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Die Massenstreikdebatte

Die Massenstreikdebatte

19. Juni 2023

Es ist dies ein riesenhaftes buntes Bild einer allgemeinen Auseinandersetzung der Arbeit mit dem Kapital, das die ganze Mannigfaltigkeit der sozialen Gliederung und des politischen Bewusstseins jeder Schicht und jedes Winkels abspiegelt und die ganze lange Stufenleiter vom regelrechten gewerkschaftlichen Kampf einer erprobten großindustriellen Elitetruppe des Proletariats bis zum formlosen Protestausbruch eines Haufens Landproletarier und zur ersten dunklen Regung einer aufgeregten Soldatengarnison durchläuft, von der wohlerzogenen, eleganten Revolte in Manschetten und Stehkragen im Kontor eines Bankhauses bis zum scheu-dreisten Murren einer klobigen Versammlung unzufriedener Polizisten in einer verräucherten, dunklen und schmutzigen Polizeiwachstube.“
(Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaft, 1906)

 

Dieses beeindruckende Bild Rosa Luxemburgs zeichnet ein soziales Panorama der Russischen Revolution von 1905, die das Vorspiel für 1917 sein sollte. Der auslösende Funke des Aufstands war ein Massaker der zaristischen Armee in St. Petersburg. Diese schoss am 22. Januar einen friedlichen Demonstrationszug nieder und entfachte damit überall im Land Massenstreiks und Agrarrevolten. Der Schluss der Petition, die der an der Spitze laufende Priester Georgius Gapon dem Zaren überreichen wollte, liest sich bereits wie eine Vorahnung der tödlichen Unerbittlichkeit des Zarismus: „Wir haben keinen Weg mehr vor uns und kein Ziel. Wir haben nur zwei Wege – entweder zur Freiheit und zum Glück oder ins Grab“. Da der Zar für die Petersburger Arbeiter nur einen Platz im Grab vorsah, konnte es nicht bei dieser einen Aktion bleiben und die russischen Massen begannen ihr erstes revolutionäres Jahr. In den folgenden Wochen und Monaten geht eine gewaltige Streikwelle durch das Zarenreich: Eisenbahnen fahren nicht, Bergwerke im Donezbecken stehen still und im ganzen Land kommt es zu Fabrikstreiks. Die Massenaktionen sind zunächst häufig ohne Plan und Forderungen, sind Ausdruck der Verzweiflung der russischen Massen. Doch bereits im Herbst treten neue Formen der Politik von unten hervor, die in die Zukunft weisen. Während ein Streik die Eisenbahnen, Telegraphen und Fabriken erstarren ließ, um die Forderungen nach dem 8 Stunden Tag und der Republik zu untermauern, entstanden in St. Petersburg die ersten Arbeiterräte, die damit befasst waren diesen Stillstand zu organisieren. Dieser Petersburger Sowjet erklärte in seinem ersten Aufruf: „Die Arbeiterklasse nimmt ihre Zuflucht zu dem letzten machtvollen Mittel der Arbeiterbewegung der ganzen Welt – zum Generalstreik“. Der Generalstreik vermochte es zunächst, die Regierung einzuschüchtern und dem Zaren ein halbherziges Manifest abzuringen, doch sogleich sollte die blutige Konterrevolution folgen, die die Räte bis zum Februar 1917 verstummen ließ.

