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Revolutionäre Stadtteilarbeit

Revolutionäre Stadtteilarbeit

11. Mai 2022

Im April 2022 ist unser Buch „Revolutionäre Stadtteilarbeit: Zwischenbilanz einer strategischen Neuausrichtung linker Praxis“ beim Unrast Verlag erschienen. Wir haben darin fünf Stadtteilgruppen zu ihrer Strategie und Praxis befragt. Dabei ging es uns insbesondere darum zu erfahren, ob und wie es gelingt, Leute außerhalb der linken Szene zu erreichen, und wie die Gruppen ihre Arbeit an der Basis, mit der sie an Alltagsprobleme der Anwohner:innen anknüpfen, mit ihren gesamtgesellschaftlichen Transformationszielen in Verbindung zu bringen versuchen.

Das Buch kann im Buchhandel erworben und eine PDF-Version kann auf unserer Website kostenlos heruntergeladen werden. An dieser Stelle veröffentlichen wir das Vorwort und einen Auszug aus einem der Interviews.

Eine der Gruppen, die wir interviewt haben, ROSA aus Münster, hat eine Kampagne zur Stadtteilorganisierung gestartet. Wir empfehlen, an den Veranstaltungen teilzunehmen, die im Rahmen dieser Kampagne hybrid in Münster stattfinden werden. Die Zoom-Einwahldaten für die Veranstaltungen könnt ihr unter von-unten-nach-links[at]riseup.net erfragen. Der Kampagne könnt ihr auf Instagram folgen.

 

Das Vorwort

In Reaktion auf ihre geringe Wirkmächtigkeit und fehlende gesellschaftliche Verankerung wird in der deutschsprachigen radikalen Linken seit einigen Jahren eine Debatte um eine strategische Neuausrichtung geführt. Im Zuge dieser Debatte haben sich an unterschiedlichen Orten Initiativen entwickelt, die mit ihrer Arbeit im Stadtteil ansetzen. Sie versuchen, kapitalismus- und herrschaftskritische Politik im Alltag zu verankern, indem sie sich mit Menschen entlang von gemeinsamen Interessen organisieren und verbindliche solidarische Beziehungen aufbauen. Ein Ziel ist, dass sich in gemeinsamen Kämpfen, in Gesprächen und durch Bildungsveranstaltungen antikapitalistische Positionen entwickeln und verbreiten. Eine überregionale Organisierung, auf die ein Teil der Gruppen parallel zu ihrer Arbeit im Stadtteil hinarbeitet, soll dabei helfen, eine Perspektive für eine umfassende gesellschaftliche Transformation zu erarbeiten und zu größerer Handlungsfähigkeit zu gelangen.

Wir von Vogliamo tutto gehören zum überwiegend theoretisch arbeitenden Teil der radikalen Linken und haben selbst keine Erfahrung mit Basisarbeit. Wir finden an dem Ansatz besonders spannend, dass er eine Perspektive bietet, die Selbstisolation der Linken zu überwinden. Die Idee zu diesem Interviewprojekt entstand im Gespräch mit Genoss:innen aus einer der Stadtteilgruppen, die bedauerten, dass ihnen oft die Zeit für den Austausch mit ähnlich ausgerichteten Initiativen fehle. Unser Interesse war es zunächst, ein möglichst genaues Bild sowohl von der Praxis – daher die teils recht kleinteiligen Fragen an die Gruppen – als auch von den zugrundeliegenden strategischen Überlegungen zu bekommen. So soll eine erste Einschätzung möglich werden, wie weit dieser Praxisansatz im Hinblick auf die formulierten Ziele trägt.

Das vorliegende Buch scheint uns derzeit die beste Form zu sein, in der wir selbst zum Gelingen dieses Ansatzes beitragen können. Unser Ziel ist es, Interessierten die bisherigen Erfahrungen der Gruppen zugänglich zu machen, damit sie möglicherweise als Inspiration für die eigene Praxis dienen können. Darüber hinaus wollen wir die Diskussion über das bisher Erreichte, über gemeinsame Problemstellungen und die unterschiedlichen Lösungswege fördern. Nicht zuletzt möchten wir diese Praxis in der radikalen Linken bekannter machen.

