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Die Entwicklung der revolutionären Sozialdemokratie

Die Entwicklung der revolutionären Sozialdemokratie

10. April 2022

Der vierte Teil unserer Reihe zur Geschichte der Arbeiter:innenbewegung handelt von der Entwicklung der Sozialdemokratie in Deutschland, von der Verfolgung unter Bismarck bis zu ihrer Konsolidierung als einer revolutionären Massenpartei. Dabei legen wir ein besonderes Augenmerk auf die Diskussion rund um das Erfurter Programm, mit welchem die Marxist:innen in der Partei ihre Hegemonie durchsetzen konnten und arbeiten die Grundzüge ihres orthodoxen Marxismus heraus.

Von der Vereinigung zum Verbot 1

Ein Jahr nach der erfolgreichen Vereinigung 1875 in Gotha wurde die SAPD von der preußischen Regierung für illegal erklärt, ihre nationale Organisation musste im Geheimen fortgeführt werden. Legal bliebt lediglich die Teilnahme an Wahlen. Die Unterdrückung konnte jedoch das Wachstum der Sozialdemokratie nicht stoppen. Hatte die SAPD 1876 noch 23 lokale Zeitungen, waren es 1878 bereits 74. Ein Jahr nach der Vereinigung wurden die beiden Zentralorgane der Vorgängerorganisationen zum Vorwärts zusammengelegt. Daneben unterhielt die Partei mit Die neue Welt ein literarisches Journal, sowie die Theoriezeitschrift Die Zukunft. Bei der ersten Reichstagswahl nach der Vereinigung gelang es der SAPD ihre Stimmzahl von den 6,8%, die ADAV und SDAP zusammen erzielt hatten, auf 9,1% verbessern und dadurch ihre Mandate von 9 auf 12 steigern. Bei dieser Wahl konnte die neue Partei bereits in 175 Wahlbezirken Kandidaten aufstellen.

Diese Erfolge zogen jedoch neue Repressionen nach sich. Am 19. Oktober 1878 wurden die Sozialistengesetze im Reichstag verabschiedet, die vom 21. Oktober 1878 bis zum 30. September 1890 viermal verlängert wurden. Die Gesetze verliehen den Polizeibehörden die Macht alle Vereinigungen, Versammlungen, Demonstrationen und Festivitäten der Sozialdemokratie aufzulösen und jede Publikation zu verbieten, die die Niederwerfung der herrschenden Ordnung proklamierte. Wer gegen diese Gesetze verstieß konnte mit hohen Geld- oder dreimonatigen Gefängnisstrafen belegt werden. Dabei traf die Repression nicht nur die sozialdemokratischen Vereinigungen, sondern auch gewerkschaftliche Organisationen ohne enge Verbindungen zur Partei.  Genauso erging es den vielfältigen kulturellen Arbeitervereinen, den Konsumgenossenschaften, Arbeiterkneipen und Arbeiterbibliotheken. Bis zum Juli 1879 waren 127 Zeitungen verboten worden, darunter alle offiziellen Parteiorgane.

In Reaktion auf diese Welle der Unterdrückung reorganisierte sich die Partei 1880, um die Reichstagsfraktion als neuem Führungszentrum. Die Legalität der Reichstagsfraktion war jedoch ein zweischneidiges Schwert, erlaubte sie zwar der Partei im Rahmen der Reichstagswahlen in die Öffentlichkeit zu treten und für ihre Sache Propaganda zu treiben – was sie mit Erfolg tat – so wertete dies die Fraktion stark auf und gab ihr einen Einfluss, der weit über den Rückhalt hinaus ging, den sie in der Parteibasis genoss. Hatten sich die Reichstagsabgeordneten zuvor in der täglichen Parteiarbeit an der Basis beweisen müssen, um mit dem Mandat ihrer Parteigenossen in den Reichstag geschickt zu werden, so entkoppelte sich die Fraktion durch die Illegalität der Parteiorganisationen immer mehr von der Parteibasis. Dazu kommt, dass die Fraktion aufgrund dessen, dass sie bei ihren Wahlkampagnen auch auf Schichten jenseits des Kerns der industriellen Arbeiterklasse zielte, dahin tendierte in ihrer Agitation konservativer aufzutreten, als es der Stimmung unter den Parteimitgliedern entsprach. Denn die Mitgliedschaft in der illegalen Partei erforderte ein weitaus größeres Maß an Überzeugung und Bewusstsein als die bloße Stimmabgabe.

Diese Entwicklung gab zu ersten Konflikten zwischen den Radikalen und dem stärker auf Kompromiss orientierten Flügel rund um die Reichstagsfraktion Anlass. In diesen Auseinandersetzungen Anfang der 1880er Jahre behielt der radikale Flügel um Bebel, Liebknecht, und Vollmar die Oberhand. Ein Moment, welches zum Sieg über die reformistischen Kräfte beitrug, war die Verbreitung des Marxismus innerhalb der Partei, der sich durch aufstrebende Intellektuelle wie Kautsky und Bernstein angeeignet und in die Parteidiskussion eingebracht wurde. Der Gegenseite mangelte es dagegen an ideologischer Kohärenz und war den Radikalen in den Auseinandersetzungen weit unterlegen. Die Illegalisierung der Sozialdemokratie unterstützte diese Entwicklung, da sie den auf Kompromiss und Moderation zielenden Kräften den Boden unter den Füßen wegzogen und in der sozialdemokratischen Arbeiterschaft ein heroisches und revolutionäres Selbstverständnis verbreitete.

Getragen von einem tiefen Gefühl der Solidarität gegen eine Gesellschaft, die für die Arbeiterklasse nichts als Ausbeutung und Unterdrückung zu bieten hatte, konnte die Partei auch in der Illegalität eine beeindruckende Aktivität entfalten. Exemplarisch steht dafür die Verteilung des neuen Parteiorgans Sozialdemokrat. Nach dem Verbot des Vorwärtswurde der Sozialdemokrat 1879 gegründet und von der Schweiz aus betrieben. Zunächst unter Georg von Vollmar, dem späteren Führer der bayrischen SPD und dann unter dem von Bebel ausgewählten Bernstein, der die Blattlinie weiter radikalisierte. Trotz der Drohung mit Verhaftung wurde die Zeitung in einer Auflage von 11.000 Stück von rund 110 Vertrauensmännern nach Deutschland geschmuggelt und dort verteilt.