Diese erste Russische Revolution erhob sich inmitten einer der zentralen Strategiediskussionen der Arbeiter:innenbewegung und war zugleich ein Exempel ihrer praktischen Relevanz. Die Debatte um den General- bzw. Massenstreik hatte in ihrem Zentrum die Frage, inwieweit ein massenhafter und branchenübergreifender Streik des Proletariats ein Instrument sozialistischer Politik sein kann und sollte. Diese Fragestellung war bereits vor 1905 eine Reaktion auf massenhafte Aktionen von Arbeiter:innen. Im Jahr 1902 brach in Belgien ein großer Massenstreik aus. Die belgischen Arbeiter:innen forderten, nachdem sie 1893 damit scheiterten, das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Der Massenstreik ging verloren, da die militärische Macht des Staates zu erdrückend war, die Bewegung ließ sich jedoch nicht zerschlagen und zog sich geschlossen zurück. Ähnliches in Schweden. Auch hier sollte ein Generalstreik das Wahlrecht erkämpfen, es blieb jedoch bei einem Kräftemessen bzw. einer Demonstration der machtvollen Solidarität der Arbeiter:innen. In Holland richtete sich ein großer Streik zeitgleich gegen ein Streikverbotsgesetz und wurde blutig niedergeschlagen. Zuletzt erschütterte ein heftiger Massenstreik im Jahr 1904 Italien. Er richtete sich gegen zwei durch die italienische Polizei angerichtete Blutbäder unter streikenden Bauern und Bergarbeitern. Dieser bis dato größte Streik in Italien blieb jedoch auf seine Forderungen fixiert und verschwand nach staatlichen Zugeständnissen schnell wieder. Inhalt wie Verlauf dieser Massenaktionen verweisen bereits auf die Grundzüge der Debatte, wie sie ab Ende des Jahrhunderts in der II. Internationale und der deutschen Sozialdemokratie geführt wurde: Sie drehte sich um die politische Stoßrichtung wie auch um die Gefahren eines Massenstreiks. Soll ein Massenstreiks offensiv das Wahlrecht oder gar den Sozialismus einfordern oder reagiert er nur defensiv auf einen Verfassungsbruch der Regierung? Müssen die Organisationen des Proletariats zuvorderst die Kräfteverhältnisse exakt errechnen, um eine tödliche Niederlage zu vermeiden oder sind sie ohnehin den spontanen Bewegungen der Revolution ausgeliefert und dürfen vor diesen nicht zurückschrecken?

Die größte Uneinigkeit hinsichtlich der Massenaktion bestand innerhalb der Arbeiter:innenbewegung zwischen Anarchist:innen und Sozialisten. Die Anarchist:innen zeichnet zumeist ein grundlegendes Vertrauen in die impulsive Intelligenz der Volksmassen aus. Laut Kropotkin hat das „Volk immer ein richtiges Gefühl von der Lage, selbst wenn es dieses Gefühl nicht korrekt ausdrücken und seine Befürchtungen nicht mit gebildeten Gründen motivieren kann“ (Kropotkin: Die französische Revolution S. 168). Man müsse die Massen daher nicht zielgerichtet anführen, sondern ihre Leidenschaften vielmehr entfesseln, wie auch Bakunin immer wieder fordert.

Anders die Sozialdemokratie, die über den Charakter der Masse und die Funktion des Massenstreiks keine einheitliche Position entwickeln kann. Während der linke Flügel um Rosa Luxemburg in den spontanen Massenstreiks  und Bewegungen den „lebendigen Pulsschlag der Revolution und zugleich ihr mächtigstes Triebrad“ erkennt und die Führer:innen der Arbeiterbewegung daher eine „möglichst enge Fühlung mit den Stimmungen der Masse“ (Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaft) eingehen müssen, ist das sozialdemokratische Zentrum um ihren Theoretiker Karl Kautsky wesentlich vorsichtiger: „Aktionen der Masse [können] ebenso reaktionär, ja geradezu sinnlos sein, wie sie unter Umständen die Lokomotiven der gewaltigsten gesellschaftlichen Fortschritte zu werden vermögen“ (Kautsky: Die Aktion der Masse). Da sich um diese ambivalenten Massen in Deutschland jedoch eine sozialdemokratische Organisation geschnürt hat, seien diese nun nicht mehr so impulsiv und unberechenbar wie einst. Derart könne der bürgerliche Staat die Impulsivität der Massen weniger leicht ausnutzen, um sozialistische Bewegungen und Organisationen nach einem provozierten Aufstand niederzuschlagen, so Kautskys Hoffnung.