Wir haben durch die Interviews sehr viel gelernt und einige unserer Vorannahmen und Erwartungen revidiert. Beispielsweise waren wir überrascht davon, wie gut es den Gruppen gelungen ist, etwa durch Haustürgespräche Nachbar:innen anzusprechen und Interesse für eine gemeinsame Organisierung zu wecken. Zu Beginn unserer Auseinandersetzung mit Basisarbeit im Stadtteil stand für uns außerdem die Einschätzung im Zentrum, dass die Gründung einer überregionalen Assoziation für den Erfolg dieses Ansatzes unerlässlich ist. Für uns hat sich diese Annahme zwar bestätigt, aber es wurde auch deutlich, dass bisherige Versuche, eine solche Assoziation zu gründen, mit einigen Schwierigkeiten verbunden waren: So haben die Gruppen die Erfahrung gemacht, dass eine überregionale Organisierung nicht per Beschluss im Hauruckverfahren entstehen kann, sondern mit den Bedürfnissen und Kapazitäten der Basisinitiativen korrespondieren muss und einer kontinuierlichen Beziehungsarbeit bedarf.

Wir würden diesen Praxisansatz gerne weiterhin unterstützen. Wenn ihr als Gruppe in diesem Bereich tätig seid und unsere Zuarbeit gebrauchen könntet – zum Beispiel, weil ihr das Bedürfnis nach Austausch mit anderen, ähnlich arbeitenden Gruppen habt oder weil ihr zu bestimmten Dingen, die ihr euch vorgenommen habt, nicht kommt und findet, dass diese Dinge im Sinne einer Arbeitsteilung auch von außen angegangen werden könnten –, dann würde es uns sehr freuen, wenn ihr auf uns zukommt.

Zum Aufbau dieses Buchs: In einem einleitenden Text diskutieren wir die aus unserer Sicht zentralen Aspekte der eingangs erwähnten Strategiedebatte. Darauf folgen die Interviews, die wir zwischen September 2020 und Mai 2021 mit jeweils zwei bis vier Mietgliedern von fünf Stadtteilgruppen geführt haben. Wir haben die Transkripte der Interviews, die zwischendurch immer wieder auch die Form eines Gesprächs angenommen haben, gekürzt und für eine bessere Lesbarkeit überarbeitet. Es ist nicht notwendig, sie in einer bestimmten Reihenfolge zu lesen. Wir haben sie nach geografischer Lage angeordnet, von West nach Ost: Berg Fidel Solidarisch und ROSA (Münster), Solidarisch in Gröpelingen und kollektiv (Bremen), Wilhelmsburg Solidarisch (Hamburg), Hände weg vom Wedding (Berlin) und Kiezkommune Wedding (Berlin). Danach folgt eine Diskussion mit Delegierten aus Münster und Bremen, die einige Problemstellungen aufgreift, die, wie sich in den Interviews gezeigt hat, mehrere der Gruppen umtreiben. Der Band schließt mit einem Auswertungstext, in dem wir unsere Erkenntnisse aus den Interviews zusammenfassen: Was sind die Gemeinsamkeiten der Gruppen, was die Unterschiede zwischen ihnen und was könnten jeweils Gründe dafür sein? Welche Schwierigkeiten sind bisher aufgetaucht und wie gehen die Gruppen jeweils damit um? Welche Erfolge können bisher verzeichnet werden? Welche Perspektiven ergeben sich aus der derzeitigen lokalen Praxis für eine überregionale Organisierung?

Wir wünschen viele Erkenntnisse beim Lesen und freuen uns über Rückmeldungen aller Art.