Aber auch auf dem Gebiet der Reichstagswahlen konnte sich die SAPD schnell von ersten Verlusten infolge der Verfolgung erholen und erreichte 1884 bereits mehr als eine halbe Million Stimmen und bei der letzten Wahl unter den Sozialistengesetzen 1890 erzielten sie mit knapp 1,5 Millionen Stimmen den größten Anteil aller Parteien, während Bismarck nicht nur die Mehrheit im Reichstag, sondern auch seine Kanzlerschaft verlor. Auf ihrem ersten Parteitag in der neu gewonnenen Legalität 1890 in Halle änderte die Partei schließlich ihren Namen in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und gab sich ein neues, an die veränderten Bedingungen angepasstes Statut.

Parteiorganisation

Trotz ihres gewaltigen Wachstums blieb die SPD bis 1905 eine Organisation ohne nennenswerte Bürokratie. Ein Grund dafür war ihr traditionelles Bekenntnis zur Autonomie der Lokalorganisationen und das Misstrauen gegen den strikten Zentralismus des ADAV. Zudem sollte das Ziel der proletarischen Selbstbefreiung mittels der auf Freiwilligkeit beruhenden politischen Arbeit und der Souveränität des Parteikongresses realisiert werden. Gegen die Ausbildung einer Bürokratie wirkte auch die Repression des preußischen Staates, der die Organisation ständiger Institutionen und Ämter jenseits der Reichstagsfraktion verhinderte.

Auch die in der neuen Legalität 1890 in Halle beschlossenen Organisationsstatuten sahen lediglich einen Vorstand von fünf und eine Kontrollkommission von sieben bezahlten Mitgliedern vor. Dazu kamen die bezahlten Redakteure und Angestellten der Parteipresse. Dies war der gesamte Apparat der damaligen Sozialdemokratie. Darüber hinaus wurden aus der Parteikasse noch Redner und Agitatoren finanziert. Als Ebert nach 1905 zur Reorganisation der Berliner Parteizentrale beordert wurde, fand er weder ein Telefon noch eine Schreibmaschine vor.

Die Aufgaben des Vorstands bestanden darin die Entscheidungen des Kongresses umzusetzen, Parteiberichte anzufertigen und die Agenda für den nächsten Kongress zu erarbeiten. Die Kontrollkommission war dagegen für die Kontrolle der Parteipresse und des Vorstandes zuständig und konnte Entscheidungen revidieren, die ihrer Ansicht nach gegen die Statuten verstießen. Zudem konnte sie einzelne Mitglieder und Sektionen bei Fehlverhalten sanktionieren.

Die wichtigste Rolle nahmen bis 1905 jedoch die Vertrauenspersonen (bis 1892 Vertrauensmänner) ein, die als Bindeglied zwischen den lokalen, regionalen und nationalen Organisationen der Partei wirkten. Jeder Parteibezirk hatte zwischen einem und drei solcher Vertrauenspersonen. Sie berichteten von den agitatorischen Tätigkeiten der Ortsgruppe, sammelten Beiträge ein und verbreiteten die Nachrichten der Parteiführung vor Ort. Hinter ihnen stand jeweils die lokale Organisation in Form von politischen Organisationen oder anderen Arbeiterzusammenschlüssen, wie Propaganda-Zirkeln oder kulturellen Vereinen. Dies gründete die Parteiarbeit sehr stark auf die Ortsgruppen, wodurch eine große Anzahl an Mitglieder aktiv in die politische Tätigkeit einbezogen wurden, obwohl die Mitgliedsstatuten eine aktive Mitarbeit nicht erforderten. Ohne eine funktionierende Bürokratie konnte die Arbeit vor Ort nur durch die Beteiligung vieler bewältigt werden.

Die Stärke der lokalen Organisationen vergrößerte auch den Einfluss der lokalen Parteivertreter gegenüber der Parteiführung. Gleichzeitig tendierten viele der starken lokalen Organisationen zu einer reformistischen Orientierung und behinderten die Realisierung der im Parteiprogramm formulierten revolutionären Ambitionen von unten. Diese Tendenz wurde durch die interne Parteiorganisation noch verstärkt, die sich entlang der reaktionären Wahlkreiseinteilung strukturierte, so dass 1913 die zehn größten Parteibezirke so viele Mitglieder hatten wie die 304 kleinsten. Anstatt diesem Umstand durch eine gewichtete Proportionierung der Bezirke Rechnung zu tragen, wurde gerade die soziale Basis der Partei, die industrielle Arbeiterschaft, gegenüber den ländlichen Gebieten in der Repräsentation krass benachteiligt. Selbst nach einer Reform im Jahr 1909 verfügten die 52% der aus den urbanen Zentren stammenden Mitglieder über lediglich 27% der Delegierten, während 31% der ländlichen und kleinstädtischen Mitglieder über 53% der Delegierten stellten. Dadurch wurden die radikalen urbanen Zentren der Partei durch die konservativen ländlichen Bezirke dominiert.

Parlamentarismus

Die (Wähler-)Basis der Sozialdemokratie war die industrielle, städtische Arbeiterklasse in den nicht-katholischen Regionen. Im ländlichen Raum und in den vom Katholizismus geprägten Gegenden konnte sie nie nachhaltig Fuß fassen.

Unter den Parteien des Kaiserreichs war die SPD die einzige Partei mit einer Präsenz in der ganzen Nation: sie stellte Kandidaten in 385 Wahlbezirken, während die National-Liberalen als zweitgrößte Partei lediglich in 224 Bezirken antraten. Die meisten anderen Parteien waren regional verankerte Parteien, wie das katholische Zentrum die nur in wenigen Gebieten überhaupt Kandidaten hatten, dort aber eine feste, kaum zu durchdringende Machtbasis besaßen. Trotzdem stellten die Sozialdemokratie auch in den Bezirken Kandidaten auf, in denen sie keinerlei Aussicht auf Erfolg hatte, da sie den Wahlkampf als Möglichkeit begriff ihr Programm vielen Menschen bekannt zu machen.