Entlang dieser Linien verläuft auch die Debatte über den General- bzw. Massenstreik innerhalb der II. Internationale. Zwar beschloss bereits die I. Internationale 1868 auf dem Brüssler Kongress den Generalstreik als kriegsverhinderndes Mittel einzusetzen, doch blieb dieser Beschluss ohne praktische Konsequenzen. Erst in der II. Internationale um die Jahrhundertwende wurde die Frage wirklich politisch diskutiert, nicht zuletzt aufgrund der gewachsenen Organisationen der Arbeiterbewegung und der drängenden Aktivitäten der Massen. Die vom Anarchismus beeinflussten syndikalistischen Fraktionen der romanischen Sozialdemokratie befürworten den Generalstreik, während die deutsche Sozialdemokratie ein knappes Jahrzehnt über ihn debattieren muss und – zumindest auf theoretischer Ebene – eine immer differenziertere Haltung entwickeln kann. Für die anarchistischen Syndikalisten bleibt der Generalstreik in seinem Wesen immer ein direkter Angriff auf den Klassenstaat und die Einleitung der sozialen Revolution. So schlagen die Syndikalisten auf dem Kongress von 1893 auch einen „Weltstreik“ vor, was mehrheitlich jedoch abgelehnt wird. Im Zentrum steht stets die Frage, welche Organisation hinter einem Generalstreik steckt und ihn tragen kann. Für den einflussreichen deutschen Gewerkschafter Karl Legien gibt es ohne starke Organisation noch nicht einmal Anlass zur Debatte: „Solange keine starken Organisationen vorhanden sind, ist der Generalstreik für uns nicht diskutierbar“ (Protokoll des Internationalen Sozialistenkongress zu Paris 1900). Obwohl sich nun überall Massenstreiks entfachten, kam die Debatte innerhalb der II. Internationale kaum weiter bzw. verebbte bald.

Die deutsche Sozialdemokratie geht in ihrer Debatte wesentlich weiter. Sie diskutierte keinen per se revolutionären Generalstreik, wie er durch die Anarchisten propagiert wird, sondern vielmehr die Vereinbarkeit von branchenübergreifenden und massenhaften Streiks mit den revolutionären Strategien und Zielen der Partei. Ablauf und Inhalt der Massenstreikdebatte innerhalb der deutschen Partei sind nur nachvollziehbar vor dem Hintergrund der historischen Bedingungen, die auf die Organisation der SPD wirkten und diese formten. Nach über einer Dekade der Illegalität erlebte die SPD, die sich in ihrem Erfurter Programm der Revolution und der demokratischen Sozialpolitik gleichermaßen verpflichtete, ab den 1890er Jahren einen furiosen Aufstieg. Sowohl die wachsenden Mitgliederzahlen als auch die Wahlergebnisse machten die einst verfolgten „vaterlandslosen Gesellen“ nun zu einer realen politischen Kraft, die nun den Anspruch erheben konnte, die Interessen der Arbeiterklasse nun legal zu vertreten. Der Legalismus der Partei ist Kind der Erfahrung der Verfolgung unter Bismarck, die dazu führte, dass knapp 900 Parteigenoss:innen das Land verlassen mussten und mindestens 1000 Jahre Gefängnis auf Mitglieder der Partei niedergingen. Er wird schließlich zur neuen Strategie der Sozialdemokratie, die sich unter Verweis auf bestimmte Abschnitte1 aus Engels 1895 verfasstem Vorwort zu Marx' „Klassenkämpfen in Frankreich“ den Segen des Vaters gibt:

Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die „Revolutionäre“, die „Umstürzler“, wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz. Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen gesetzlichen Zustand. Sie rufen verzweifelt mit Odilon Barrot: la légalité nous tue, die Gesetzlichkeit ist unser Tod, während wir bei dieser Gesetzlichkeit pralle Muskeln und rote Backen bekommen und aussehen wie das ewige Leben. Und wenn wir nicht so wahnsinnig sind, ihnen zu Gefallen uns in den Straßenkampf treiben zu lassen, dann bleibt ihnen zuletzt nichts anderes, als selbst diese ihnen so fatale Gesetzlichkeit zu durchbrechen“ (Engels, MEW 22).

