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Sieben konstruktive Fragen zur Weltcommune

Sieben konstruktive Fragen zur Weltcommune

16. April 2022

„Ein Grund der gegenwärtigen Schwäche der europäischen Linken ist ihr Unvermögen, in ausreichendem Detail zu spezifizieren, was ihre alternative Vision beinhaltet und wie sie mit den mannigfaltigen Komplexitäten des sozialen Lebens in modernen Gesellschaften umgeht” (Breitenbach et. al. 1990, IX).

Die „Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft“ schreiben im Text Umrisse der Weltcommune vieles Richtige und Sympathische über die anstrebenswerte nachkapitalistische Gesellschaft. Sie betonen zu Recht: Es wird keine Gesellschaftstransformation geben, wenn eine konkrete Realutopie fehlt.

1. Elemente einer anderen gesellschaftlichen Vermittlung

Erst nach gründlicher Analyse, inwieweit das, was in der bestehenden Gesellschaft existiert, durch die herrschenden gesellschaftlichen Strukturen und Formen „kontaminiert“ ist, lässt sich fragen: Welche Potentiale und Strukturen,Regularien und Instrumente bilden Ansätze dafür, sie weiterzuentwickeln und sie als Momente einer nachkapitalistischen Gesellschaft zu verwenden? Die Verfasser des Textes zur „Weltcommune“ betonen zu Recht, dass keine ausgedachte Utopie den gegenwärtigen Verhältnissen entgegengestellt werden kann, sondern nach Elementen im Bestehenden zu suchen sei, die den „Vorschein“ (S. 13)1 einer nachkapitalistischen Gesellschaft enthalten. Warum konkretisieren die Verfasser diesen Gedanken nicht, indem sie sich auf einschlägige Ansätze für Strukturen und institutionelle Regelungen „einer anderen gesellschaftlichen Vermittlung“ (S. 12) beziehen? Gemeint sind:

a) die Verringerung des Stellenwerts des Preismediums durch qualitative Indikatoren. Beispiele für bereits gegenwärtig existierende qualitative Indikatoren sind: Materialintensität pro Serviceeinheit (MIPS), DGB-Index Gute Arbeit, der Human-Development-Index oder das Corporate Responsibility-Rating. Zugrunde liegt die Erfahrung: Preise sind unterkomplexe Informationskonzentrate. Sie sind nicht in der Lage, das Konsequenzenspektrum wirtschaftlichen Handelns in aller Breite sichtbar zu machen. Vieles, wofür sich kein Marktpreis bildet bzw. nicht bilden kann (z. B. Lebensqualität des Arbeitens, Gesundheit u. a.), entzieht sich monetärer Bewertung.

b) Eine Informationsinfrastruktur ist weiter zu entwickeln, die die qualitativen Wirkungen und Voraussetzungen von wirtschaftlichen Aktivitäten und Angeboten vergegenwärtigt. Beispiele für bereits gegenwärtig existierende Instrumente sind Produktlinienanalysen, Umweltbilanzen, Umweltverträglichkeitsprüfungen und Technikfolgeabschätzungen.

c) Relevant ist eine alle Voraussetzungen und Wirkungen des jeweiligen Betriebs umfassende Bilanzierung und ein nicht ausschließlich finanzielles, sondern auch die qualitativen Indikatoren einschließendes Rechnungswesen. Viele Unternehmen fertigen bereits Sozial-und Umweltbilanzen an. Es gilt, sie weiter zu entwickeln, sie in umfassende Bilanzen zu integrieren und diese zur Grundlage wirksamer Steuerung zu machen. Erforderlich wird ein „stofflich-vieldimensionaler Wertbegriff“ im Unterschied zur Maxime „Wert ist, was Geld kostet oder bringt“ (Freimann 1984, 22). Einen zu diskutierenden Ansatz bilden die gegenwärtigen Konzepte zur „Nachhaltigkeits-“ bzw. „Gemeinwohlbilanz“. Wer fragt, wie eine „Nachhaltigkeitsbilanz“ oder „Gemeinwohlbilanz“ aussehen kann, findet dazu Vorschläge bei Bender, Bernholt, Winkelmann (2012, S. 137-143) oder bei Christian Felber. Dass diese Autoren sich Illusionen über die Grenzen dieser Bilanzen in der kapitalistischen Ökonomie machen, mindert noch nicht zwangsläufig den Wert der Konzepte für das Nachdenken über eine nachkapitalistische Gesellschaft. Auf Probleme solcher Bilanzen gehe ich in Punkt 6 dieses Textes ein. 

d) Es gilt, den Informationsfluss innerhalb der Ökonomie entlang der Wertschöpfungsketten anzueignen bzw. zu vergesellschaften. Dies findet bereits ansatzweise in Netzwerken von Gewerkschaften, Umweltverbänden und NGOs statt.

e) Anknüpfen lässt sich an Netzwerke zwischen verschiedenen Herstellern und Zulieferern oder an die Entwicklungszusammenarbeit zwischen verschiedenen Betrieben. Beide funktionieren bereits gegenwärtig partiell ohne Markt- und Konkurrenzverhältnisse, häufig aber mit Machtgefällen.2

Wer unbedingt nach einer zusammenfassenden Formel für die genannten Momente sucht, könnte überlegen, ob die Formulierung „Sozialisierung des Marktes“ (Elson 1990) im Unterschied zu Marktsozialismus passt. Deutlich geworden sein dürfte: Um ein funktionales Äquivalent der Märkte (erfülle ihre Aufgaben mit anderen Mitteln) handelt es sich nicht, sondern um eine Überwindung von denjenigen in Märkten enthaltenen Abstraktionen, die zu kritikwürdigen Trennungen, Gegensätzen und Eigendynamiken führen.3

Wer die verschiedenen Momente zusammen nimmt, bemerkt: Märkte werden sowohl durchwirkt als auch überformt und der Bedarf nach ihnen verringert sich  z. T. (z. B. durch den Bedeutungszuwachs des öffentlichen Konsums im Unterschied zum privaten Konsum, durch die Orientierung an dauerhaften Gütern i. U. zu geplantem Verschleiß ), so dass unklar ist, ob das, was daraus entsteht, mit heutigen Märkten viel gemein hat. Gegenüber der bei radikalen Linken notorischen Überzeugung „Märkte lassen sich leicht durch etwas anderes ersetzen“ hat z. B. Erik O. Wright (2021) in der Kontroverse mit Robin Hahnel herausgearbeitet, wie trotz dessen expliziter Ablehnung von Märkten manche von Hahnels positiven Vorschlägen just marktanalog funktionieren, ohne dass er sich dessen bewusst wird.  Das von Pseudoradikalen nur äußerlich Negierte und nicht gründlich Durchdachte (Märkte) reproduziert sich in den Konzepten, die sie als Patentrezept zur  endgültigen Verabschiedung von Märkten offerieren. Fixiert auf die selbstgenügsame Selbstgewissheit in Bezug auf ihre undurchdachten Zielvorstellungen, die ihnen als unbestreitbar gelten, können sie diese Erfahrung nicht reflektieren.