Alle Aspekte des deutschen Wahlsystems arbeiteten dabei jedoch gegen die SPD. Die Verteilung der Wahlbezirke war alles andere als proportional zur Bevölkerung und die industriellen, urbanen Zentren besonders schlecht repräsentiert. Diese Disparität vergrößerte sich mit dem Wachstum der Industrie und der Städte nach 1871 nur weiter. Dies führte dazu, dass die SPD das zwei- bis dreifache an Stimmen benötigte, um ein Mandat zu gewinnen. Trotz dieser Restriktionen wuchs die Stimmanzahl und die Mandate nahezu stetig an.

Gewerkschaftsbewegung

Mit dem Ende der Sozialistengesetze 1890 waren in Deutschland rund 300.000 Arbeiter in Gewerkschaften organisiert, die meisten in Berufsgewerkschaften, wovon die meisten in Zentralverbände zusammengefasst waren. Ab den 1880er hatte die SAPD die Bewegung der Gewerkschaften (damals noch Fachvereine) die volle Unterstützung zugesichert mit der Hoffnung die entstehende Bewegung für die Sache der Sozialdemokratie zu gewinnen. Die restlichen Parteien des Kaiserreichs hatten für die sich organisierenden Arbeiter nur Repression zu bieten. Dies verstärkte die Bande zwischen der ökonomischen und der politischen Organisation der Arbeiter:innenklasse.

In den späten 1880er Jahren setzte die erste große Streikbewegung innerhalb der Grenzen des deutschen Reichs ein, die zwischen 1889 und 1890 circa 400.000 Arbeiter erfasste, mehr als in den gesamten zehn Jahren zuvor. Allein im Mai 1889 streikten 150.000 Minenarbeiter unterstützt von der Partei, die dadurch bei den folgenden Wahlen im Ruhrgebiet deutliche Gewinne verzeichnen konnte. Am Ende der Illegalität stand so ein enges Bündnis zwischen Gewerkschaftsbewegung und Sozialdemokratie, wobei die Hoffnung der Partei, die Gewerkschaften mögen als „Schulen des Sozialismus“ dienen, nur bedingt mit den Prioritäten der Gegenseite in Deckung kam, die viel mehr auf die unmittelbaren ökonomischen Verbesserungen orientiert war.

Nach dem Ende der Sozialistengesetze vereinigten und zentralisierte sich die lose Gewerkschaftsbewegung auf Initiative der Hamburger Metallarbeiter, ohne die Organisation nach Berufen wirklich überwinden zu können. So bildete sich eine Generalkommission und ein Gewerkschaftskongress heraus, auf dem die Zentralverbände ihre Anliegen gemeinsam besprechen und die Generalkommission bestimmen sollten. Die Generalkommission hatte jedoch keine exekutiven Befugnisse gegenüber den Zentralverbänden, sondern beschränkte sich auf die Werbung für die Gewerkschaftsbewegung und die Erhebung von Untersuchungen über die Arbeiterbewegung. Die Zentralverbände behielten die Souveränität über die Streikkassen. Die Metallarbeitergewerkschaft brachte zwar erfolgreich eine Resolution zur Bildung von Einheitsgewerkschaften ein, diese wurde jedoch nie vollständig in die Tat umgesetzt.

Zwischen 1890 und 1914 verneunfacht sich die Freien Gewerkschaften. Ihr stärkstes Wachstum fiel in die Phase von 1896 bis 1900 und zwischen 1903 und 1906, wobei sie von knapp 900.000 auf ca. 1,7 Millionen Mitglieder anwuchs. Das imposante Wachstum der Gewerkschaften vollzog sich jedoch nicht geradlinig. Während der ökonomischen Krisenphasen verloren sie immer wieder Mitglieder und überhaupt war die Mitgliedschaft relativ unstet, was eine anhaltende Besorgnis der Gewerkschaftsführer nach sich zog.

Die Basis der Gewerkschaftsbewegung war dieselbe der Sozialdemokratie: die urbane Arbeiterschaft der nicht-katholischen Regionen. Ihre Mitglieder rekrutierten sich aus den qualifizierten und angelernten Berufen, wobei die Metallarbeiter als größte Gruppe mit über einer halben Million Mitglieder im Jahr 1912 herausragten. Zu ihnen gesellten sich die großen Gewerkschaften der Maurer, Holzarbeiter, Bauarbeiter, Transportarbeiter und den Fabrikarbeitern.

Im Zentrum der Gewerkschaftsarbeit standen Beschäftigung, Arbeitsbedingungen und Löhne. Daneben organisierten die Gewerkschaften jedoch auch eine ganze Bandbreite an sozialen Bedürfnissen ihrer Mitglieder, die u.a. die Bildung von Versicherungen gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unfälle umfasste. Zudem entwickelte auch die Gewerkschaftsbewegung ein beeindruckendes Pressewesen, wobei die fünf größten Verbände 1914 zusammen rund 2,5 Millionen Zeitungen unter die Arbeiterschaft brachten.

Das Erfurter Programm

Bei ihrem Parteikongress in Erfurt 1891 gewannen die Marxisten schließlich die Hegemonie und formulieren mit dem Erfurter Programm die wesentlichen Überzeugungen und die strategische Orientierung der revolutionären Vorkriegssozialdemokratie aus. Sie übernehmen zentrale Elemente des Programms von Marx und Engels: der Klassenkampf des Proletariats als Angelpunkt sozialistischer Politik, Orientierung auf die politische Unabhängigkeit der proletarischen Partei von der Bourgeoisie, Kampf gegen das autokratische Regime und für politische Freiheiten der Arbeiter:innenklasse.2 Dementsprechend anerkennend äußert sich Engels in seiner Kritik des Programmentwurfs, der die „Überreste von überlebter Tradition“ des Lassalleanismus und Vulgärsozialismus beseitigt habe und „im ganzen auf dem Boden der heutigen Wissenschaft“ stehe.3 Das Erfurter Programm und eine von Karl Kautsky und Bruno Schönlank erarbeitete Erläuterung sollten in den folgenden Jahren in Broschürenform hundertausendfach unter Arbeiter:innen zirkulieren4.

