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Israel, ein Apartheidstaat?

Israel, ein Apartheidstaat?

03. April 2024

Im Nahen Osten entfesselte sich abermals eine grausame Kriegssituation. Nach dem Angriff auf Israel im Oktober 2023 und der Geiselnahme hunderter Menschen durch die Hamas, nimmt Israel bereits seit nunmehr sechs Monaten Rache und sein Militär greift den Gazastreifen bis heute unerbittlich an. Trotz der sich zuspitzenden humanitären Katastrophe im Gazastreifen ist weder Israel zum Einstellen der Kampfhandlungen zu bewegen, noch sieht sich der Nachbarstaat Ägypten genötigt, seine Grenzen zu öffnen und den Flüchtenden Sicherheit zu gewähren. Um den polarisierenden Konflikt wird in Deutschland und international weiterhin gerungen. Erklärungsschemata wie koloniale White Supremacy oder antisemitischer Antizionismus, die auf Social Media verbreitet werden oder auf Demonstrationen für Stimmung sorgen, evozieren starke Emotionen und laden zur Identifizierung mit dem einen oder anderen Nationalismus ein. Leider steht dies einem tieferen Verständnis und einer soliden Analyse der Situation oft im Wege.

Einige Mitglieder der Blogredaktion haben sich ausgehend von der Frage der Anwendbarkeit des Begriffs der Apartheid auf die israelische Politik mit dem Nahostkonflikt beschäftigt. Wir führten Gespräche u.a. über den spezifischen israelischen Rassismus, die verschiedenen Phasen der Unterdrückung der Palästinenser:innen und die Widersprüche des Siedler-Kolonialismus. Aus unserem Austausch ist ein fiktives Zwiegespräch geworden, das auf Grund des Zuschnitts der Fragestellung vor allem die Rolle Israels in dem entstandenen Konflikt unter die Lupe nimmt. Der Text mag angesichts des Gemetzels im Nahen Osten wie eine unzeitgemäße Begriffsscholastik anmuten, doch halten wir unsere Diskussion für einen wichtigen Beitrag zur linken Debatte in Deutschland.

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Nikola: Die Verwendung des Begriffs der Apartheid führt – und ich würde sagen, das ist auch das eigentliche Ziel dabei – zu einer Gleichsetzung des israelischen Staates mit dem südafrikanischen Burenregime. Historisch verbindet man mit ihm schließlich primär Südafrika und auch etymologisch hat er seinen Ursprung im Afrikaans. Die Gleichsetzung funktioniert aber nicht; wenn man sich die Geschichte des südafrikanischen Regimes genauer anschaut und mit der Israels vergleicht, fallen zahlreiche Differenzen auf.

Doch fangen wir zunächst mit den Gemeinsamkeiten an. Die erste Phase der zionistischen Besiedelung am Ende des 19. Jahrhunderts ist der Besiedelung Südafrikas tatsächlich nicht ganz unähnlich. Die Vorfahren der südafrikanischen Buren waren ja unter anderem Hugenotten und Calvinisten, die sich, um der religiösen Verfolgung zu entgehen, im 17. und 18. Jahrhundert an der afrikanischen Südspitze ansiedelten. Andere waren einfach nur verarmte Bauern aus den Niederlanden, die sich afrikanische Arbeitskraft aneigneten. Ähnliches kann vom Zionismus in seiner bürgerlichen Phase behauptet werden, die grob auf das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts datiert werden kann. Sowohl was die koloniale Ideologie als auch was die Form der ökonomischen Ausbeutung angeht. Diese bürgerliche Phase muss als ein Versuch assimilierter europäischer Juden verstanden werden, die massenhafte Flucht proletarisierter und verfolgter Juden aus dem russischen Zarenreich nach Mittel- und Westeuropa zu drosseln. Sie fürchteten unter anderem, es könnte ihr eigener Status untergraben werden und zu antisemitischen Unruhen kommen. Um das zu vermeiden, erwarben Teile der europäischen jüdischen Bourgeoisie, allen voran Baron Rothschild, Land in Palästina. Ohne diese finanzielle Zuwendung wäre die Besiedelung Palästinas völlig undenkbar gewesen. Ganz bürgerlich sah dann auch die Ausbeutung der arabischen Arbeitskraft aus. Nach algerischem Modell, wie es sich der französische Baron wünschte, beuteten europäische Siedler auf großen Farmen arabische Bauern aus, deren Land sie zuvor erworben hatten. Um die Jahrhundertwende siedelten so etwa 5.000 Juden im Heiligen Land. Und auch die Legitimationsideologie, die sich die bürgerlichen Zionisten zurechtzimmerten, war eine klassisch kolonialistische, wie man sie im Zeitalter des Imperialismus in allen bürgerlichen Gesellschaften vertrat. Sie kommt in der bekannten zionistischen Losung „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ gut zum Ausdruck. Die Araber existierten eigentlich gar nicht als ebenbürtiges Volk oder als Nation, sie wurden nur wahrgenommen als vorzivilisatorische Menschenmasse, die dank des Zionismus nun in die Schule der europäischen Zivilisation gehen und sich assimilieren durfte. In seinem Roman Altneuland entwarf Theodor Herzl den Judenstaat als ein deutsches Utopia, das er auch dem Kaiser als Projekt des deutschen Kulturexports in den Orient schmackhaft machen wollte. Zugleich verkaufte er den Zionismus seinen bürgerlichen Geldgebern als „Bollwerk gegen die asiatische Barbarei“, wie er in Der Judenstaat schrieb. Eine ja heute noch sehr geläufige Vorstellung.