Die nachkapitalistische Gesellschaft steht vor der Aufgabe, die Proportionierung der vielen wirtschaftlichen Aktivitäten und ihre Vermittlung auf eine bestimmte, im Folgenden (in diesem Abschnitt und in Abschnitt 6) näher erläuterte Weise gesellschaftlich zu gestalten. Es stellen sich folgende Fragen:

  1. Wie können verschiedene Vorgänge, Güter, Arbeiten gemessen und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden (Kommensurierungsproblem), ohne dass entsprechende Abstraktionen (z. B. durch Bepreisung) sich zum Nachteil der Qualität von Gütern und Arbeiten auswirken?
  2. Wie wird das Informationsproblem gelöst? D. h.: Wie lassen sich Informationen über Bedürfnisse, technische Neuerungen, Lagerbestände, Produktionskapazitäten u. ä. erlangen? Wie kommen diese Informationen dort an, wo sie gebraucht werden? Wie wird eine interkollektive Diffusion von Neuerungen und Erfahrungen (zwischen den verschiedenen Gruppen bzw. Belegschaften) möglich – im Unterschied zu Zurück- oder Geheimhaltung von Informationen vor dem Hintergrund von Ressortdenken, Abteilungs- und Betriebsegoismus? Wie wird der strategische Umgang mit Informationen und Kompetenzen vermieden? (Gemeint ist die Manipulation des Auftraggebers durch die Beauftragten. Letztere haben oft einen Informations- und Kompetenzvorsprung.)
  3. Wie werden Ressourcen verschiedenen Bereichen, „Leistungsträgern“ und Aufgaben so zugeteilt, dass sowohl die gesellschaftlich effizientesten Effekte entstehen als auch Lösungen, die den gesellschaftlichen Wertvorstellungen möglichst weit entsprechen? (Allokationsproblem)
  4. Wie werden Steuerungsprobleme gelöst? Wie ist zu gewährleisten, dass Steuerungsimpulse dort ankommen, wo sie wirken sollen?
  5. Wie werden Integrationsprobleme gelöst? Wie ist zu erreichen, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Betriebe und Organisationen einander zuarbeiten, also gute Leistungen füreinander erbringen? Wie lässt sich die Kompatibilität der verschiedenen Wirtschaftsaktivitäten ermöglichen? Wie lässt sich vermeiden, mit einer bestimmten Vorgehensweise, die eines der genannten sechs Momente (a-f) betrifft, ein anderes Moment zu beschädigen? Ein Beispiel: Subventionen können politisch gewollt, in Bezug auf „Kostenehrlichkeit“ aber problematisch sein. In der DDR war das Brot so billig, dass es als Viehfutter Verwendung fand.

f) Wie werden Angebote und Nachfragen miteinander abgestimmt?

Eine anstrebenswerte nachkapitalistische Gesellschaft gestaltet die benannten Aufgaben so, dass die Formen der wirtschaftlichen Regulierung sich nicht gegen die Bevölkerung verselbständigen. Mit der Suchrichtung „Sozialisierung des Marktes“ (oder besser: der Märkte) wird gefragt: Was ist erforderlich dafür, dass „die vermittelnde Bewegung der austauschenden Menschen“ nicht länger besteht im „abstrakten Verhältnis des Privateigentums zum Privateigentum, und dies abstrakte Verhältnis ist der Wert“ (MEW-Erg.bd.1, S. 446f.)? Wird diese „vermittelnde Tätigkeit selbst entäußert“ (z. B. an die Entwicklung von Preisen und Profitraten), missraten „die Beziehung der Sachen“ und „die menschliche Operation mit denselben […] zur Operation eines Wesens außer dem Menschen und über dem Menschen“ (ebd.).

Marktsozialistische Konzepte, die Märkte als Mittel der ökonomischen Vermittlung und gesellschaftlichen Synthesis einsetzen wollen, ignorieren, dass Märkten spezifische Trennungen und Abstraktionen eigen sind. Diese tragen zu einer Verselbständigung des ökonomischen Geschehens gegen die Individuen bei, und lassen sich durch eine äußerliche politische Rahmung von Märkten nicht überwinden. Zentrale Probleme des „Marktsozialismus“ fasse ich zusammen in Creydt (2020, Pkt. II.d.).

Eine politische Steuerung steht in der Gefahr, zu einem politischem Subjektivismus und Voluntarismus zu tendieren. Dann werden „innerökonomische“ Wechselbeziehungen und Rückkopplungsverhältnisse übergangen (z. B. zwischen Ausgaben und Einnahmen, zwischen Ausgaben für Konsum und für Investivgüter oder zwischen einander ausschließenden Verwendungsweisen von Produktionsmaterialien und Maschinen). Zentrale Probleme von Planwirtschaft fasse ich zusammen in Creydt (2020, Pkt. Ib).

Notwendig wird es, nachkapitalistische Formen von Informations-, Koordinations-, Rückkoppelungs- und Regulationsleistungen sowie Steuerungs- und Kommensurierungsleistungen zu denken, die bei einer weitreichenden und komplexen wirtschaftlichen Vernetzung erforderlich sind. Einige dieser Formen habe ich am Anfang von Abschnitt 1 benannt, andere folgen nun.

2. Institutionen

Das gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die nachkapitalistische Gesellschaft. Mit ihm ist nicht geklärt, wer in Bezug auf was entscheidet, wer Mitsprache- und Vetorechte hat usw. Es enthält keine Antwort auf die Frage nach dem Informations- und Kompetenzgefälle zwischen Auftraggeber und Beauftragten.4 Die Verfasser des „Weltcommune“-Textes betonen zu Recht gegen ein institutionalistisch verengtes Verständnis von Gesellschaft die Relevanz der grundlegenden Veränderung der Mentalitäten. Warum verabsolutieren sie dieses Moment und äußern sich nicht zu Regelungen bzw. institutionellen Elementen, die bereits in der Gesellschaft mit hochentwickelter kapitalistischer  Ökonomie entstehen und die es erleichtern, die Tendenzen zur Verselbständigung der Ökonomie gegen die Menschen in der nachkapitalistischen Gesellschaft einzuhegen?

Gemeint sind z. B.:

a) Organisationen, die die kontinuierliche Beobachtung von Betrieben und ökonomischen Prozessen ermöglichen. Heutige Beispiele sind food-watch, lobby-control, Coordination gegen Bayer-Gefahren (eine seit 1978 bestehende Organisation zur Beobachtung und Kritik des weltweit agierenden Konzerns Bayer),

b) unabhängige Institutionen, die Betriebe und Organisationen evaluieren (heutige Vorform: Rechnungshöfe),

c) Einwirkung auf Betriebe (je nach ihren Punktwerten in der umfassenden Bilanz) durch Auftrags- und Kreditvergabe (gekoppelt an qualitative Vorgaben), Besteuerung, Subvention,

d) gesellschaftliche Entscheidung über Proportionen (z. B. zwischen Arbeit und Konsum, zwischen öffentlicher Daseinsfürsorge bzw. öffentlichen Gütern und privatem Konsum). Die Vereinzelung der konsumtiven Nachfrage wird überwunden,