Doch Gefahr für die Organisation ging auch von innen aus: die Gleichzeitigkeit von kapitalistischer Hochkonjunktur und der Erfolg sozialdemokratischer Realpolitik an der Basis ließ viele den revolutionären Antikapitalismus in Zweifel ziehen und sich hinter Forderungen fraktionieren, die nach einem sozialdemokratischen Kompromiss mit den Verhältnissen riefen. So wurde die Aufrechterhaltung der SPD als revolutionäre Organisation zunehmend zu einem schwierigen und bisweilen komischen Balanceakt. Der revolutionäre Legalismus musste sich zunehmend gegen die Frage nach der revolutionären Tat verteidigen, während sich das revolutionäre Programm wiederum gegen den Revisionismus behaupten musste.

Dieses Verhältnis von revolutionärer Aktion und Bewahrung der gewachsenen Organisation stand im Zentrum der Massenstreikdebatte. Es wurden zudem mögliche Ziele wie der richtige Zeitpunkt eines Massenstreiks debattiert. Aleksander Helphand Parvus sprach sich bereits 1896 für den Massenstreik aus, jedoch nur zu bestimmten Konditionen: Er muss ein politischer Streik sein, d.h. er kann dann in Erwägung gezogen werden, wenn der Staat einen Verfassungsbruch begeht. Er muss zugleich sehr gut organisiert sein, muss Geldmittel zur Verfügung haben, um eine Streikkasse zu unterhalten und er muss zuletzt, um die Regierung zu desorganisieren, einen möglichst großen Umfang haben und Schlüsselindustrien und v.a. das Verkehrswesen lahmlegen. Gelingt dies, so kann aus der Abwehr einer Regierungsmaßnahme das Proletariat selbst die Regierung übernehmen:

Und was bedeutet der Massenstreik, die unvermeidlich früher oder später eintretende Antwort auf den Staatsstreich? Nun wohl, er bedeutet die Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat! Denn das ist allerdings wahr: nur das klassenbewusste Proletariat ist imstande, die politische Freiheit, die politische Verfassung gegen Gewalt zu verteidigen. Und wenn die Gewalt der verfassungsbrüchigen Regierung gebrochen würde, dann wäre es das Proletariat, das den Kampfplatz behauptete und die politische Führung übernähme“ (Parvus: Staatsstreich und politischer Massenstreik).