Karl Kautsky – der führende Theoretiker der SPD und der sozialdemokratischen Zweiten Internationale – erarbeitete zudem mit einer umfangreicheren Erläuterung der das Programm und die sozialdemokratische Strategie motivierenden Grundgedanken eine systematische Darstellung der orthodox-marxistischen Theorie und Politik.5 Den Kern der darin formulierten Strategie, bildet das Selbstverständnis der Sozialdemokratie als „Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus“. Indem sich die Sozialdemokratie zu einer sozialistische Massenorganisation der Arbeiterklasse entwickele, hebe sie den im kommunistischen Manifest kritisierten Gegensatz von sozialistischen Sekten einerseits, der spontanen Bewegungen des Proletariats auf der anderen Seite zugunsten einer breiten Klassenorganisation mit sozialistischer Zielsetzung auf. Die Sozialdemokratie konstituiere sich dabei aus der Arbeiterklasse selbst, und zwar aus dem „für die Gesamtinteressen seiner Klasse kämpfende[n] Teil des Proletariats, seine[r] ecclesia militans (kämpfende[n] Kirche)“ –aus der Arbeiterbewegung. Dieser bereits in elementare Auseinandersetzungen mit dem Kapital befindliche Teil der Klasse sei das wichtigste Rekrutierungsgebiet für die Sozialdemokratie. Sie selbst sei „im wesentlichen nichts anderes als der zielbewußte Teil des kämpfenden Proletariats.“ Auch wenn die Sozialdemokratie eine sozialistische Massenpartei zu sein bestrebt ist, so fällt sie in der Vorstellung Kautskys also auch nicht mit der Arbeiterklasse in eins. Vielmehr gliedert sich die Arbeiter:innenklasse in verschiedene Schichten oder Zirkel von Bewusstheit im Verhältnis zum sozialistischen Ziel. Die ideologische Nähe zur sozialistischen Bewegung sei verbunden mit der der Stellung der ArbeiterInnen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise: „Es sind die kämpfenden, zu politischem Selbstbewußtsein gelangten Schichten des industriellen Proletariats, welche die Träger der sozialistischen Bewegung bilden. Je mehr aber der Einfluß des Proletariats auf die ihm benachbarten gesellschaftlichen Schichten wächst, je mehr es deren Fühlen und Denken beeinflußt, desto mehr werden auch diese in die sozialistische Bewegung hineingezogen.“ Nach seiner Vorstellung – worin er letztlich Marx und Engels folgt6 – gruppiert sich die ArbeiterInnenbewegung um ein hegemoniales Zentrum: die industrielle Arbeiterschaft, die aufgrund ihrer besonderen geschichtlichen und ökonomischen Stellung innerhalb des Kapitalismus als prädestiniert erscheint sich ein sozialistisches Bewusstsein anzueignen. Die spezifische Erscheinungsform der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise ist die große Industrie. In ihr drückt sich die zunehmende Vergesellschaftung der Arbeit innerhalb der Form des kapitalistischen Privateigentums aus und bereitet damit den Boden für eine sozialistische Gesellschaft auf Grundlage des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln. Indem die moderne Industrie das kleine Eigentum ruiniert, wächst das Proletariat auf der einen Seite und konzentriert sich die ökonomische Macht in der Hand einer immer kleineren Zahl von Kapitalisten und Grundeigentümern, verschärfen sich also die Klassengegensätze und die moderne Gesellschaft spaltet sich immer mehr in „zwei feindliche Heerlager“ wie es im Erfurter Programm heißt. Dabei nimmt die wachsende industrielle Arbeiterklasse eine bedeutsame Stellung innerhalb der Klassengliederung des Proletariats ein. Die große Industrie bringe eine große Masse an Arbeiter:innen zusammen, vereinheitlicht ihre Interessen und fördert den Zusammenschluss gegenüber dem Kapital als Ausgangspunkt für weitergehende Klassenkämpfe.

Sozialismus und Klassenkampf

Gravitationszentrum des orthodoxen Marxismus ist die Überzeugung von der historischen Mission der Arbeiter:innenklasse als der einzigen konsequent revolutionäre Klasse. Rebellierten selbstständige Bauern und Kleinbürger gegen diese oder jene Auswüchse des Kapitalismus mit dem Zweck ihre auf dem Privateigentum an den Produktionsmittel beruhende Existenzweise zu erhalten, befinden sich die modernen Lohnarbeiter:innen in einem Zustand vollständiger Enteignung. Aufgrund ihrer Klassensituation sind sie von den Mittel zu ihrer eigenen Reproduktion vollständig abgeschnitten und deshalb gezwungen ihre Arbeitskraft an die Besitzer der Produktionsmittel zu verkaufen. Die Möglichkeiten ihre Lebenssituation individuell zu verbessern sind durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse überaus beschränkt. Als Klasse bleibt ihnen nichts übrig, als sich zusammen zu schließen, wollen sie ihre Existenzbedingungen verbessern. Hierin, in der gegen alle Widrigkeiten immer wieder beobachtbaren Tendenz zur kollektiven Aktion, die durch die Struktur des Klassenverhältnisses hervorgerufen wird, liegt die Überzeugung des orthodoxen Marxismus begründet, dass die Arbeiter:innen sich selbst von ihrem Klassenschicksal befreien können. Diese Auffassung gründet demnach nicht in einer objektivistischen Geschichtsvorstellung, wie Bernstein dies in seinen revisionistischen Bemühungen anklagt: „So hat sich denn in der Sozialdemokratie die Überzeugung eingebürgert, dieser Weg der Entwicklung sei unvermeidliches Naturgesetz, die große, allumfassende wirtschaftliche Krisis der unumgängliche Weg zur sozialistischen Gesellschaft.“7 Dieser Zusamenbruchsvorstellung widerspricht Kautsky in seiner Anti-Kritik.8 Niemand in den Rängen der Sozialdemokratie vertrete die von Bernstein kritisierten Vorstellungen. Dabei scheint Kautsky aber doch gewisse Tendenzen in der Partei bzw. innerhalb der marxistischen Theorie selbst zu unterschlagen, etwa den politisch führenden Kopf und Dauervorsitzenden der Partei August Bebel. Dieser lebte in ständiger Erwartung einer Endkrise– des „großen Kladderadatsch“ – die zum plötzlichen Zusammenbruch der Ordnung führen würde.9