e) reflexive Institutionen.5

Eine Institution „für die Regulierung der öffentlichen Unternehmen” wird nicht wie die Behörden in den früheren Ostblockstaaten Produktionsziele festlegen und Produktionsmaterial verteilen, „sondern bestimmte demokratisch festgelegte Normen für die Nutzung öffentlicher Anlagen durchsetzen.“ Eine solche Institution würde im Namen der Gesellschaft „die Eigentumsrechte an den Unternehmen ausüben, während die Unternehmensangestellten auf Nutzerrechte beschränkt wären” (Elson 1990, S. 89f.). Die Entscheidung über die Bereitstellung von Investitionsmitteln für bestimmte Projekte bzw. Betriebe hat die verschiedenen dabei maßgeblichen Ziele gegeneinander abzuwägen: Auswirkung des Arbeitens und der Produkte auf das gute Leben, Notwendigkeiten im Rahmen der modernen Produktion, Technologie, Organisation und Vernetzung, ökologische Belange. „Schon heute werden staatliche Forschungsmittel, Projektgelder von Stiftungen, aber auch die Kredite ethischer Banken (wie der GLS-Bank) auf genau diese Weise, nämlich auf der Grundlage inhaltlicher Kriterien (also nicht nur von Gewinnaussichten) durch eine plural zusammengesetzte Kommission vergeben” (Raul Zelik 2020, 219). Gewiss existiert hier die Gefahr, dass Antragsteller informell diejenigen, die entscheiden, zu beeinflussen versuchen („Klüngel”). „Dem ließe sich entgegenwirken, indem man z. B. Anträge anonymisiert, die Entscheidungsgremien demokratischer Kontrolle unterwirft und ein polyzentrisches Netz zur Mittelvergabe schafft. Wenn nicht ein einziges Ministerium, sondern viele Stellen und Stiftungen öffentliche Gelder vergeben, würde verhindert, dass sich Verfügungsmacht konzentriert” (ebd., S. 222).

Der anzustrebende Relevanzverlust des Privatinteresses (massive Verringerung des „Besitzindividualismus“ bzw. der Orientierung im Horizont partikularer Sondervorteile („Egoismus“)) wird gefördert durch die Ausweitung der öffentlichen Daseinsvorsorge (das schließt z. B. ein Verkehrswesen ein, das privaten Autobesitz weniger nötig macht.), den Ausbau von Infrastrukturen, die das Ausleihen von nur zeitweise von den Individuen benötigten Gütern und Werkzeugen ermöglichen und Regelungen, die der individuellen Übernutzung von Gemeingütern und dem Trittbrettfahrerverhalten entgegenwirken.

Die genannten Regelungen und Institutionen bilden den notwendigen Außenhalt, den unerlässlichen „Unterbau“ oder das stützende „Skelett“ der veränderten Mentalitäten. Der Hinweis im „Weltcommune“-Text auf die grundlegenden Veränderungen der Mentalitäten in der gelingenden nachkapitalistischen Gesellschaft im Unterschied zur bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie ist relevant. Als Wundermittel können diese Veränderungen nicht gelten. Sie stellen keine Jokerkarte dar, die das Durchdenken eines Problems ersetzt. Auch in einer nachkapitalistischen Gesellschaft wird es trotz veränderter Mentalitäten unterschiedliche Interessen, positionsspezifische Wahrnehmungen und Perspektiven geben – zwischen verschiedenen Gesellschaftsbereichen, Branchen, Regionen und Fraktionen der Bevölkerung. Die Veränderungen der Mentalitäten bilden zudem keine Antwort darauf, wie sich Informations-, Koordinations-, Rückkopplungs- und Regulationsleistungen erbringen lassen, die bei einer weitreichenden und komplexen wirtschaftlichen Vernetzung erforderlich sind. Diese Probleme wurden in Abschnitt 1 des vorliegenden Textes ausgeführt.

Eine konkrete Realutopie der nachkapitalistischen Gesellschaft ohne Bewusstsein für den Stellenwert von Institutionen gibt es nicht.6

3.  Informations- und Kommunikationstechnologien

Die Euphorie für Computer sowie Informations- und Kommunikationstechnologien ist weit verbreitet. Warum schließen (auch) die Verfasser des Textes zur „Weltcommune“ von den gestiegenen Möglichkeiten, große Datenmengen zu berechnen, auf die Berechenbarkeit von Gesamtzuständen? Wie lässt sich die für die Planung vorauszusetzende Treffsicherheit von wirtschaftlichen Prognosen sicherstellen, wenn die Komplexität der in sie eingehenden Faktoren die Komplexität von Wetterprognosen weit übersteigt? Deren Fortschritt besteht trotz modernster Messungsmethoden und großer Rechnerkapazitäten darin, dass vor 30 Jahren sich das Wetter einen Tag voraus vorhersagen ließ, jetzt drei Tage (Pappenberger, Cloke 2019, S. 17). Es handelt sich um „offene Systeme, die durch seltene, unvorhersehbare Ereignisse beeinflusst werden, um Systeme mit nichtlinearen Zusammenhängen multipler Faktoren. Die klassische Naturwissenschaft gelangt hier oft nur schwer zu Aussagen“ (Bechmann, Gloede 1991, S. 127f.). Schon Wilhelm Busch wusste: „Stets findet Überraschung statt, da wo man’s nicht erwartet hat.“ „Auch in einer zentral geplanten Volkswirtschaft existieren sog. exogene Variablen und Ereignisse, die nicht geplant, vorhergesehen und beeinflusst werden können. Wenn solche ungeplanten Einflüsse an irgendeiner wichtigen Stelle die Planerfüllung unmöglich machen, pflanzt sich dieser Effekt gemäß der Verflechtungsmatrix durch die gesamte Volkswirtschaft fort. Der Plan bricht zusammen“ (Kleinewefers 1985, S. 427). Unklar bleibt zudem das Verhältnis zwischen dem Ziel „Wir berechnen alles in Echtzeit“ und dem Ziel ausführlicher und umsichtiger demokratischer Beratung und Erwägung.7