Werden die Organisationen der Arbeiterklasse durch einen Staatsstreich bedroht, so könne sie aus der Not eine Tugend machen, sich erst gegen Angriffe verteidigen, den Kampf offensiv wenden und schließlich selbst die Macht übernehmen. Diese bereits auf die Bedingungen eines Massenstreiks reflektierende und keineswegs anarchistische Position blieb jedoch eine Minderheit. Die Holländische Sozialistin Henriette Roland-Holst bezeichnete 1905 den Vorschlag als „absolut-metaphysische“ Auffassung und auch die späteren Linken Franz Mehring und Rosa Luxemburg wiesen 1903 vor allem auf die Gefahren eines Massenstreiks für die Organisation hin. Der Massenstreik sei zwar die ultima ratio sozialdemokratischer Politik, jedoch dürfe er auf keinen Fall zum falschen Zeitpunkt eingesetzt werden, da „eine Niederlage im politischen Massenstreik heißt, wenn er bis zum äußersten ausgefochten wird, die Niederlage der gesamten Arbeiterklasse, die Vernichtung ihrer gesamten ökonomischen und politischen Organisation, die völlige Kampfunfähigkeit des Proletariats auf Jahre hinaus“ (Kautsky: Allerhand Revolutionäres). Diese Angst vor der Zerschlagung der Organisation bei gleichzeitiger Hoffnung auf ihr endloses Wachstum ließ innerhalb der Sozialdemokratie bereits früh ein Problem erkennen, welches sie später u.a. zur konterrevolutionären Partei werden ließ: die Angst vor unkontrollierbarer revolutionärer Aktion, die die Ordnung bedroht. Erst Rosa Luxemburg theoretisierte infolge der Russischen Revolution im Jahr 1906 eine neue Dimension des Massenstreiks: Den spontanen wie auch bewusstseinsbildenden Charakter revolutionärer Aktionen. Laut Luxemburg könne sich eine revolutionäre Partei den sozialen Dynamiken nicht entgegenstellen oder sie exakt planen, sondern müsse sie anleiten. Erst der revolutionäre Kampf sei die Schule des Proletariats und mache dieses zu einer selbstbewussten Klasse. Trotz der Russischen Revolution und der Intervention Luxemburgs blieb die Partei skeptisch. Auf dem Jenaer Parteitag von 1905 wurde der Generalstreik zwar als ein Mittel im Notfalle betrachtet und in Mannheim 1907  im Falle eines Wahlrechtsraubes in Erwägung gezogen, jedoch blieben die realen Wahlrechtsverschlechterungen unwidersprochen. Noch ablehnender waren die Gewerkschaften, für die der politische Massenstreik schließlich eine Erweiterung und demnach auch Bedrohung ihres rein ökonomischen Fokus darstellte. So sprach sich der Gewerkschaftsführer Theodor Bömelburg gar für ein Ende der Debatte aus: „In der deutschen Gewerkschaftsbewegung haben wir dafür zu sorgen, dass die Diskussion verschwindet und dass man die Lösung der Zukunft, dem gegebenen Augenblick überlässt“ (Theodor Bömelburg: Die Stellung der Gewerkschaften zum Generalstreik, 1905).

Nach 1910 begann die letzte Phase der Debatte. Ursprung war die Abschaffung des verhassten Dreiklassenwahlrechts durch die Regierung, welche jedoch kein gleiches Wahlrecht herstellte, sondern lediglich einige Modifikationen vornahm, die am Grundübel nichts änderten. Die Folge war eine SPD Kampagne, die große Mobilisierungen an der Basis nach sich zog: Es kam zu einer Reihe von Streiks im Bergbau und im Baugewerbe, Versammlungen von Arbeiter:innen und sich häufenden Zusammenstößen mit der Regierung, die ihren Ton jetzt zunehmend verschärfte. Es stellte sich nun die Situation her, die auch für die zurückhaltende Fraktion des Zentrums eigentlich die Voraussetzung darstellte für die Ausrufung eines Massenstreiks.

Diese letzte Phase der Debatte spielte sich zwischen dem Zentrum (Kautsky) und der sozialdemokratischen Linken (Luxemburg, Pannekoek) ab. Während das Zentrum um bzw. personifiziert durch Kautsky weiterhin an seinem Standpunkt des Primats der Organisation festhielt, trat die linke Fraktion mit einer stärker auf die Massen vertrauenden Position auf, die sie seit der Russischen Revolution von 1905 immer weiter vom Zentrum entfernte. Diese Positionen folgen zugleich auch der praktischen Politik der jeweiligen Fraktionen: Luxemburg setzte sich auf einer Agitationsreise immer wieder für den Massenstreik und die Abschaffung der Monarchie ein, die offizielle sozialdemokratische Politik hingegen, für die Kautsky sprach, reagierte auf die Regierungspolitik mit der gewohnten Zurückhaltung und versuchte ihre parlamentarische Linie trotz und im Grunde gegen die unruhige Basis durchzusetzen. Für Luxemburg stellt der Massenstreik eine notwendige Ergänzung der parlamentarischen Politik dar, der „die Schulung, Aufklärung und Organisierung der proletarischen Massen zu fördern“ verspricht. Sie stellt damit zwar nicht den Parlamentarismus in Frage, jedoch die Fixierung auf die sogenannte „Ermattungsstrategie“, an der das Zentrum theoretisch wie auch praktisch festhielt.