Das änderte sich jedoch mit der sozialistischen Phase des Kolonisation Palästinas, also der zweiten und dritten Auswanderungswelle ab circa 1905. In dieser Phase strömten zahlreiche Sozialistinnen und Sozialisten ins Land, die insbesondere vor der konterrevolutionären Gewalt und Repression des russischen Zaren nach 1905 flohen. Ihnen konnte es selbstverständlich nicht mehr um die bürgerlich-koloniale Ausbeutung gehen. Solch ein Spagat wäre zu schmerzhaft gewesen. Stattdessen ging es vor allem ab den 1920er Jahren um den Aufbau einer rein jüdischen Ökonomie beziehungsweise um die Schaffung eines rein jüdischen Proletariats. Arabische Arbeitskraft sollte nicht mehr ausgebeutet, sondern durch jüdische verdrängt werden. Mit der Gewerkschaft Histadrut, die 1920 gegründet wurde, schuf sich der sozialistische Zionismus dafür einen exklusiv jüdischen Apparat, der mit eigenen Industrien bald einer der größten Arbeitgeber in Palästina wurde. Und die Siedlerbewegung der Kibbuzim, die insbesondere durch die Einwanderung revolutionärer Juden zu Beginn der 1920er getragen wurde, wollte ja sogar einen exklusiv jüdischen Sozialismus in einer Siedlung errichten und auf keinen Fall arabische Arbeitskraft ausbeuten. Das wurde strikt abgelehnt. Die arabische Arbeit musste unter anderem deshalb verdrängt werden, da sie eine billige Konkurrenz für die jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter war, die man schließlich mit europäischen Standards anziehen wollte. Zu Recht wurde dieser exklusive Sozialismus durch internationalistische Sozialisten und Kommunistinnen scharf angegriffen.

Zugleich muss man natürlich auch sagen, dass der Antisemitismus eine andere Qualität und Tragweite hatte als die Verfolgung protestantischer Sekten. Der Zionismus als eigenartige religiös-nationalistische Bewegung hätte ohne die sich zuspitzende Verfolgung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wohl kaum genügend Anhänger gefunden. Erst die Verfolgung trieb und treibt die Menschen ins gelobte Land. Und genau das macht ja diese eigenartige Mischung aus, die Israel kennzeichnet.

Die ersten Generationen zionistischer Siedler sowie die israelischen Politiker der ersten Stunde waren Aschkenasim aus den besonders antisemitischen Regionen Osteuropas und Russlands – Ben Gurion, Levi Eschkol, Golda Meir, Menachem Begin, um nur einige der bekanntesten zu nennen. Der Holocaust führte dann dazu, dass sich plötzlich nicht wenige Jüdinnen und Juden in Israel wiederfanden, die eigentlich überhaupt gar keine Lust auf dieses Land und seinen Kampf hatten, die Frankfurt eigentlich viel lieber mochten als das muffige, nach Gott stinkende Jerusalem. Ab den frühen 1950er Jahren kamen dann auch noch die arabischen Juden dazu, die aus ihren Ländern vertrieben wurden, und die wiederum mit Frankfurt und Amsterdam herzlich wenig zu tun hatten, was zu erheblichen Konflikten innerhalb der israelischen Gesellschaft geführt hat. Die zionistische Elite bestand ja aus Aschkenasim, deren Ziel nie die Ansiedlung der arabischen Juden war, die sie eher als zurückgeblieben verachteten, nun aber aufnehmen mussten, da das europäische Judentum durch den Holocaust massiv dezimiert worden war.1

Doch diese Notwendigkeit, nach Israel zu ziehen, die eben dem Antisemitismus geschuldet ist, hat zu einer total heterogenen und widersprüchlichen Klassengesellschaft geführt. Der Vergleich mit dem historischen Südafrika fällt mir da schon sehr schwer.