Vogliamo tutto, Dezember 2021
vogliamo.tutto@disroot.org

 

Auszüge aus dem Interview „Delegiertendiskussion: Berg Fidel Solidarisch (BFS) & ROSA | Münster, Solidarisch in Gröpelingen (SiG) & kollektiv | Bremen (S. 171-182)

 

■ Überregionale Organisierung

Luise: In den Interviews 1 hat sich gezeigt, dass überregionale Organisierung für die meisten Gruppen ein wichtiges Thema ist, und auch aus unserer Sicht ist es entscheidend dafür, dass der Ansatz Wirkmächtigkeit bekommen kann. Gleichzeitig haben eure bisherigen Erfahrungen gezeigt, dass es dabei einige Schwierigkeiten gibt und sich die Frage stellt, wie viel inhaltliche und organisatorische Übereinstimmung zwischen den Gruppen nötig ist, damit es funktionieren kann. Darüber würden wir auch jetzt gerne mit euch diskutieren: Welchen Zweck seht ihr in der überregionalen Organisierung? Was können Schwierigkeiten dabei sein? Welches Maß an Übereinstimmung braucht es? Wie genau könnte die überregionale Zusammenarbeit aussehen? Geht es darum, sich für die unmittelbar im Stadtteil anfallende Arbeit zusammenzuschließen, oder eher darum, eine separate Organisation zu entwickeln, die eigene Funktionen erfüllt?

[…]

Tabo Lamarca (SiG): Wenn wir zu einer tiefen Veränderung der Gesellschaft beitragen möchten, dann denke ich, dass dazugehört, sich überregional zu organisieren. In einem Stadtteil allein können wir keine Veränderung der Gesellschaft erreichen. Es ist wesentlich, dass diese Arbeiten über die Städte hinausgehen. Das Ziel ist es, eine organisierte soziale Bewegung und eine Art übergreifende Stadtteilarbeitsorganisation zu entwickeln. Die Frage ist immer: Was bedeutet überregionale Organisierung? Es gibt überregionale Plattformen, Bündnisse, Fronten, usw. Aber was bedeutet es für die Stadtteilarbeit, sich überregional zu organisieren? Für mich bedeutet es eine Art von Organisierung, die nicht nur in einem Stadtteil arbeitet. Es gibt natürlich vieles, was am Anfang aufgrund von Kapazitäten problematisch ist. Bestimmte Sachen laufen nicht gut, aber die überregionale Organisierung sollte deshalb nicht infrage stehen, sondern vorab als Grundverständnis bestehen. Wir denken, dass eine andere Gesellschaft möglich ist, und wir möchten sie erreichen. Daher müssen wir die Kapazitäten schaffen und die überregionale Organisierung intensivieren.

Tom (BFS): Ich möchte daran anknüpfen: Ich glaube, wir müssen uns immer wieder daran erinnern, dass wir Basisarbeit als Methode entwickeln wollen, aber nicht als Ziel an sich, sondern dass das Ziel eine gesamtgesellschaftliche Veränderung ist und wir Basisarbeit als einen notwendigen Weg dahin sehen. Wenn man sich dann die Frage stellt, wie gesamtgesellschaftliche Veränderung passieren kann, ist es ja eigentlich logisch, dass es nicht in einem Stadtteil für sich funktioniert.

Für unsere lokale Praxis ist es wichtig, dass die Organisierung anhand konkreter Themen wie zum Beispiel Mietkämpfen ein Hebel ist, um Leute überhaupt zu erreichen und in unsere Strukturen zu holen, aber nur als erster Schritt, und dass dann eine kontinuierliche Organisierung und politische Bildungsarbeit folgen müsste: Was hat zum Beispiel Miete mit Kapitalismus zu tun, warum können wir in Berg Fidel nicht den Kampf gegen die LEG Immobilien gewinnen, warum braucht es eine gemeinsame Bewegung? Ich glaube, dafür braucht es übergeordnete, überregionale Strukturen, die einem dabei helfen, so etwas wie Bildungsarbeit zu machen. Aber auch für die Nachbar:innen, die wir hier organisieren, ist es total wichtig zu merken, dass wir nicht die Einzigen sind, dass es an anderen Orten Leute gibt, die ebenso aktiv sind, dass es eine übergeordnete Idee oder ein größeres Ziel gibt.