4. Komplexität

Der „Weltcommune“-Text plädiert für „eine hochentwickelte gesellschaftliche Selbstorganisation“ (15), die Markt und Staat überwinden können soll. Die Verfasser sind sich „der Größe der Herausforderung“ bewusst, „den losgelassenen Partikularismus der bürgerlichen Marktökonomie anders zu überwinden als durch staatlichen Zwang, der jedem Einzelnen seinen Platz zuweist“ (S. 12). Der „Weltcommune“-Text zeigt in der Kritik an der Arbeitszeitrechnung ein Problembewusstsein für die Komplexität moderner8 Ökonomie. Er macht sich von dieser Komplexität aber keinen Begriff. Im Folgenden zwei Hinweise dazu: In Bezug auf das Wirtschaften in einer nachkapitalistischen Gesellschaft stellt sich z. B. die Frage: „Soll der Produktionszweig A expandieren?“ Zur Beantwortung wird es erforderlich, die Kosten und Erträge dieser Expansion zu ermitteln. Dafür muss geklärt werden, wie sich die Expansion der Branche A auf die Branchen B, C, D ff. auswirkt. Entspricht dem Wachstum in Branche A eine Schrumpfung oder ein Wachstum der Branchen B, C, D? Muss man auf etwas anderes verzichten, wenn man mehr Produkte von einer Sorte haben will? Was sind die Effekte davon, dass ein Produkt ein anderes ersetzt? „Jede einzelne Entscheidung hängt in einem Prozess gegenseitiger Determinierung von allen andern ab“ (Lindblom 1983, S. 124). Der zweite Hinweis zur Komplexität moderner Ökonomie erinnert an die in Abschnitt 1 genannten sechs Koordinations- und Steuerungsaufgaben modernen Wirtschaftens. Der Aufmerksamkeit für solche Fragen steht eine lange Tradition bei denjenigen Linken entgegen, die radikal mit rabiat verwechseln. Ein Statement eines Ökonomen aus der frühen Zeit des Stalinismus lautet: „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Wirtschaft zu studieren, sondern sie zu verändern. Wir sind nicht durch Gesetze gebunden. Es gibt keine Festungen, die nicht von den Bolschewiki eingenommen werden könnten. Die Frage des Tempos wird von den Menschen entschieden“ (zit. n. Shapiro 1961, 386). Diese Mentalität ist auch charakteristisch für die Politik des „großen Sprunges“ und für die „Kulturrevolution“ in China.

Im „Weltcommune“-Text heißt es: „Produktionsstätten könnten weltweit ihre Auslastung aufeinander abstimmen, den stofflichen Verkehr unter sich regeln und Erfahrungswissen austauschen“ (S. 14). Aber wie verfahren sie dabei? Wie schaffen sie es bzw. was ermöglicht es, dass sie das „können“? Die trockene Versicherung, die Informationstechnik mache alles möglich, können die Leser glauben oder nicht. Bereits die „Informationen“ bleiben nicht untangiert von Interessenunterschieden z. B. zwischen den Zielen des einzelnen Betriebs oder einzelner Bereiche und gesamtgesellschaftlichen Belangen.

Viele Linke schaden ihrer Kritik an derjenigen Vergesellschaftung, die gegen viele Interessen und Bedürfnisse der Beteiligten verläuft und sich über Preisbewegungen und den Ausgleich der Profitraten reguliert, indem sie diese Kritik verknüpfen mit Unmittelbarkeits- und Transparenzfiktionen. Dann gilt ex- oder implizit die nachkapitalistische Gesellschaft als großes Kollektiv voller Einigkeit. Die Fiktion einer unmittelbaren Anerkennung der einzelnen Tätigkeit als gesellschaftliche Arbeit impliziert eine problematische Tendenz. Die der angenommenen Unmittelbarkeit bzw. Transparenz entsprechende fiktive „Lösung“ avanciert zu einer Norm. Sie gilt es dann gegen Störende(s) durchzusetzen. (Haug (1993, S. 136-139) sieht hier eine Problematik, die es zu begreifen gilt, wenn die Frage „Muss man den Stalinismus von Marx her denken?“ beantwortet werden soll.)  Wer sich von höherer Transparenz mehr Demokratie verspricht, sieht davon ab, dass „Information in Wissen und Wissen in politisches Urteil überführt werden“ muss (Baumann 2014, S. 406). Für diese Verarbeitung ist wiederum (Vor-)Wissen vorausgesetzt. Zum Problem wird die Informationsüberflutung. „Wenn die Informationsflut derart anschwillt, dass eine Entdeckung politischer Normverstöße nicht mehr zu befürchten ist, greift das Prinzip Öffentlichkeit ins Leere. Bei voller Transparenz wird die Politik in gewisser Weise also eher opak“ (ebd., S. 405).

Niemand wird davon ausgehen können, dass in einer hoch arbeitsteiligen Ökonomie die Menschen jeweils von sich aus wissen, wie sie am besten einen Beitrag leisten können für eine nachkapitalistische Gestaltung der Gesellschaft und Lebensweise. Das einzelne Individuum hat keinen unmittelbaren Kontakt (oder „Draht“) zum Ganzen der Gesellschaft – so wie der Protestant zu Gott. Im „Weltcommune“-Text heißt es: „So wie sich Menschen heute auf elektronischem Wege zu ‚Events‛ verabreden, könnten beispielsweise Landkommunen bekanntgeben, wann Erntehilfe willkommen wäre, und jeder könnte verfolgen, ob er noch gebraucht wird oder nicht“ (S. 14). Das klingt nach ‚peer production‛-Thesen. „Eine von jemand begonnene Arbeit hinterlässt Zeichen (gr. Stigmata), die andere dazu anregen, sie fortzusetzen. Ein wichtiger Teil der Kommunikation besteht darin, anderen solche Zeichen zu hinterlassen, etwa durch To-Do-Listen und Bug-Reports in Softwareprojekten und durch ‚rote Links’ (auf fehlende Artikel) in der Wikipedia“ (Siefke 2009, S. 254).

Warum setzen sich die Verfasser des „Weltcommune“-Textes nicht mit den zu peer-production-Thesen geäußerten Einwänden auseinander? Sie lauten: Hoch flexible Kontakte bei loser und spontaner Verknüpfung zwischen den Akteuren mögen in manchen Szenen funktionieren, reichen aber für verlässliches und kontinuierliches Zusammenwirken nicht aus. „Siefke sagt, die Peerproduzenten hinterlassen Hinweise, aus denen sich andere aussuchen können, was sie tun wollen. Das funktioniert vielleicht für manche relativ unwichtigen Dinge, wo es egal ist, wann sie getan werden. Aber um Getreide zu ernten? Um Stahl zu schmelzen oder Flugzeuge zu fliegen? Und das alles gut aufeinander abgestimmt?“ (Michael Albert, in: Contraste, September 2013). Was vielleicht bei Wikipedia sinnvoll erscheint – manche arbeiten punktuell und sporadisch an einzelnen Artikeln mit und gehen dann wieder ihrer Wege – ist nicht pauschal auf die Organisation anderer Arbeiten übertragbar. „Selbst bei Wikipedia funktioniert Stigmergie nur unter besonderen Bedingungen: Die Produktionsmittel (Rechner) stehen potentiell bei jedem zu Hause und sind – anders als ein Hochofen – nicht von vornherein auf ein bestimmtes Produkt festgelegt. Sie sind nicht in einem längeren Produktionsprozess gebunden. Die einzelnen Teilprozesse sind von einzelnen zu bearbeiten, was den Abstimmungsaufwand minimiert. Wird ein Artikel eine längere Zeit nicht geschrieben, hat das keine ernsteren Auswirkungen (anders als bei Arbeiten etwa im Wasserwerk). Vor allem aber: Wikipedia-Autoren sichern mit dem Artikelschreiben weder ihren Lebensunterhalt noch den anderer Leute – was dazu führt, dass sie es von heute auf morgen sein lassen können, wenn es ihnen stinkt!“ (Rüdiger Mats, Konkret 1/2017). Der „Weltcommune“-Text fragt bei seinem Beispiel (To-do-Listen für Erntehelfer) nicht, ob die landwirtschaftlichen Betriebe einer Planungssicherheit bedürfen, dass genügend Erntehelfer tatsächlich die Aufgaben anpacken. Zugrunde liegt das „Missverständnis, dass Ökonomie wesentlich in der Übernahme offener Aufgaben bestünde. Nehmen wir als Beispiel die Entscheidung der kubanischen Revolutionsregierung 1959, das Gesundheitswesen auszubauen.“ Diese Entscheidung „hatte Voraussetzungen im Bildungsbereich, im Bausektor, in der medizinischen Forschung, in der Rohstoffgewinnung – und auch überall da, wo bestimmte Ressourcen aufgrund der Entscheidung nicht (mehr) einsetzbar waren. Der Zusammenhang von Ziel und Voraussetzung ist in der Realität zu vermittelt, als dass die Bedürftigen (im kubanischen Beispiel: Kranke) und diejenigen, die Abhilfe schaffen können, über To-do-Listen miteinander kommunizieren könnten. Ein Baukollektiv kann selbst weder beurteilen, ob es genug Ärzte gibt, noch, ob es eher an Krankenhäusern oder eher an Arzneifabriken mangelt. Letzteres ist aber ein Problem, wenn beide Anforderungen gleichzeitig auf To-do-Listen im Netz stehen. Die Informationen liegen lokal nicht vor beziehungsweise müssen von Spezialisten interpretiert und priorisiert werden. Und das ist kein politisch neutraler ‚technischer‛ Prozess, sondern ein Vorgang, der Macht generiert, Macht, mit der in der befreiten Gesellschaft bewusst umgegangen werden müsste“ (Rüdiger Mats, Konkret 1/2017). „Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der es ständig unsicher ist, ob die Versorgung mit Lebensmitteln gelingt und die mangelhaft ausfällt, weil es an Arbeitskräften mangelt oder an Planung (gewisse Güter brauchen eben eine Vorlaufzeit und sind nicht sofort (re)produzierbar)"9.