Die beiden ausgewählten Texte bzw. Auszüge stehen am Ende dieser Debatte. Es tritt nicht Rosa Luxemburg, sondern der holländische Marxist Anton Pannekoek gegen Karl Kautsky an. Pannekoek, der hier zum ersten Mal in der Parteidiskussion auf höchster Ebene auftaucht, wird nach dem 1. Weltkrieg als einer der wichtigsten Vertreter des Rätekommunismus größere Bekanntheit erlangen. Er antwortet mit seinem Text Massenaktion und Revolution zwar auf einen vorangegangenen Text von Kautsky, entwickelt jedoch zahlreiche eigenständige Positionen zu Staat, Klasse und Partei, die wenig später in den Rätekommunismus der Zwischenkriegszeit eingehen werden. Im Zentrum des Aufsatzes steht die Frage, welche Machtmittel das Proletariat entfalten kann, um die angewachsene Macht der Bourgeoisie zu brechen. Für Pannekoek kann sich dieser Machtkampf in Deutschland während der Phase des Imperialismus nicht mehr nur auf der parlamentarischen Ebene abspielen, sondern muss nun notwendigerweise auch den Charakter von außerparlamentarischen Massenstreiks- und aktionen annehmen, da der Bourgeoisie ihre politische Macht nicht auf friedlichem Wege entrissen werden kann. Diese revolutionären Massenaktionen müssen laut Pannekoek deshalb auf ein sozialistisches Ziel drängen, da sich die Klassenzusammensetzung der bürgerlichen Gesellschaft zugunsten einer proletarischen Formierung der Massen verändert hat. Die Massen setzen sich nunmehr nicht mehr aus heterogenen und widerstreitenden Fraktionen zusammen, sondern rekrutieren sich primär aus den Arbeitern im Dienste des Großkapitals: „Diese Massen sind in ihrem tiefsten Wesen so proletarisch wie keine andere; die Arbeit im Kapitaldienst hat ihnen eine instinktive Disziplin eingepaukt“ (Pannekoek: Massenaktion und Revolution). Folglich sind auch die vermeintlich unorganisierten Massen bereits durch ihre Arbeit in der großen Industrie durch das Kapital vor-organisiert und müssen nicht mehr durch die lange Schule der Sozialdemokratie erst zu Bewusstsein kommen.

Die Aufgabe der Partei stellt sich daher auch völlig anders dar: eine richtige Taktik müsse diese Massen nicht erst organisieren, sondern ihre Aktionen lediglich leiten und vereinheitlichen, da auch hinter scheinbar spontanen Aktionen bereits ein Klasseninteresse steckt. Diese Theorie der revolutionären Aktivität des Proletariats stellt Pannekoek dem passiven Radikalismus Kautskys entgegen, dem er vorwirft, Massenaktionen als Naturereignisse zu betrachten, die keiner eigenen proletarischen Logik folgen und daher als Ausreißer bzw. Bedrohungen der sozialdemokratischen Strategie des organisationellen Legalismus erscheinen müssen. Kautsky bestätigt in seiner Replik auf Pannekoek im wesentlichen seinen alten Standpunkt des Legalismus und der revolutionären Vorsicht. Sozialistische Massenaktionen grenzt er als organisierte Straßendemonstrationen von Unruhen ab und kritisiert den für die sozialdemokratischen Organisationen gefährlichen Charakter falsch eingesetzter außerparlamentarischer Aktionen. Das Zentrum jeder proletarischen Politik liegt für Kautsky weiterhin beim Parlament und in der legalen Eroberung der politischen Macht: „Und das Ziel unseres politischen Kampfes bleibt dabei das gleiche das es bisher gewesen: Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung. Nicht aber Zerstörung der Staatsgewalt“ (Kautsky: Die neue Taktik).

