, und ich liebe einfach die brennenden Mülltonnen auf den allabendlichen Spontis. Faktisch bin ich aber nun mal eine Kommunistin Ende 30 und ich weiß, dass ein paar brennende Mülltonnen nicht ausreichen werden. Daher ist diese zunehmende Verbindung mit den Kämpfen und Streiks in den Betrieben und Fabriken eine ganz wichtige Entwicklung.“

Klar ist auf jeden Fall, dass sich die politische Krise verschärfen wird. Ein neuer Streiktag ist für Dienstag, den 28.03., angesetzt. Macron sagt derzeit alle öffentliche Termine ab und auch der geplante Besuch des britischen Königs wurde abgeblasen. Es bleibt abzuwarten, ob das Verfassungsgericht Macrons Reform zensieren wird und somit den eingereichten Klagen der Opposition recht gibt. Derweil vertiefen sich auch alte Kampffronten, die mit den Protesten gegen die Rentenreform zusammenlaufen könnten: in Sainte Soline haben am Samstag 30.000 Demonstrant:innen gegen den Bau eines riesigen Wasserbeckens protestiert, welches den Wasserkreislauf und lokale Ökosysteme bedrohen würde. Auch hier setzen die Bullen auf massive Repression. Einer der Demonstranten wurde von einer Granate am Kopf getroffen und liegt im Sterben. Macrons Reform inszeniert sich mit dem Argument einer demografischen Nachhaltigkeit, die im Grunde nur den Kurzzeitinteressen kapitalistischer Profite dient. Sie will den Alterungsprozess der Gesellschaft finanzieren, ohne dabei die Profitraten zu senken. Wer dem Alterungsprozess jedoch wirklich nachhaltig entgegenwirken will, der kämpft gegen die Verlängerung der Arbeitszeit und für die Abschaffung der Lohnarbeit.