5. Einwände gegen die Rätedemokratie

Für das Vorhaben, die politischen Formen der repräsentativen Demokratie zu überschreiten, lassen sich gute Gründe nennen. Der „Weltcommune“-Text plädiert für ein Rätesystem. Warum setzt er sich nicht mit den lange vorliegenden Einwänden zur Rätedemokratie auseinander?

Basis- und rätedemokratische Vorhaben stoßen auf das Problem des Zeitaufwandes, der erforderlich ist, um sich zu informieren, um zu kommunizieren und gemeinsame Lösungen auszuhandeln. Schnell werden die Aufmerksamkeitsspannen, Informationsverarbeitungskapazitäten und Kommunikationsfähigkeiten der Individuen überfordert. „Partizipationseliten“ und informelle Hierarchien sind die Folge. Die Aufteilung zwischen Menschen, die ihren vielfältigen Aktivitäten nachgehen, und Spezialisten für das Allgemeine entsteht aufs Neue in einer Rätedemokratie. Konzepte für die institutionellen Formen der gesellschaftlichen Debatten und Entscheidungsprozesse sind mit dem Wirrwarr der sich überschneidenden Zuständigkeitsbereiche verschiedener Gremien konfrontiert sowie mit einem hohen Abstimmungsaufwand zwischen ihnen. Die Zunahme von demokratischen Prozessen erhöht die Menge an Aushandlungsprozeduren. Die Zahl der Schnittstellen vergrößert sich und damit der Umfang von Organisationen, die die Prozesse vor- und nachbereiten.

Basis- und rätedemokratische Vorstellungen nehmen häufig latent oder explizit an, Menschen seien „ständig sprungbereite rationale, willensgesteuerte Verhandlungsmaschinen, die in ihren Kooperationszusammenhängen als ledige Einzelne permanent um ihre Freiheit und Gleichheit ringen und nur solche anerkennen, die sie selbst geschaffen haben und immer wieder verändern können. Die ideale Gesellschaft kann […] demnach nur eine Anhäufung freier Kooperationen, nur ein passendes Gefäß für die andauernden oder doch mindestens permanent möglichen Verhandlungen sein. Eine wirklich eigenständige Qualität besitzt die ‚moderne’ Großgesellschaft für ihn (den Anhänger der Basisdemokratie – Verf.) offenbar nicht“ (Kollmorgen 2003, S. 260).

Der Demokratismus steht immer in der Tendenz dazu, die Demokratie zu gefährden. Chaotische Verhältnisse resultieren aus dem „permanenten Tagen aller in allen sie betreffenden Organisationsbereichen“ und der „ständigen Möglichkeit des Umstoßens sachlicher und personeller Entscheidungen durch Basisgremien“. Wahrscheinlich ist „der Rückfall frustrierter Partizipanten in die Apathie“ (Vilmar 1973, S. 155f.).

Strittig ist bereits oft, welcher Personenkreis bei welcher Abstimmung abstimmungsberechtigt sein soll. Wie entscheiden die vielen kleinen Gemeinden gemeinsam über die gesamtgesellschaftlich erforderlichen größeren Produktionsanlagen und über die gesamtgesellschaftlichen Infrastrukturen? „Wer […] soll die Kontrolle über die Großbetriebe ausüben? Gemeinwesen München besitzt Siemens? Oder besitzt jedes Gemeinwesen, in dem ein Betriebsteil von Siemens steht, seinen Betriebsteil? Und blockiert dann die Gesamtproduktion, wenn es Unstimmigkeiten gibt?“ (Köstner 2010, S. 217). Schon das Beispiel von Stuttgart 21 zeigt, wie schwierig es ist zu entscheiden, wer von einem Projekt „betroffen“ ist: Die von den Baumaßnahmen geplagten Stuttgarter, die von den Veränderungen tangierten Bahnpassagiere oder die Steuerzahler, die für die Kosten aufkommen? Wie soll das Verfahren aussehen, in dem diese ganz verschiedenen Gruppen der Bevölkerung über das Bahnhofsprojekt entscheiden?

Einem mit der Rätedemokratie sympathisierenden Buch zufolge enthält „die Idee der direkten Rätedemokratie im Marxismus“ „das Prinzip der Aufhebung der Gewaltentrennung. Hiernach sollen die legislative, exekutive und jurisdiktionelle Gewalt zu einer Zentralgewalt verschmolzen werden, […] welche dadurch gesetzgebende, vollziehende und richterliche Befugnisse zugleich erhalten“ (Tschudi 1973, 48). Teilen die Verfasser des „Weltcommune“-Text diese Position?

Der „Weltcommune“-Text bezieht sich positiv auf Pannekoeks Deklamation: „Die Räte […] sind Boten, die die Meinungen, die Absichten und das Wollen der Arbeitergruppen vermitteln und überbringen“ (S. 13). Das klingt nach „imperatives Mandat“. Wie verträgt es sich mit einem mehrstufigen System der Delegation in einer Gesellschaft mit einer hohen Bevölkerungszahl? Wie antworten die Verfasser auf die Einwände zum imperativen Mandat, die aus jahrzehntelangen Erfahrungen mit ihm (in sozialen Bewegungen und in grün-alternativen und linken Parteien) entstanden? Wer sich für immanente („Konstruktions“-)Problemen der Rätedemokratie interessiert, wird um Kevenhörsters Analyse (1974) nicht herumkommen. 