Vor dem Hintergrund des weiteren Verlaufs der Geschichte stechen in den beiden Beiträgen vor allem die Positionen zu Staat und Massen hervor, die Probleme der Linken wie auch den revolutionären Bankrott des Zentrums ankündigen. Pannekoek fordert mehrfach die Zerstörung oder Vernichtung der Staatsgewalt ohne weiter auszuführen, wie dieses Werk vollbracht werden soll, noch welche neuen Formen proletarischer Gewalt nach diesem rein destruktiven Revolutionsprozess an ihrer Stelle stehen sollen. Zurecht wirft ihm daher Kautsky vor, sich auf Abstraktionen zu berufen, nur um sich im nächsten Moment mit seinen sozialdemokratischen Konkretionen revolutionär zu diskreditieren: „Nein, keines der heutigen Ministerien wird durch unseren politischen Kampf gegen die Regierung beseitigt werden“. Dieser sozialdemokratische Staat ohne Beseitigung des alten Staatsapparates – und auch ohne Sozialismus – konnte ab dem Jahr 1918 begutachtet werden: Die SPD erhielt die alte Ordnung aufrecht, um sie gegen eine machtlose Linke einzusetzen, der im Kampf gegen die Konterrevolution eben das fehlte, was Pannekoek sofort zertrümmern wollte: exekutive bzw. staatliche Gewalt. Ähnliches lässt sich über das Verhältnis von Partei und Massen sagen: Pannekoek geht davon aus, dass sich die Massen gegen den drohenden Krieg erheben werden: „Je drohender aber die Kriegsgefahr wird, um so nachdrücklicher müssen die weitesten Volkskreise aufgerüttelt werden […]. Weil es sich dabei um eine Lebensfrage des Proletariats handelt, wird es schließlich auch zu den allerstärksten Mitteln, wie zum Beispiel Massenstreiks, greifen müssen“ (Pannekoek, S. 294). Diese Massenstreiks blieben nach Kriegseintritt 1914 aus, stattdessen zogen die Proletarier auf Befehl ihrer sozialdemokratischen Parteiführer in den Krieg gegen ihre Klassenbrüder. Erst der katastrophische Verlauf des Krieges schuf die Massenstreiks, die ihn laut Pannekoek eigentlich bereits verhindern sollten. Und auch diese Massenaktionen des deutschen Proletariats waren keine rein spontanen Erhebungen, sondern wurden angeführt durch die sozialdemokratisch und gewerkschaftlich geschulten revolutionären Obleute, die der Kriegseintritt von der offiziellen Sozialdemokratie entfremdet hatte. Nach dem Ausbruch der Novemberrevolution 1918 bewies die Mehrheits-SPD schließlich, zu welch konterrevolutionärem Instrument ihr Bezug zu den Massen werden kann. Sie bediente sich manipulativ der massenhaften Unentschlossenheit, um Ruhe und Ordnung im Sinne der Bourgeoisie herzustellen und Initiativen proletarischer Selbstständigkeit zu ersticken.

  • 1. Das Vorwort von Engels wurde vom Parteivorstand erst redigiert und schließlich zensiert, um Engels wie einen Befürworter des friedlichen Weges zum Sozialismus erscheinen zu lassen. So wurden Passagen über den bewaffneten Aufstand und die Zersetzung des Militärs redigiert. Marx und Engels hielten zwar eine friedliche Machtübernahme in demokratischen Republiken durchaus für möglich, sie machten sich jedoch keine Illusionen darüber, dass die folgende Machtausübung durch das Proletariat vermittels „despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse“ (MEW 4: 481) die Aneignung der Produktion vollziehen müsse. Insofern ist es, wie Engels in seiner Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs bemerkt, eine kolossale Illusion, man könne „auf gemütlich-friedlichem Weg die Republik einrichten, und nicht nur die Republik, sondern die kommunistische Gesellschaft.“ (MEW 22: 235)