Kautsky dagegen sah die Notwendigkeit des Sozialismus nicht in einer objektiven Zusammenbruchstendenz begründet, die jenseits des Einflusses organisierter politischer Kräfte ablaufen würde, sondern in der Analyse des kapitalistischen Klassenverhältnisses und der durch sie erzeugten Widersprüche und Konflikte – Konflikte deren Ausgang offen ist. Überschätzt wird hierbei jedoch die Tendenz zur kollektiven Aktion und unterschätzt die integrative Macht des kapitalistischen Klassenverhältnisses selbst, welches aufgrund seines Ausbeutungs- und Herrschaftscharakters zwar antagonistisch ist, gleichsam aber die Arbeiter:innen in eine Position fundamentaler Abhängigkeit und Unterworfenheit bringt und dadurch die kollektive Gegenwehr überaus riskant macht. Mit anderen Worten: so einfach und notwendig wie ihn sich Kautsky und seine Weggefährten noch vorstellen konnten ist der Weg zum Klassenkampf nicht. Wie die geschichtliche Entwicklung gezeigt hat, können Arbeiter:innen sehr wohl auf individuelle Formen von Widerstand und Anpassung zurückgeworfen werden oder sich entlang anderer kollektiver Identitäten zusammenschließen, um mit ihrer Klassensituation umzugehen. Diese individuellen Strategien verschlechtern jedoch langfristig die Reproduktionsbedingungen der Klasse und ihrer einzelnen Mitglieder – darin liegt bei aller Illusionen über den Klassenbildungsprozess die grundlegende Einsicht des orthodoxen Marxismus in die Dynamik des kapitalistischen Klassenverhältnisses.

Kautsky skizziert diese geschichtliche Dynamik, wie sie die orthodoxen Marxisten auffassen, in seinen Erläuterungen zum Erfurter Programm wie folgt: „Wenn wir die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln für unvermeidlich halten, so meinen wir damit nicht, daß den Ausgebeuteten eines schönen Tages ohne ihr Zutun die gebratenen Tauben der sozialen Revolution in den Mund fliegen werden. Wir halten den Zusammenbruch der heutigen Gesellschaft für unvermeidlich, weil wir wissen, daß die ökonomische Entwicklung mit Naturnotwendigkeit Zustände erzeugt, welche die Ausgebeuteten zwingen, gegen dies Privateigentum anzukämpfen; daß sie die Zahl und Kraft der Ausgebeuteten vermehrt und die Zahl und Kraft der Ausbeuter vermindert, die an dem Bestehenden festhalten; daß sie endlich zu unerträglichen Zuständen für die Masse der Bevölkerung führt, welche dieser nur die Wahl lassen zwischen tatlosem Verkommen oder tatkräftigem Umsturz der bestehenden Eigentumsordnung." Und wenn er später im selben Geiste den „Bakerott der kapitalistischen Produktionsweise" als etwas Naturnotwendiges bezeichnet, dann nicht um einen Automatismus der Revolution zu schlußfolgern, sondern um das drängende der revolutionären Mission zu verdeutlichen: Ein Beharren in der kapitalistischen Zivilisation ist unmöglich; es heißt entweder vorwärts zum Sozialismus oder rückwärts in die Barbarei."

Der Klassenkampf ist für Kautsky also notwendiges Resultat der antagonistischen Produktionsverhältnisse. Die geschichtliche Entwicklung erscheint hier nicht so sehr verbürgt durch objektive Umstände, als durch das umfassende Vertrauen darin, dass die Unterdrückten und Ausgebeuteten sich in ihr vermeintliches Schicksal nicht fügen, sondern dagegen aufbegehren würden. So sei es Kautsky zufolge vielmehr unvermeidlich, dass das „wachsende Proletariat sich gegen die kapitalistische Ausbeutung zur Wehr setzt, sich gewerkschaftlich, genossenschaftlich und politisch organisiert, bessere Arbeits- und Lebensbedingungen und größeren politischen Einfluss zu erringen sucht.“10 Insofern folgt Kautsky und seine Mitdenker dem geschichtsphilophischen Credo von Marx und Engels, nach der die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen sei. Der Klassenkampf erscheint hier als das vorwärtstreibende Moment der geschichtlichen Entwicklung. Eine objektivistische Vorstellung, die sich den geschichtlichen Prozess als einen mit unverbrüchlicher Notwendigkeit ablaufenden vorstellt, ist damit unvereinbar. Prägnant hat Kautsky selbst diese Auffassung in seiner Auseinandersetzung mit Eduard Bernstein wie folgt zusammengefasst: „Die Konzentration des Kapitals stellt die historische Aufgabe: die Einführung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Sie produziert die Kräfte zur Lösung der Aufgabe, die Proletarier, und sie schafft die Mittel zur Lösung: die gesellschaftliche Produktion, aber sie bringt nichts selbst ohne weiteres die Lösung der Aufgabe. Diese kann nur aus dem Bewusstsein, dem Willen, dem Kampfe des Proletariats entspringen. "11 Ganz verkehrt sei die Vorstellung, nach der dem Proletariat nichts übrigbleibe als „fatalistisch ergeben zu warten, bis die ökonomische Entwicklung ohne sein Zutun seine Macht soweit gesteigert hat“, dass es sich selbst befreien könne. Vielmehr sei die Grundannahme des historischen Materialismus die, dass die Proletarier die „Notwendigkeit des Kampfes“ verspürten, eines Kampfes der „ein Klassenkampf wird, weil in ihm zahlreiche Individuen mit gleichen Interessen den gleichen Kampf um die gleichen Objekte führen.“12 Das Ergebnis dieses Kampfes ist eine fortschreitende Organisation der Klasse, die den Ausgangspunkt des Klassenkampfes selbst verändert und ein neuer Machtfaktor wird. Die Organisation verleiht dem Kampf der Unterdrückten ein höheres Maß an Durchsetzungsfähigkeit und schafft ein Band der Solidarität zwischen den Arbeiter:innen, die es ihnen erlauben dem Kapital mit geringerem individuellem Risiko die Stirn zu bieten. Die Sozialdemokratie müsse dahin wirken, diese Entwicklung zu unterstützen und die „verschiedenen Gegenwirkungen des Proletariats gegen seine Ausbeutung zu zielbewusstem und einheitlichem Wirken zusammenzufassen.“13