6. Wie Quantität und Qualität ins Verhältnis setzen?

Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden kann, zählt!“ (Albert Einstein).

Affirmativ ist im „Weltcommune“-Text die Rede von einem „Cybersozialismus, der Bedürfnisse weltweit und in Echtzeit zu erheben in der Lage wäre und die Produktion entsprechend gestalten könnte“ (S. 7). Die Leserin trifft ab und zu im Text auf Worte („erheben“), die eine Lösung offerieren sollen, faktisch aber ein offenes Problem übergehen. Die Antwort scheint schon da zu sein, bevor die Fragen, die die jeweilige gesellschaftliche Problematik aufwirft, vergegenwärtigt und durchdacht werden.

Wer alles berechnen können will, muss auch alles  berechenbar  machen. Zwar muss es in einer Gesellschaft gewiss eine Rechenschaft davon geben, welche Ziele welchen Aufwand an Arbeitskraft und Ressourcen erfordern und wie viel Arbeitskraft und welche Ressourcen vorhanden sind. Gegebenenfalls müssen in einer nachkapitalistischen Gesellschaft die Mitglieder der Bevölkerung darüber beraten und entscheiden, welche Ziele bei Überschuss der Projekte über die Ressourcen erst- und welche Ziele nachrangig erreicht werden sollen. Die Berechnung fällt leichter, wenn die wirtschaftlichen Maßstäbe letztlich alle Arbeiten und Dienstleistungen an der Elle quantitativer Maßstäbe messen. Dies findet in der kapitalistischen Ökonomie statt. Hier ist das Rechnungskriterium die Profitabilität. Auch der Maßstab moderner Organisationen (Effizienz bzw. Minimax-Prinzip: möglichst viel Ergebnis bei möglichst geringem Kostenaufwand), wie er z. B. in Betrieben der DDR offiziell angelegt wurde, ist relativ leicht quantifizierbar. Anders sieht es bei den Erfolgskriterien einer nachkapitalistischen Gesellschaft aus. Gute Krankenbehandlung, guter Unterricht und guter Umgang mit Senioren in der Altenpflege lassen sich nicht wie in einer Fabrik oder einer die Steuererklärungen abarbeitenden Verwaltung „effizient“ erledigen, ohne dem jeweiligen Arbeitsinhalt zu schaden. Zudem ist in der nachkapitalistischen Gesellschaft die Arbeit selbst sowohl negativ (Vermeidung der Überarbeitung und Auslaugung der Arbeitenden) als auch positiv (Arbeit als Dimension der Bildung menschlicher Vermögen10) viel stärker durch qualitative Vorgaben durchwirkt. Diese Vorgaben unterscheiden sich von einer rein instrumentellen Zweck-Mittel-Logik (möglichst viel Ergebnis bei möglichst wenig Aufwand) ums Ganze. Das betrifft nicht nur die Seite der Arbeitenden, sondern bei Dienstleistungen auch die Seite der Personen, die als Schüler unterrichtet, als Kranke behandelt und als Senioren gepflegt und betreut werden.

In einer nachkapitalistischen Gesellschaft ist die Qualität nicht der Quantität untergeordnet wie in der kapitalistischen Ökonomie. Qualität spielt in letzterer nur als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung eine Rolle. Produktionsprozesse müssen immanent funktionieren und Waren sollen auf eine profitable Weise hergestellt werden. Diese Unterordnung von Qualität unter Quantität findet in einer anstrebenswerten nachkapitalistischen Gesellschaft nicht statt.

Warum stellen sich die Verfasser des Textes zur „Weltcommune“ nicht dem Problem, wie Quantität und Qualität im Denken und praktisch in der Bilanzierung von Bedürfnissen, notwendigen Mitteln, vorhandenen Kapazitäten sowie „Neben“effekten des Arbeitens und Konsumierens ins Verhältnis zueinander gesetzt werden können? Hegel und Marx beziehen sich mit dem Begriff des Maßes auf die Einheit von Qualität und Quantität eines Inhalts unter Primat der Qualität. „Die Größe aber und deren Änderung als bloße Größe ist eine für das Qualitative gleichgültige Bestimmtheit, wenn sie sich nicht als Maß geltend macht. Das Maß nämlich ist die Quantität, insofern sie selbst wieder qualitativ bestimmend wird, so dass die bestimmte Qualität an eine quantitative Bestimmtheit gebunden ist“ (Hegel 13, S. 181). Ein anschauliches Beispiel für das qualitative Maß ist die Kunst. „Ein lyrisches Gedicht hat in seiner Beschaffenheit das Maß seiner Größe. Wenn die Empfindung sich breit macht, so wird sie langweilig. Nichts ist weniger poetisch als das Langweilige. Wenn ein lyrisches Gedicht lang ist, so hört es auf, poetisch zu wirken und zu sein, oder es verliert wenigstens an seiner poetischen Geltung. Umgekehrt braucht ein erzählendes Gedicht, um anschaulich darzustellen, eine gewisse Fülle des Spielraums, die ein ausgedehntes und bequemes Größenmaß fordert. Man kann nicht in derselben Kürze erzählen als empfinden. Ein anderes qualitatives Maß hat die lyrische Poesie, ein anderes die epische“ (Fischer 1865, S. 315).

Maßverhältnisse betreffen in der nachkapitalistischen Gesellschaft z. B. die Proportionen zwischen den Bedürfnissen der Arbeitenden nach Lebensqualität in der Arbeitszeit und den Bedürfnissen der Konsumenten nach guter Versorgung mit Produkten. Das ist ein Beispiel von vielen, das zeigt: Die beliebte Rede von leichter elektronischer Kommunikation als Argument dafür, mit ihr sei die gesellschaftliche Vermittlung eigentlich kein großes Problem mehr, stellt sich nicht den zugrunde liegenden Fragen der gesellschaftlichen Beratung, Erwägung und Entscheidung über die vielen konkreten Verhältnisse zwischen Quantität und Qualität.

Die vielen konkreten Verhältnisse zwischen Quantität und Qualität werden auch in jeder Nachhaltigkeits- und Gemeinwohlbilanz (s. Abschnitt 1 des vorliegenden Textes) zum Problem. Solche Bilanzen wollen ja verschiedene Qualitäten in Punktwerten darstellen. Nimmt die Quantifizierung von Qualitäten den Qualitäten das, was sie qualitativ ausmacht?

Ein Beispiel: „Den Schritt zu einem übersichtlichen und als Informationsgrundlage für umweltbezogenes Handeln brauchbaren Aussagensystem vollzieht im Konzept der Öko-Buchhaltung die Bewertung der Mengen mit Hilfe von sog. Äquivalenzkoeffizienten. Dies sind ‚Gradmesser der ökologischen Knappheit der betreffenden Einwirkungsart (Erschöpfungsgrad bei Rohstoffreserven, Beanspruchungsgrad des Aufnahmevermögens der Umwelt bei Emission)‛ (Müller-Wenk 1978, S. 17). Durch Multiplikation von Einwirkungsmenge und je spezifischem Äquivalenzkoeffizienten werden ökologische Rechnungseinheiten (RE) errechnet, die auf Grund einheitlicher Dimension addier- und subtrahierbar sind. Man erhält ‚eine Maßzahl der Gesamteinwirkung des Unternehmens auf die natürliche Umwelt während der entsprechenden Periode‛ “ (Freimann 1984, S. 28).