Der erste Schritt ist, uns als Initiativkräfte2 zu vernetzen und uns diese Fragen zu stellen. Aber der Effekt, den es haben sollte, ist aus meiner Sicht, dass alle Beteiligten sich kennenlernen und als Teil einer Bewegung begreifen, nicht nur als Mieter:innen, die gegen ihre individuellen Probleme kämpfen. Das lässt sich nur überregional herstellen.

Jana (BFS): Ich wollte ganz ähnliche Dinge sagen wie Tom. Nimah hat vorhin von Diskursverbreitung gesprochen. Dabei geht es darum, den Ansatz von Basisorganisierung auch in der Linken stark zu machen und mehr Gruppen zusammenzubringen, die Basisorganisierung vorantreiben, um über unsere Gruppe hinaus eine organisierte soziale Bewegung anstoßen zu können – damit es mehr solcher Gruppen gibt. Wie Tom gerade gesagt hat, kann die überregionale Verbindung auch die Diskurse und die Haltung im Stadtteil verändern, dadurch, dass diese einen größeren Bezugspunkt bekommen und schneller die Frage aufwerfen, wo die verbindenden Elemente zwischen Kämpfen sind, weil wir alleine die Kämpfe gegen zum Beispiel die Immobilienkonzerne nicht gewinnen können usw. Das ist dann der erste Schritt, ein größeres Bild aufzumachen, größere Fragen zu stellen und anzugehen. So kann eine überregionale Organisierung auch innerhalb der Basisorganisierung dazu beitragen, dass diese kein Selbstzweck bleibt, sondern dass wir auf eine größere Veränderung hinarbeiten. Auch darin würde ich eine Funktion dieser Organisierung sehen.

 

Baldo: Ich wollte nochmal nachfragen, wie sich Strukturen oder Beziehungen über die einzelne Gruppe hinaus entwickeln lassen. Ich glaube, ihr hattet beide in den Interviews gesagt – und das deckt sich auch mit dem, was zum Beispiel Hände weg vom Wedding gesagt hat – dass es nicht funktioniert, die Sache übers Knie zu brechen, indem man einfach einen Dachverband gründet. Ist für euch aber der Schluss daraus zu sagen: Es geht überhaupt nicht, zu so etwas wie einer Konferenz einzuladen, weil das Format zu offen ist? Ist euer Weg gerade, sehr gezielt Gruppen anzusprechen, bei denen ihr schon wisst, dass ihr zusammenarbeiten könnt, um die Organisierung aus einer konkreten Zusammenarbeit heraus wachsen zu lassen, von der schon bekannt ist, dass sie etwas bringt – im Gegensatz zu einem abstrakten Vorgehen, bei dem man sich einfach deshalb trifft, weil man es wichtig findet, eine Organisierung zu haben? Ist das euer Schluss oder denkt ihr, man sollte vielleicht noch einmal über andere Wege nachdenken?

Tom (BFS): Ich habe keine Antwort, aber ich versuche, meine Gedanken zu teilen. Ich glaube, dass beides wichtig ist: So etwas wie ein Kongress könnte die Funktion erfüllen, Gruppen und die Erfahrungen aus der Praxis der letzten Jahren mal wieder zusammenzuführen. Es gab ja solche Versuche, wie damals mit dem »Selber-Machen-Kongress« oder dem »Kongress der Kommunen«3, wo man immerhin mal zusammengekommen ist und wo wir gesehen haben, welche Gruppen ähnliche Sachen machen. Man konnte sich austauschen und Erfahrungsberichte teilen. Das ist in den letzten Jahren ein bisschen verlorengegangen; diese Orte gab es nicht mehr, obwohl sie eigentlich wichtig wären. Denn nach unserer Analyse besteht die Gefahr, dass die verschiedenen Ansätze sich vereinzeln. Jede Gruppe hat sich ins Lokale zurückgezogen, und man muss jetzt eigentlich wieder anfangen, das Ganze auf eine gesamtgesellschaftliche oder überregionale Ebene zu heben.