Sozialistisches Bewusstsein und Partei

Indem sich aus dem Proletariat sein kämpfender Teil in Form der Sozialdemokratie als Vorhut der Arbeiterbewegung politisch konstituiert hat, ergibt sich für die sozialistische Bewegung eine neue Aufgabenstellung. Sie habe nun nicht mehr – wie die früh-sozialistischen Sekten – dem Proletariat „die Erlösung aus seinem Elend von oben zu bringen“14, sondern „seinen Klassenkampf zu unterstützen durch Vermehrung seiner Einsicht und Förderung seiner ökonomischen und politischen Organisationen, damit es rascher und schmerzloser dem Zeitpunkt entgegenreife, in dem es imstande ist, sich selbst zu erlösen. Den Klassenkampf des Proletariats möglichst zielbewußt und zweckmäßig zu gestalten, das ist die Aufgabe der Sozialdemokratie.“15 Die Selbstbefreiung der Unterdrückten erscheint als Leitgedanke. In diesem Sinne wird sich auch von jeder putschistischen Revolutionsvorstellung distanziert, in der die Sozialisten und nicht die Klasse eine Revolution mache:„Der kritische Kommunismus fabriziert keine Revolutionen, er bereitet keine Insurrektion vor, er bewaffnet keine Revolten. Er verschmilzt sich mit der proletarischen Bewegung, aber er sieht und unterstützt diese Bewegung in voller Erkenntnis des Bandes, das sie mit der Gesamtheit aller Verhältnisse des sozialen Lebens verknüpft, verknüpfen kann und verknüpfen muß. Er ist mit einem Worte kein Seminar, worin man den Generalstab der proletarischen Revolution schult: er ist einzig das Bewußtsein dieser Revolution und vor allem das Bewußtsein ihrer Schwierigkeiten.“16 Um ihrer unterstützenden Funktion gerecht zu werden habe die Sozialdemokratie zwei wesentliche Aufgaben zu erfüllen: einerseits die Entwicklung und Verbreitung eines sozialistischen Bewusstseins, andererseits den Aufbau der Arbeiterorganisationen voranzutreiben.

Die bewusstseinsbildende Funktion der Sozialdemokratie ergibt sich aus der Überzeugung, dass es sich bei sozialistischem Bewusstsein um ein wissenschaftliches Bewusstsein handelt. Es wurzele in den „modernen Wirtschaftsverhältnissen“17 und den damit einhergehenden Widersprüchen. Es entspringe jedoch nicht unmittelbar dem Klassenkampf des Proletariats selbst, sondern könne nur auf Grundlage wissenschaftlicher Einsicht in diese Verhältnisse entwickelt werden. Ursprünglich seien die Träger dieses Bewusstsein einzelne Mitglieder der bürgerlichen Intelligenz, wobei Kautsky hier insbesondere Engels und Marx im Sinn hat. Die von den Intellektuellen entwickelte sozialistische Theorie fände erst vermittels „intellektuell fortgeschrittene[r] Proletarier“18 seinen Weg in den Kampf der Arbeiter:innen: „Sozialistisches Bewusstsein ist also etwas, das von außen in den proletarischen Klassenkampf eingebracht wird und nicht etwas, das ursprünglich innerhalb des Klassenkampfes entstanden ist.“19 Das bedeutet nicht, dass sie ihren Kampf bewusstlos führten, sondern, dass er ohne Theorie beschränkt bliebe auf die „nächsten persönlichen Bedürfnisse“. Ausgeblendet bliebe der weitere polit-ökonomischen Zusammenhang innerhalb der sich die partikularen Auseinandersetzungen abspielten. Dieser könne nur vermittels wissenschaftlicher Kategorien durchsichtig gemacht werden, er erschließt sich nicht einfach vermittels der individuellen oder auch kollektiven Erfahrung der ausgebeuteten Klasse. Das ihr ökonomischer Kampf einer Sisyphus-Aufgabe gleichkomme, dass sie zur Realisierung ihrer Bedürfnisse den gesamten Komplex der kapitalistischen Produktionsverhältnissse überwinden und dass sie dafür die politische Macht der Bourgeoisie brechen müssten, diese Einsicht könne nur durch wissenschaftliche Einsicht und Aufklärung gewonnen werden. Deshalb kommt der Theorie eine so bedeutsame Stellung zu: „Nur die Erkenntnis des gesellschaftlichen Prozesses, seiner Tendenzen und Ziele vermag dieser Verschwendung ein Ende zu machen, die Kräfte des Proletariats zu konzentrieren, sie in großen Organisationen zusammenzufassen, die durch große Ziele vereinigt werden und planmäßig persönliche und Augenblicksaktionen den dauernden Klasseninteressen unterordnen, die ihrerseits wieder in den Dienst der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung gestellt sind.“20

Mit der Entwicklung des Sozialismus zur proletarischen Massenbewegung geht jedoch diese Bewusstseinsfunktion immer stärker auf die kämpfenden Schichten des Proletariats über, die Bedeutung der bürgerlichen Intellektuellen nimmt ab. Dieser Umstand wird auch insofern greifbar, als dass es für das Proletariat nach Kautsky nicht nur darum bestellt sei, die eigenen Existenzbedingungen zu verstehen, sondern darum das „Bewusstsein seiner Kraft“21 zu entwickeln. In dieser Hinsicht hilft die theoretisch vermittelte Einsicht nur bedingt: „Wirksamer für die Gestaltung des Kraftbewusstseins als alle Theorie ist stets die Tat. Ihre Erfolge im Kampf gegen den Gegner sind es, wodurch die Sozialdemokratie dem Proletariat seine Kraft am deutlichsten demonstriert und dadurch sein Kraftgefühl am wirksamsten hebt. Erfolge, die sie aber auch wieder dem Umstand verdankt, dass sie von einer Theorie geleitet wird, die es dem bewussten, organisierten Teile des Proletariats ermöglicht, in jedem Moment das Maximum seiner gegebenen Kräfte aufzuwenden.“22 Das ist die Verbindung zwischen Bewusstsein und Organisation. Der Aufbau eigenständiger Klassenorganisationen verleiht dem Proletariat die notwendige kollektive Macht, die es benötigt, um dem Kapital als Klasse die Stirn zu bieten und in diesem Kampf entwickelt sich ein Bewusstsein seines geschichtlichen Potentials. Schließlich solle die Sozialdemokratie „im und durch den Kampf” nicht nur die fortgeschrittensten, sondern zunehmend breitere Schichten der Klasse organisieren und befähigen „jene ungeheure ökonomische Umwandlung zu leiten, die allem aus Knechtschaft, Ausbeutung, Unwissenheit entstehenden Elend schließlich auf dem ganzen Erdenrund ein Ende bereiten wird.”23 In und durch seine Organisationen baue das Proletariat in Kautsks Vision somit also nicht nur seine Macht gegenüber der bürgerlichen Klasse auf, sondern eignet sich durch die Selbstorganisation von Massenorganisationen die Fähigkeiten an, die politische Macht zu übernehmen und die Gesellschaft grundlegend zu verändern.