„Wo das Geld versagt, als ‚Gradmesser der ökologischen Knappheit‛ zu dienen, weil ihm Eigenschaften von Gütern und Leistungen nur in ihren unmittelbar geldwirksamen Dimensionen erfassbar sind, wird hier also mit dem Äquivalenzkoeffizienten eine Art ‚Öko-Währung‛ eingeführt, eine künstliche Dimension geschaffen, die helfen soll, die Umwelteinwirkung eines Unternehmens zu aggregieren und mit derjenigen anderer Unternehmen insbesondere in anderen Branchen vergleichbar zu machen“ (ebd., S. 29). Genau darum kommt eine nachkapitalistische Gesellschaft nicht herum. Auch in ihr sind in der Proportionierung der verschiedenen Arbeiten, Leistungen und Güter diese zu vergleichen und zu berechnen. Es handelt sich um das in Abschnitt 1 benannte Kommensurierungsproblem.

Zum Problem wird, dass auch Bilanzen, die Qualitäten berücksichtigen, wie die Nachhaltigkeits- und Gemeinwohlbilanzen, „durch eine Punktbewertung der unterschiedlichen Qualitätsdimensionen gleichsam hinten herum Elemente der Gelddimension wieder einführen. Das hat insbesondere die Konsequenz, dass eine Aufrechnung unterschiedlicher qualitativer Dimensionen gegeneinander möglich wird, die geeignet ist, sowohl Mängel in der einen Dimension als auch Erfolge in der anderen zu nivellieren.

Wer z. B. recycling-freundliche Produkte herstellt, hierzu aber ein Produktionsverfahren mit erheblicher Schadstoffabgabe in die Luft verwendet, steht in Bezug auf die Inanspruchnahme von ökologischen Rechnungseinheiten eventuell ebenso da, wie ein Unternehmen, das in beiden Bereichen eher einen Mittelwert hält.

Dagegen stehen Verfahren, die auf Aggregierung verzichten und die erfassten qualitativen Informationen lediglich katalogartig auflisten. Sie haben diesen Mangel nicht, bieten aber nicht die Möglichkeit einer kompakten, übersichtlichen Handhabung. Bei diesen Varianten fehlt zudem die systematische, theoriegeleitete In-Bezug-Setzung der verschiedenen qualitativen Dimensionen und des Beziehungsgefüges zwischen ihnen“ (ebd., S. 41).

7. Weltcommune?

Warum nennen die Verfasser die von ihnen angestrebte Gesellschaft „Weltcommune“? Gewiss bedarf es internationaler Absprachen und internationaler Solidarität. Wie sieht aber die „Gemeinschaft“ aus, die im Weltmaßstab eine „gemeinschaftliche Produktion mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln“ (S. 2) „gemeinschaftlich“ gestaltet? Gesellschaft und Gemeinschaft unterscheiden sich ums Ganze. Argumente gegen übertriebene Erwartungen an eine weltweite Gemeinschaft und guten Gründen für Deglobalisierung stelle ich in Creydt 2021a vor.

Schluss

Der „Weltcommune“-Text hält in der anzustrebenden Gesellschaft den „Wechsel zwischen Tätigkeiten in verschiedenen Bereichen“ (S. 14) für leicht möglich und plädiert für die „möglichst rasche Auflösung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit“ (S. 9). Verständlich wird, wogegen sich die Verfasser wenden, nicht aber, welche Probleme, die diesen Zielen im Wege stehen, auf welche Weise bearbeitet oder überwunden werden sollen. Jemand, der in der Produktion arbeitet, dürfte nicht einfach einen didaktisch guten Grundschul-Unterricht zu leisten vermögen. Ein Klempner wird kaum meinen, er könne auch als Zahnarzt („Zahnklempner“) tätig werden (und umgekehrt). Die für solche Tätigkeiten erforderlichen speziellen Qualifikationen, Kompetenzen und das jeweils nötige Erfahrungswissen sind nicht zu unterschätzen. Auch in einer nachkapitalistischen Gesellschaft wird es eine Arbeitsteilung und Professionalität geben. Eine große Zahl von Tätigkeiten wird sich nicht von schnell Angelernten leisten lassen.

Der „Weltcommune“-Text enthält gute Einsichten und Formulierungen. Er ist vergleichsweise kurz, aber doch so lang, dass er relevante Argumente gegen einige übliche Missverständnisse (Arbeitszeitrechnung, Commons u. a.) vorzubringen vermag. Natürlich würden wir uns alle über Patentrezepte (einfach, praktisch und quadratisch) freuen. Leider tut uns die Gesellschaft diesen Gefallen nicht.

Der „Weltcommune“-Text sieht es zum Teil auf Problemlösungen ab, die von den Problemen, auf die sie antworten sollen, absehen. Wir haben das skizziert am Plädoyer für Rätedemokratie und Planwirtschaft per moderner Informations- und Kommunikationstechnologie („Cybersozialismus“), an Unmittelbarkeitsvorstellungen sowie am lauten Schweigen zum Ins-Maß-Setzen von Quantität und Qualität sowie zu Institutionen. Bei aller Qualität, die der Text hat, können diese Schwachstellen im ungünstigen Fall die unbeabsichtigte Nebenwirkung haben, beizutragen zu Reden, „welche das Herz erheben und die Vernunft leer lassen, erbauen, aber nichts aufbauen“ (Hegel 3, S. 289).11

 

Literatur:

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Creydt, Meinhard 2021: Produktionstechnologie vom Standpunkt der Arbeitenden. In: Telepolis, 11.9.2021

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Zelik, Raul 2020: Wir Untoten des Kapitals. Berlin

  • 1. Seitenangaben ohne Zusatz beziehen sich auf diesen Text. Ich zitiere aus https://kosmoprolet.org/de/umrisse-der-weltcommune.
  • 2. Es „sind in vielen Bereichen der Industrie zwischen- und überbetriebliche Kooperationen gang und gäbe, die bis zur gemeinsamen Produktentwicklung und Produktionsplanung reichen können; Beispiele sind die Hersteller-Zulieferer-Beziehungen in der Autoindustrie, Cooperative Commerce oder auch jede Großbaustelle“ (Imhof 2004, 64).

    „Das Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung hat in 1329 Unternehmen der Investitionsgüter- und der Autoindustrie das Verhältnis von Herstellern und Zulieferern untersucht. Das Ergebnis in der Autoindustrie (Vergleichszahlen für die Investitionsgüterindustrie in Klammern):

    • - Austausch von CAD-Daten bei 61 (74) %,
    • - Einbindung der Zulieferer in die Produktionssteuerung der Hersteller bei 54 (19) %
    • - Qualitätsaudit durch die Kunden bei 83 (46) % (FAZ 12.11.1999).“ Die nachkapitalistische „Produktion wäre nichts anderes als der Ausbau und die Verallgemeinerung solcher Beziehungen und ihre Befreiung vom Privatinteresse des Einzelkapitals. Denn tatsächlich sind die Beziehungen heute ja nicht rein kooperativ, sondern immer auch Beziehungen der Herrschaft des größeren Kapitals über das kleinere mit entsprechender Aufteilung des Mehrwerts“ (Imhof 2001, S. 51).