Aus unserer Erfahrung mit diesen Kongressen gelingt es kaum oder gar nicht, dadurch überregionale Organisierungsprozesse oder Verbindungen zwischen Gruppen anzustoßen, aus denen auch eine konkrete Zusammenarbeit entsteht. Ich glaube, das kann ein Kongress nicht leisten, und deswegen braucht es daneben wohl einen Prozess, in dem man sich erst einmal kennenlernt und merkt, an welchen Stellen man zusammenarbeiten kann, sodass es auch tatsächlich etwas bringt und man ein gemeinsames Ziel verfolgt. Ich würde nicht sagen, dass das ein Widerspruch ist, aber für einen Organisierungsprozess braucht es aus unserer Sicht eher einen langsamen Prozess, der klein beginnt und dann wächst.

Josefine (SiG): Ich kann mich da Tom anschließen. Ich glaube, man muss einfach überlegen, in was man Kapazitäten und Ressourcen stecken will, und für mich persönlich macht es gerade mehr Sinn, in einen engeren Prozess erst einmal mit Gruppen zu gehen, die wir schon ein paar Mal getroffen haben oder bei denen Einzelpersonen in Kontakt waren; oder zu versuchen, sich häufiger zu sehen und zu sprechen, statt alles aufzumachen und ein großes Treffen anzustreben. Gerade sehe ich eher die Notwendigkeit, an den kleinen Verbindungen, die es schon gibt, dranzubleiben und da Energie reinzustecken. Später daraus in größeren Treffen und Konferenzen etwas zu machen, wäre auch cool.

[…]

Nimah (SiG): Ein Kongress kann dazu beitragen, sich kennenzulernen und auszutauschen, und auch dazu, dass sich der Ansatz der Basisarbeit auf der Diskursebene innerhalb der Linken verbreitet. In diesem Sinne haben die beiden Kongresse den Diskurs jeweils zumindest ein bisschen bestärkt. Aber sie sind ihrem eigenen Anspruch nach gescheitert, weil sie damit gerechnet haben, dass so etwas wie »Wir sammeln uns zufällig, so viele Gruppen wie möglich, und hoffen, dass daraus eine Organisierung entsteht« funktionieren kann. Viele von uns denken aber, dass es ein Prozess ist, der einen langen Atem braucht. Damit wir uns gemeinsam für so etwas organisieren können und um nicht enttäuscht zu werden müssen wir – auch in der Anfangsphase – viele Schritte zusammen gehen, um auf dem Weg etwas bauen zu können.

Um das zu konkretisieren: Die Gruppen, die sich bundesweit um Basisarbeit organisieren wollen, sollten schon gewisse Gemeinsamkeiten in ihrem Grundkonzept und in ihrer Praxis haben, um gemeinsam einen Aufbauprozess anfangen zu können. Erst dann können sie – vor dem Hintergrund gemeinsamer Ziele und gemeinsamer offener Fragen – zusammen einen Suchprozess entwickeln, um danach eine Übereinkunft zu finden, die diese gemeinsame Organisierung ermöglicht. Dieser Suchprozess ist nicht bloß eine theoretische Diskussion, sondern es ist gleichzeitig auch ein Aufbauprozess, der durch die Praxis läuft. Das heißt, wir versuchen unsere Praxis zielführend zu ändern und so zu entwickeln, dass weitere Schritte zu einer bundesweiten Organisierung möglich werden. In diesem Sinne sollten auch die ersten Schritte ganz bewusst so unternommen werden, dass die Voraussetzungen des Aufbaus eines gemeinsamen Prozesses erfüllt sind.