Dabei kommt der sozialdemokratischen Partei eine zentrale Bedeutung zu. Nur durch sie könne sich Kautsky zufolge die „Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit“24 zusammenschließen. Die ökonomischen Kämpfe der Klasse beträfen dagegen immer einzelne Berufe oder Sektoren einer Stadt oder Provinz. Diese Kämpfe seinen für sich genommen „noch kein Klassenkampf“. Denn es handele sich bei ihnen zunächst nicht um ein Interesse der gesamten Klasse, welches dort verhandelt würde, sondern „nur um ein Sonderinteresse einer bestimmten Branche.“ Solange die Arbeiter:innen sich nicht in einer „selbstständigen politischen Arbeiterpartei“ organisieren würden, sondern wo ihre Organisationsversuche in Form von Gewerkschaften, Hilfskassen und Genossenschaften auf rein ökonomischem Terrain verbleiben, da „treten nur zu leicht die beruflichen Sonderinteressen in den Vordergrund, das Klassenbewußtsein wird nicht geweckt, ohne dieses ist aber ein wirklich sozialrevolutionäres Wirken unmöglich.“ Während die rein ökonomischen Organisationen nur um die innerhalb der gegebenen Produktionsweise realisierbaren Interessen kämpfen könnten, wäre die Arbeiterpartei als „Vertreterin der Klasseninteressen des gesamten Proletariats“ regelrecht gezwungen „diese Produktionsweise selbst zu bekämpfen, innerhalb welcher eine Emanzipation des Proletariats unmöglich ist.“

Reform, Revolution und Endziel

Diese Emanzipation lässt sich dem orthodoxen Marxismus zufolge nur als bewusste Tat der Mehrheit vorstellen und nur auf revolutionärem Weg verwirklichen. Die zunehmend um sich greifende reformistische Hoffnung, im Bündnis mit liberalen Kräften zugunsten der Aufgabe des sozialistischen Endziels schrittweise Verbesserungen erzielen und so den Kapitalismus ohne die Eskalation des Klassenkampfes – eine Reform nach der anderen – zu überwinden, wird als illusorisch zurückgewiesen. Der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus könnte nicht unbewusst vollzogen, die „Herrschaft der Ausbeuterklasse nicht langsam untergaben“ werden, „ohne dass sich diese Klasse dessen bewusst ist und sich folglich bewaffnet und alle ihre Kräfte einsetzt, um die Stärke und den Einfluss des wachsenden Proletariats zu unterdrücken“25 Deshalb müsse die Sozialdemokratie innerhalb des Proletariats das Bewusstsein wecken, vom unvermeidlichen Zusammenstoß der Klassen und von der Unversöhnlichkeit seiner Interessen und Bedürfnisse mit der herrschenden Ordnung. Daraus speist sich die grundlegende Ablehnung jeglicher Koalitionsregierung mit bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien, die Kautsky als ein „vorzeitiges Gelangen zur Staatsmacht“26, als „Gewinnung eines Anscheins von Staatsmacht vor der Revolution“ zurückweist, da das Proletariat „die wirkliche politische Macht“ noch nicht errungen habe. In einem solchen Szenario, in dem keine aktive und bewusste Mehrheit hinter dem revolutionären Programm der Sozialdemokratie stehe, könne der Eintritt in eine Koalitionsregierung nur zum Verrat an den eigenen Zielen führen, gewinnen könne dabei nicht die Klasse, „sondern im besten Falle nur die Parlamentarier, die das Verkaufsgeschäft abschließen.“ Ein politisches Bündnis würde so niemals der Klasse, sondern lediglich den „Strebern und Ämterjägern“ in den Reihen der Partei nützen.

Die dagegen zu beziehende Position des revolutionären Sozialdemokraten sei es, sich „derartiger Teilnahme seiner Partei an der herrschenden Korruption auf das entschiedenste zu widersetzen.“ „Wenn es ein Mittel gibt, uns das Vertrauen aller ehrlichen Elemente in den Massen zu rauben, uns Missachtung aller kampffähigen und kampflustigen Proletarierschichten zuzuziehen, unseren Aufstieg zu hemmen, dann besteht es in der Teilnahme der Sozialdemokratie an einer Blockpolitik.“ Der Fluchtpunkt der orthodox-marxistischen Strategie ist es sich der Mitverwaltung der kapitalistischen, auf Klassenunterdrückung beruhenden Gesellschaft zu verweigern und stattdessen eine „Partei unversöhnlicher Opposition“27 mit Massenbasis und -einfluss aufzubauen, die in einer revolutionären Situation in der Lage sei, eine Alternative zum Bestehenden zu repräsentieren und den Kampf um die Macht zum Erfolg zu führen: „Ist eine derartige Situation eingetreten, ist ein Regime so weit, dass es an seinen inneren Widersprüchen zusammenzubrechen droht, und gibt es in der Nation eine Klasse, die ein Interesse daran, aber auch die Kraft dazu hat, zur politischen Herrschaft zu gelangen, dann bedarf es nur noch einer Partei, die das Vertrauen dieser Klasse besitzt, die dem wankenden Regime in unversöhnlicher Feindschaft gegenübersteht und die die gegebene Situation klar erkennt, um die aufstrebende Klasse zum Siege zu führen.