 

Conny: Die Besiedelung Südafrikas durch die Buren kann sicherlich nicht mit der facettenreichen zionistischen Bewegung verglichen werden. Dennoch sind ja auch die Entwicklung Israels und seines Herrschaftsapparats nicht abgeschlossen. In Südafrika konnte man beobachten, wie sich die Apartheid sukzessive herausgebildet hat. Tatsächlich begann die Kolonisierung Südafrikas nicht mit dem Apartheid-Regime. Schon bevor die Buren die Trennung zwischen Weiß und Schwarz als Wahlprogramm und dann ab 1948 als Regierungsprogramm propagierten, existierten Formen der Segregation, die bereits verrechtlicht waren. Beispielsweise gab es unter der britischen Herrschaft Südafrikas den 1913 verabschiedeten Black Land Act, der Schwarzen das Eigentum an Land verweigerte, und dann 1920 den Native Affairs Act, der sie in eine Art von Reservaten verbannen sollte2. Allerdings wurde dies unter den Briten nicht streng durchgesetzt und schuf daher nicht sofort die Unterdrückung, wie wir sie aus dem späteren Südafrika kennen. Auch in Israel haben sich die juristischen und gesellschaftlichen Bedingungen für Teile der palästinensischen Bevölkerung in den letzten Dekaden stark verschlechtert.

Wenn wir von „Palästinensern“ sprechen, müssen wir zudem zwischen verschiedenen Gruppen unterscheiden. Die im israelischen Kernland unterlagen bis 1966 dem Kriegsrecht, das heißt sie waren einer restriktiven Ausgangskontrolle unterworfen, es konnte ständig zu Hausdurchsuchungen kommen und Misshandlungen waren an der Tagesordnung. Zwischen 1966 und der zweiten Intifada ab 2000 genossen sie dann quasi volle Bürgerrechte, konnten wählen und alle Berufe ausüben. Seit dem Beginn der 2000er verschlechtert sich ihre Situation allerdings im Zuge des Rechtsrucks in der israelischen Politik immer weiter. Zuerst mit der Bürgerrechtsreform von 2003 und zuletzt mit der Nationalstaatsreform von 2018, die festlegt, dass Selbstbestimmung im israelischen Staat „einzig für das jüdische Volk“ gelten soll, und die jüdische Besiedlung von Eretz Israel als „nationalen Wert“ definiert. In der Unabhängigkeitserklärung von 1948 wurde das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung zumindest noch potentiell anerkannt.3 Manche Soziologinnen meinen, Israel habe sich dadurch in seinem Kernland von einer ethnischen Demokratie in eine Ethnokratie verwandelt.4 Dem würde ich zustimmen, aber von Apartheid ist das noch weit weg. Es besteht allerdings eindeutig eine Tendenz zu verschärfter Unterdrückung und Segregation, und die Zukunft sieht momentan auch nicht gerade rosig aus.

In Ostjerusalem und im Westjordanland sieht die Sache allerdings anders aus. Dort ist die ansässige Bevölkerung seit Jahrzehnten einem Regime unterworfen, über das sie keinerlei demokratische Kontrolle besitzt. Jüdische Siedlerinnen und Siedler im Westjordanland werden militärisch und infrastrukturell von ihr abgeschirmt und dürfen sich in ihrem Rassismus mehr oder weniger frei austoben. Die palästinensische Bevölkerung wird schleichend verdrängt und von Soldaten – meist ohne strafrechtliche Konsequenzen – gedemütigt und oft auch ermordet, wenn sie sich wehrt. Das ID-Card-System beschränkt ihre Bewegungsfreiheit massiv und erinnert markant an koloniale Passsysteme. Aufgrund verschiedener Elemente – räumliche Segregation, kodifizierte Entrechtung der einen Bevölkerungsgruppe und Privilegierung der anderen, Einschränkung der Bewegungsfreiheit im eigenen Territorium – würde ich sagen, dass man hier mittlerweile von einer Art Apartheid sprechen kann. Ziel dieser Apartheid ist allerdings nicht primär die Ausbeutung von Arbeitskraft, sondern die schleichende Aneignung von Territorium, während die kolonisierte Bevölkerung durch ein ausgeprägtes Überwachungs- und Unterdrückungssystem in Schach gehalten wird. Diese Unterscheidung des Territoriums wird jedoch zum Beispiel von der israelischen Gruppe b’tselem kritisiert. Sie sagt, und das trifft etwas, man könne Israel nicht in ein gutes demokratisches Kernland und Ränder der Segregation und Apartheid aufteilen, sondern nur als ein Ganzes mit seinem spezifischen System aus Hoheitsgebiet, politischen Institutionen, Polizei, Militär etc. verstehen.5

 

Nikola: Das ist in der Tat ein recht überzeugendes Argument, wie ich finde. Israel wird ja gerne als einzige Demokratie im Nahen Osten bezeichnet, was natürlich lächerlich ist in Anbetracht der ungleichen Situation der Palästinenser. Ich würde dennoch gerne auf eine weitere Schwäche des Begriffs der Apartheid hinweisen, so wie er nicht selten verwendet wird. Oft wird Israel in dem Zusammenhang als ein Staat der weißen Suprematie bezeichnet. Schaut man sich die Spaltungslinien innerhalb der Gesellschaft jedoch genauer an, dann fällt auf, dass das mit klassisch weißer Herrschaft herzlich wenig zu tun hat.