[…]

 

■ Rolle der Initiativkräfte

Baldo: Wir würden vorschlagen, als Nächstes über die Rolle von Initiativkräften zu sprechen, und ich möchte eingangs nochmal kurz formulieren, worum es uns dabei geht. Generell ist uns aufgefallen, dass es bei der Basisarbeit in den Gruppen immer Initiativkräfte gibt, also Leute, die die Basisarbeit anfangen und sie häufig auch mit bestimmten Zielvorstellungen verbinden. Gleichzeitig gibt es Leute im Stadtteil, die sich auf diesen Anstoß hin selbst organisieren und Teil der Gruppe werden. Die Gruppen differenzieren sich dann in unterschiedliche Strukturen: Häufig gibt es so etwas wie eine Reflexionsgruppe wie in Bremen zum Beispiel, in der hauptsächlich Initiativkräfte sind, während es sich in der praktischen Arbeit stark vermischt. Wir haben uns gefragt, wie ihr die Zusammenarbeit wahrnehmt. Wird diese Differenzierung von den Leuten, die aus dem Stadtteil dazukommen, thematisiert? Habt ihr das Gefühl, dass dadurch hierarchische Strukturen entstehen, obwohl ihr das eigentlich nicht wollt? Oder habt ihr das Gefühl, dass es notwendigerweise so ist, dass unterschiedliche Leute, die mitarbeiten, auch unterschiedliche unmittelbare Ziele damit verbinden, und dass es nur darauf ankommt, die Entscheidungsstrukturen und die gemeinsame Arbeit so zu organisieren, dass alle bekommen, was ihnen daran wichtig ist? Um es runterzubrechen: Habt ihr das Gefühl, dass das ein grundsätzlicher Widerspruch in dieser Art von Arbeit ist – dass es sich um Selbstorganisierung handeln soll, die aber von Initiativkräften ausgeht – oder ist es eher ein Sachverhalt, mit dem man nur einen guten Umgang finden muss, sodass er dann eigentlich kein Problem darstellt?

Tom (BFS): Ich würde auf die letzte Frage antworten, dass das Ziel von Basisarbeit generell ist, Leute dazu zu aktivieren, sich selbst zu Initiativkräften auszubilden, Stück für Stück mehr Verantwortung zu übernehmen, sich ein politisches Bewusstsein anzueignen und strategische Diskussionen mitzuführen. Im Moment fangen Leute, die in dem Mieter:innentreffen von Berg Fidel Solidarisch aktiv sind, an, solche Entwicklungsprozesse zu durchlaufen und in diesem Kreis selbst Verantwortung und eine Initiativkraftfunktion zu übernehmen. Ich würde nicht sagen, dass hierarchische Verhältnisse entstehen, aber es besteht die Gefahr, dass es separate Bereiche gibt, also die Mieter:innenorganisierung auf der einen und die darüber hinausgehende politische Organisierung im Strategietreffen auf der anderen Seite, in der dann größtenteils linke Aktivist:innen sitzen.

Die Schwierigkeit ist, wie wir es schaffen, diese Bereiche zu verbinden und in einem Feld wie der Mieter:innenorganisierung zu vermitteln, dass es uns um eine größere Idee, um eine gesamtgesellschaftliche Veränderung geht und dass wir eine soziale Bewegung aufbauen wollen. Erstmal organisieren wir die Leute ja, indem wir sagen: »Ihr habt ein Problem mit dem Vermieter, lasst uns gemeinsam dagegen kämpfen«. Der nächste Schritt muss sein zu vermitteln, dass sich das Problem nur im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung lösen lässt. Das ist unsere Aufgabe als Initiativkräfte. Deswegen würde ich sagen, man muss nicht nur einen richtigen Umgang mit dem Status Quo finden, sondern auch daran arbeiten, dieses Verhältnis immer wieder aufzulösen. Der Weg dahin wäre wahrscheinlich politische Bildung. Wir versuchen das im Kleinen zu machen, aber uns fehlen auch die konkreten Strukturen, um beispielsweise die Leute in die Strategiegruppe aufzunehmen und die Grundlagen zu vermitteln, die es dafür braucht. Ein instrumentelles Verhältnis entsteht glaube ich nicht, weil unser Prinzip ist: Wir entscheiden als Strategiegruppe nicht über Dinge, die den Mietbereich betreffen, sondern das wird in den Mieter:innentreffen entschieden. Das größere Problem ist, dass uns auch von Seiten der Nachbar:innen diese Rolle zugeschrieben wird und es oft unsere Aufgabe ist, zu sagen: Wir wollen das gemeinsam machen und ihr müsst es im besten Fall selber machen. Da sind wir eher selbstkritisch, als dass Kritik an uns herangetragen wird.