Die Ablehnung der Mitverwaltung des Kapitalismus geht jedoch nicht mit einer grundlegenden Ablehnung des Kampfes um Reformen einher. Vielmehr ist der Kampf um Verbesserung der ökonomischen und politischen Stellung der Arbeiterklasse innerhalb des Kapitalismus essenzieller Bestandteil der marxistischen Strategie. Der Achtstundentag, erklärt Kautsky, sei ein „Mittel, die Arbeiterklasse zu heben und beizutragen zu ihrer politischen und sozialen Reife, zu ihrer Fähigkeit, das Werk der Befreiung, der sozialen Umgestaltung selbst in die Hand zu nehmen.“28 Eine besondere Stellung nimmt jedoch der Kampf um die Demokratie und die politischen Freiheiten der Arbeiterklasse ein: „Diese Freiheiten sind für die Arbeiterklasse von der größten Bedeutung; sie gehören zu ihren Lebensbedingungen, deren sie zu ihrer Entwicklung unbedingt bedarf. Sie bedeuten Licht und Luft für das Proletariat, und wer sie ihm verkümmert oder vorenthält oder die Arbeiter von dem Kampf um Gewinnung und Erweiterung dieser Freiheit abhalten will, der gehört zu den schlimmsten Feinden des Proletariats."29 Der Unterschied zum Reformismus besteht also nicht in der Ablehnung von Reformen. Er besteht vielmehr im Zusammenhang der Einzelforderungen und ihrem Bezug zum Endziel der Bewegung: „Was politische Parteien, namentlich wenn sie große historische Aufgaben zu erfüllen haben, wie die sozialdemokratische, zusammenhält, das sind ihre Endziele, nicht ihre augenblicklichen Forderungen, nicht die Anschauungen über das Verhalten in allen den Einzelfragen, die an die Partei herantreten. (…) Ohne Einigkeit in diesen Punkten wäre ja eine Zusammenschließung so disparater Elemente zu einer Partei ein Unding.“30

Parlamentarismus und Staat

Getragen von der tiefen Überzeugung in die Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze und die dadurch regelrecht verbriefte Rolle als fundamental-oppositioneller Kraft, erschien auch den revolutionären Teilen der Sozialdemokratie die Nutzung des Parlaments als verlockende Chance und nicht als eine integrative Sackgasse. Indem mit der Sozialdemokratie die Arbeiter:innenklasse als eine organisierte politische Kraft auf der Ebene des Staates interveniert, beginne der Parlamentarismus „sein früheres Wesen zu ändern.“31 Er höre nun auf „ein bloßes Herrschaftsmittel der Bourgeoisie zu sein.“ Vielmehr könnten in den Wahlkämpfen und den Auseinandersetzungen im Parlament breiteste, bisher durch die Sozialdemokratie nicht erreichbare Schichten des Proletariats erreicht und aufgerüttelt werden. Sie würden sich als das beste Möglichkeit erweisen, das Proletariat in seiner ganzen Breite anzusprechen, aufzuklären und „immer fester zu einer einheitlichen Arbeiterklasse zusammenzuschweißen“. Im Parlament finde es „das mächtigste dem Proletariat gegenwärtig zu Gebot stehende Mittel, die Staatsgewalt zu seinen Gunsten zu beeinflussen und ihr diejenigen Konzessionen abzuringen, die nach Maßgabe der Verhältnisse ihr vorläufig überhaupt abgerungen werden können: kurz, diese Kämpfe gehören zu den wirksamsten Hebeln, das Proletariat aus seiner wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und moralischen Erniedrigung zu erheben." Gleichzeitig wurde gesehen, dass sich die Arbeiterpartei nicht auf einen rein parlamentarischen Kampf beschränken könne, da ihre wirklichen Machtmittel jenseits des Parlaments liegen würden: „Nur wenn das Proletariat eine außerparlamentarische Kraft hat, auf die es zurückgreifen kann, kann es seine parlamentarische Macht voll ausschöpfen.“ 32

Den Wahlen komme jedoch die besondere Bedeutung zu, dass sich hier einerseits die gesellschaftlichen Klassen vermittels ihrer Parteien vereinen und klar gegeneinander absetzen würden. Sie seien daher „ein mächtiges Mittel, das Klassenbewußtsein zu erwecken und zu stärken, ein mächtiges Mittel, die Proletarier unter einer Fahne zu vereinigen, Ethusiasmus und Begeisterung für weite Ziele in ihnen zu erwecken“.33 Der Wahlkampf diene der Sozialdemokratie so als ein gewaltiger Hebel der Organisierung und Disziplinierung wie der Aufklärung und Propaganda.“ Deshalb müsse sie auch dort für das allgemeine Wahlrecht eintreten, wo das Parlament über keine wirkliche politische Macht verfüge. Dies verdeutlicht, dass die Priorität der parlamentarischen Taktik in der Bewusstseinsbildung vermittels der öffentlichen Propagierung sozialistischer Positionen und nicht in den Reformen gesehen wurde, die sich durch direkte Beeinflussung der Gesetzgebung möglicherweise erringen ließen. Insofern erscheint auch hier, trotz der im Rückblick schlagenden Unterschätzung der Integrationskräfte des Parlamentarismus, als übergeordnete strategische Erwägung die Orientierung auf das sozialdemokratische Endziel bestimmend. Diesem Endziel folgend agiert die SPD im Parlament zunächst nach dem Prinzip fundamentaler Feindschaft gegenüber der herrschenden Ordnung: „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“ (Wilhelm Liebknecht)

Wie in den folgenden Jahrzehnten um diese fundamental-oppositionelle Ausrichtung innerhalb der Partei gerungen wurde, wird Thema der folgenden Beiträge sein. In jedem Fall entwickelte sich die stetig wachsende und von Wahlerfolg zu Wahlerfolg eilende SPD schnell zur wichtigsten Partei der sozialistischen Bewegung in Europa und prägte nicht zuletzt die Orientierung der russischen Sozialisten: „In den letzten Jahrzehnten war die deutsche Sozialdemokratie sogar noch etwas mehr als für die Sozialdemokratie der ganzen Welt das Vorbild für die Sozialdemokratie Rußlands.“34