  • 3. Um eine identifizierende Reduktion zu vermeiden: Meine Überlegungen zur nachkapitalistischen Gesellschaft sind keine „Auslegung“ von Elson, Wainwright sowie Devine, weichen von ihnen ab und betreffen in vielem eine von ihnen nicht thematisierte Materie. In Creydt (2001) habe ich diese angelsächsischen Konzepte vorgestellt.
  • 4. Die gesamtgesellschaftliche Planung ist angewiesen auf die Informationen der einzelnen Betriebe. Diese können sich ihre Arbeit erleichtern, indem sie ihr Leistungsvermögen und Ressourcen zu gering angeben. In Verhandlungen über die Wirtschaftspläne wurde in der SU und der DDR regelmäßig mit gezinkten Karten (selektiven oder falschen Informationen) gespielt.
  • 5. Ein Beispiel für reflexive Institutionen bildet die Gewaltenteilung. „Nicht wird ein homogener ‚Machtblock’ äußerlich restringiert […], sondern die Macht des Staates wird auf verschiedene Instanzen verteilt und kontrolliert sich vermittelst dieser Instanzen weitgehend – nicht ausschließlich – selbst“ (Reusswig 1991, S. 300). (Eine kurze Übersicht über die einschlägigen kritischen Fragezeichen zur Gewaltenteilung formuliert Demirovic 2009, S. 192f.). Die Beobachtung und Beurteilung von Institutionen und die praktische Bezugnahme auf sie sind nicht notwendigerweise eine Angelegenheit eines spontanen und diffusen Publikums oder die Leistung, die jedes Individuum aus sich selbst heraus vollbringen soll, sondern können ein Moment von Institutionen selbst bilden. Die „Möglichkeit der kritisch-beurteilenden Bezugnahme auf institutionelle Prozesse (beruht) nicht unmittelbar auf dem Selbstbewusstsein“, sondern ist Moment der Institution selbst. Indem sie sich „gleichsam selbst beobachtet, entlastet sie die Individuen von permanenter Institutionenbeobachtung. […]Institutionen als Daseinsweise von Freiheit“ haben „Distanz zu ihrer Unmittelbarkeit gewonnen bzw. gewinnen sie immer wieder“ (Reusswig 1991, S. 299). Sie entlasten nicht allein von der Reflexion, sondern zur Reflexion hin.
  • 6. Regelungen und Institutionen entlasten die Individuen bzw. die Bevölkerung davon, die Erfüllung von Aufgaben immer wieder jeweils neu durch öffentliche Erwägung und Beratung festlegen zu müssen. Institutionen helfen den Individuen günstigenfalls dabei, die im Horizont ihrer Vereinzelung naheliegenden Handlungspfade und die damit verbundene eingeschränkte Handlungsfähigkeit zu verlassen. „Nur wenn hinreichend abgesichert ist, dass ein neuer Weg nicht nur erfolgversprechend, sondern auch einigermaßen sicher ist, wird er von den vorsichtigen Normalmenschen beschritten. ‚Wirkliche’ Innovationen sind selten, weil die Menschen ohne institutionelle Unterstützung nicht sehr wagemutig sind. Durchgreifende gesellschaftliche Neuerungen müssen daher stets von nachhaltigem institutionellem Wandel begleitet, nein: durch ihn vorbereitet und abgesichert sein“ (Esser 2000, S. 17). Die Aufmerksamkeit für institutionelle und strukturelle Regelungen enthält eine Absage an eine Orientierung, die dort auf „Hilfe zur Selbsthilfe“ und „Eigenverantwortung“ setzt, wo diese die Individuen überfordern. 
    Gegenüber fallweise verabredeter Kooperation entsteht ein „‚in sich’ lebensfähiges Erhal­tungssystem, das selbständiger Träger historischer Kontinuität und Entwicklung ist und das der Einzelne in seinen unmittelbaren sozialen bzw. kooperativen Beziehungen als ihn selbst überdauernde Struktur, in die er sich ‚hineinentwickeln’ muss, vorfindet. […] Der ver­­selbständigte Systemcharakter gesellschaftlicher Verhältnisse […] ist dabei zu unter­schei­­den von seiner entfremdeten Form im Kapitalismus“ (Holzkamp 1983, S. 306). Der Begriff von Institutionen und Gesellschaftsstrukturen bildet eine zentrale Abhilfe gegen Moralismus, personalisierende Sichtweise und Voluntarismus. Die Grenzen der Verantwortung der vereinzelten Einzelnen sind eng. „Man wird keinen einzelnen Akteur dafür verantwortlich machen können, dass er ein genuin kollektives oder systemisches Problem nicht gelöst hat“ (Bühl 1998, S. 25). Verantwortung ist zu beziehen auf „Systemverantwortung“ für „die Architektonik des Systems“ bzw. auf „Designverantwortung“ (ebd., S. 27, 29).
  • 7. Vgl. dazu a. https://keimform.de/2010/digital-ist-besser/. Vgl. auch das Kapitel „Machen moderne Informations- und Kommunikationstechnologien Märkte unnötig?“ in Creydt 2016, S. 105ff.
  • 8. In derjenigen vormodernen Gesellschaft, die dominant segmentär verfasst ist, findet in lokalen Gemeinschaften weitgehend Selbstversorgung statt. Die Vernetzung zwischen diesen Gemeinschaften ist sehr gering. Im alten China gab es im Vergleich zum europäischen Mittelalter eine starke Zentralisierung der Verwaltung. Sie organisierte die Arbeit an weiträumigen gesellschaftlichen Infrastrukturen (Wasserbau, Kommunikations- und Transportwege). Diese dienten der Durchsetzung und Finanzierung der kaiserlichen Bürokratie. Dem vertikalen Zusammenhang zwischen einzelnen Gemeinden und Zentrale blieb die horizontale Vernetzung zwischen den Gemeinden untergeordnet und erreichte insofern nur ein geringes Ausmaß. Vgl. Goldberg (2015, S. 130-140).
  • 9. Alfred Fresin, Kommentar 45 in: http://keimform.de/2008/werner-imhof-zur-kritik-der-peer-oekonomie/
  • 10. Der „Weltcommune“-Text enthält sowohl das Ziel der „größtmöglichen Automatisierung der Produktion“ (S. 8) als auch das Ziel, die Arbeit „soweit wie möglich in travail attractif zu verwandelt […], die nicht nur auf maximalen Output zielt, sondern ‚die Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen‛ (Creydt) der Produzierenden bildet“ (S. 9). Der „Weltcommune“-Text zählt beide Ziele additiv auf und blendet den Konflikt zwischen beiden (vgl. dazu Creydt 2021) aus.
  • 11. Ein Extrembeispiel dafür – so die Kritik von Beate Iseltwald (2019) – bildet das realitätflüchtige Fabulieren in Friederike Habermanns Buch „UmCARE zum Miteinander“ (Sulzbach 2016).