Nimah (SiG): Die Rolle von Initiativkräfte ist ein sensibles Thema. Diese Diskussion hatten wir bei der Gründung von Solidarisch in Gröpelingen: Wie können wir die Fehler vermeiden, die in der Vergangenheit in diesem Bereich gemacht wurden und das negative Bild, das von dieser Praxis vorherrscht, prägen? Ich würde sagen: In einer widersprüchlichen Zeit kann man nicht widerspruchsfrei leben oder Politik machen. Um solche Projekte, die ein Gesamtkonzept entwickeln, durchzuführen, braucht es Leute, die das schultern und die Rolle von Organizer:innen oder Koordinator:innen übernehmen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass das Projekt schon in der Aufbauphase nicht weiter geht oder von den eigenen Zielen abweicht und keine Perspektive anbietet. Zum Beispiel hatten am Anfang einige von uns die Idee, dass es für diejenigen, die aus dem Stadtteil dazukommen, möglich sein muss, als neue Initiativkräfte auf den Strategietreffen dabei zu sein. Wir haben sogar eine Weile lang versucht, das zu machen, aber dann haben wir gesehen, dass es nicht geht, weil es nicht nur den Prozess einschränkt, sondern für viele Personen auch nicht angenehm und eher abschreckend ist, in dieser Situation zu sein.

Grundsätzlich denken wir, dass die Gesellschaft heterogen ist, und wir nehmen uns als Linksradikale nicht als getrennt von der Gesellschaft wahr, sondern sind Teil der gesellschaftlichen Heterogenität. Aber uns ist bewusst, dass nicht alle Leute – sei es aus strukturellen oder aus zufälligen Gründen – im gleichen Maß politisch engagiert und gebildet sind. Das ist teilweise auch das Ziel der Stadtteilinitiative: Es geht nicht nur um die soziale Frage, sondern auch darum, eine Möglichkeit zu schaffen, dass die Unterdrückten sich politisch entwickeln können. Das braucht natürlich, wie Tom gesagt hat, Bildungsarbeit. Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht auf Augenhöhe mit den Leuten sprechen können. Wir versuchen bei Solidarisch in Gröpelingen, den Leuten eine Mitmachmöglichkeit anzubieten, bestimmte Angebote, bei denen sich die Leute mit dem Prozess vertraut machen können. So können sie unser Hauptkonzept besser verstehen und entscheiden, ob sie wieder rausgehen oder tiefer einsteigen möchten.

 

Anna: Tom, du hast gesagt, dass die Kluft zwischen Initiativkräften und Nachbar:innen vor allem mit dem Politisierungsgrad zu tun hat und dass du dir vorstellen kannst, dass Bildungsarbeit da etwas bringen würde. Habt ihr das schon mal versucht, und welche Art von Veranstaltungen könnte das sein? Außerdem: Welche Erfahrungen habt ihr mit politischen Diskussionen gemacht, die über die konkrete Organisierung gegen Mieten oder Ähnliches hinausgehen? Habt ihr schon versucht, über Kapitalismus etc. zu diskutieren, und wie reagieren Leute darauf?

Tom (BFS): Wie gesagt, damit haben wir noch nicht viele Erfahrungen gemacht, zumindest nicht in organisierter Form. Was sich bei uns an Diskussionen abspielt, findet meist in informellen Gesprächen statt oder wird auf Mieter:innentreffen kurz angerissen. Das geht auch oft bis zu dem Punkt, dass man sich darauf einigt, dass der Kapitalismus schlecht ist.

Was ich mit solchen Veranstaltungen meinte: Wir wollen Leuten, die Interesse zeigen, sich allgemein, also über ein konkretes Thema hinaus mit uns zu organisieren, die Möglichkeit bieten, bevor sie auf dem Strategietreffen sitzen und über gesamtgesellschaftliche Veränderungen reden, sich in Workshops oder Ähnlichem mit unseren Grundsätze und Zielen und unserer Art der Diskussion vertraut zu machen. Konkret fangen wir gerade an, eine Veranstaltung zu unserem Verhältnis zu Parteien und Sozialarbeit zu planen, die wir auch für die Mieter:innen, die schon mit uns aktiv sind, nutzen wollen. Es ist für uns ein wichtiger Grundsatz, dass wir nicht mit Parteien oder sozialarbeiterischen Institutionen zusammenarbeiten, und uns ist klar geworden, dass aus Sicht der Nachbar:innen nicht so ganz ersichtlich ist, warum. Bei der Konzeption der Veranstaltung sind wir ganz am Anfang. Wir haben überlegt, Theaterelemente oder Filme mit aufzunehmen, also andere Formen zu finden als einen stumpfen Vortrag oder eine Diskussionsveranstaltung. Bisher haben wir es noch nicht wirklich geschafft, Leute in diese Strategiegruppe aufzunehmen, vielleicht weil uns solche Sachen fehlen.

Josefine (SiG): Filmabende waren ein Teil unserer Bildungsangebote, die wir irgendwann nicht mehr gemacht haben, aber eine Zeit lang ziemlich regelmäßig: Wir haben politische Spielfilme gezeigt mit dem Angebot, danach noch zusammen zu diskutieren. Aus dem Stadtteil war es nicht so gut besucht, aber wenn man dann doch Leute trifft, bei denen man merkt, dass sie gerne reden wollen, dann ist es unsere Idee, sie in eines unserer Komitees einzubinden, wo eine weitere Politisierung stattfinden kann und wo man weiter über Themen spricht, beispielsweise Rassismus oder Miete oder Kapitalismus.

Wir wünschen uns immer einen einfachen oder allgemeingültigen Weg, wie Leute dann in die Strategiegruppe kommen oder Initiativkräfte werden, aber eigentlich habe ich gerade das Gefühl, dass wir auf jede Person einzeln zugeschnittene Wege finden müssen, um sie da abzuholen, wo sie ist. Wenn wir merken, dass Leute Interesse an den Hintergründen haben und viele Fragen stellen, dann haben wir in der letzten Zeit angefangen, transparent zu machen: Wo kommt Solidarisch in Gröpelingen eigentlich her, wie hat sich die Gruppe gegründet, wie ist ihre Struktur und welche Bereiche gibt es? Damit Leute besser verstehen, wer wir sind und was wir wollen, und sich dann auch mit uns organisieren. Bei der Frage, was uns eine überregionale Organisierung bringt, habe ich die ganze Zeit gedacht, dass Bildung dazugehört, denn wenn Gruppen einander ähnlich sind und sich ähnliche Fragen stellen und darauf ähnliche Antworten finden – beispielsweise, was Tom gerade genannt hat, das Verhältnis zu Parteien; das beschäftigt uns in Gröpelingen auch -, dann wäre es cool, das gemeinsam anzugehen, also entweder das Veranstaltungskonzept und den Inhalt der Veranstaltung zu übernehmen, oder zu versuchen zusammenzukommen.

[…]

 

  • 1. Gemeint sind die Einzelinterviews mit den fünf Gruppen, an die sich dieses Interview mit mehreren Gruppen anschließt.
  • 2. Als „Initiativkräfte“ werden in diesem Kontext Aktivist:innen bezeichnet, die Stadtteilinitiativen gründen, auf Nachbarinnen zugehen und versuchen, sie in Kämpfe zu involvieren und in die Stadtteilorganisation zu integrieren und ein kapitalismuskritisches Bewusstsein zu etablieren. Ihre Aufgabe wird als vorübergehend gesehen und die Hoffnung ist, dass sich die Initiativkräfte im Zuge der Organisierung mittelfristig überflüssig machen.
  • 3. Der Selber-Machen-Kongress fand 2017 in Berlin statt und versammelte rund 600 Personen, um Strategien rund um Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie zu diskutieren. Zum »Kongress der Kommunen«, einer Initiative zum überregionalen Zusammenschluss linker Basisgruppen, siehe https://lowerclassmag.com/2018/04/23/kongress-derkommunen/.