Der zentrale Bezugspunkt für den israelischen Staat ist ja nicht das „Weißsein“, sondern das Jüdische. Innerhalb der jüdischen Bevölkerung als der dominierenden Gruppe stehen westeuropäische Aschkenasim an der Spitze, während Sepharden und Mizrachim etwas darunter angesiedelt sind. Eine neue Dynamik entstand mit der Masseneinwanderung der arabischen Mizrachim nach der Staatsgründung und der „jüdischen Nakba“, also der Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus den arabischen Ländern. Die Mizrachim galten aufgrund ihrer größtenteils arabischen Herkunft als weniger zivilisiert und weniger jüdisch als die europäischen Juden. Unter anderem aufgrund ihrer Diskriminierungserfahrungen in islamischen Ländern brachten sie allerdings einen wesentlich ausgeprägteren anti-muslimischen Rassismus mit. Sie bilden die maßgebliche Wählerschaft des Likud und noch weiter rechts stehender Parteien, und die Rechten mobilisieren nach wie vor gegen eine aschkenasische Elite, die aus ihrer Sicht etwa den obersten Gerichtshof unter ihrer Kontrolle hat, was auch im Zuge der umstrittenen Justizreform immer wieder propagandistisch ausgeschlachtet wurde. Die Träger des schlimmsten anti-palästinensischen Rassismus und der brutalsten großisraelischen Expansionspläne sind also vor allem diese „braunen Juden“ aus dem Nahen und Mittleren Osten, und nicht „Weiße“ aus Europa. Israel als weiße Suprematie zu bezeichnen, wie das gerne gemacht wird, ist daher völlig irreführend6.

Die jüdische Suprematie funktioniert anders. Sie basiert auf einem ethno-religiösen Rassismus7 und nicht auf einem Rassenrassismus. Es gibt in Israel tausende äthiopische Jüdinnen und Juden, die sich an der Diskriminierung von teilweise phänotypisch völlig „weißen“ Palästinensern beteiligen. Da es auch arabische Juden gibt, wird vor allem auf den muslimischen Charakter der palästinensischen Bevölkerung abgehoben. Daher werden auch christliche Araberinnen und Araber, die zwar auch immer wieder Diskriminierungen ausgesetzt sind, als weniger minderwertig betrachtet als muslimische. Innerhalb Israels ist es in der Auseinandersetzung zwischen Mizrachim und Aschkenasim auch zu einer Frage geworden, wie stark Jüdischsein an das Aschkenasische gebunden ist, und angesichts der demographischen Entwicklung steht zu erwarten, dass die Dominanz der Aschkenasim bald gebrochen sein wird. Mizrachim bekommen drei Mal so viele Kinder wie Aschkenasim, nur ultraorthodoxe Familien übertreffen das noch. Für die politischen Verhältnisse in Israel ist das eine Katastrophe. Die fundamentalistischen, rassistischsten und nationalistischsten Gruppen werden immer größer, während die traditionelle Basis der israelischen Linken schrumpft.8

Eine klassische, dem südafrikanischen Modell gleichende Apartheid existiert in Israel daher nicht. Möglicherweise kann man die Ungleichbehandlung von Staatsbürgern aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit und die massive Diskriminierung von Menschen ohne nennenswerte bürgerliche Rechte als eine religiöse Form der Proto-Apartheid bezeichnen. Aber eine totalere Unterdrückung kann sich, wie du weiter oben ja richtigerweise festgestellt hast, auch erst noch entwickeln.

 

Conny: Interessanterweise hast du eben die zionistische Linke von der Rechten recht scharf getrennt, obwohl du eingangs ganz zu recht auf den siedlerkolonialistischen und exklusiven Charakter des Linksszionismus hingewiesen hast. Ich würde sagen, dass der Rechtsruck und der Niedergang der israelischen Linken keinen katastrophalen Bruch, sondern vielmehr ein Kontinuum darstellen, und dass die Rechte immerhin klar sagt, was sie macht. Es war ja zum Beispiel eine Regierung der sozialdemokratischen Mapai, die die palästinensische Bevölkerung dem Kriegsrecht unterstellt hat.

Der Linkszionismus, das muss man leider sagen, ist eine großangelegte Heuchelei und ein Verrat am sozialistischen Universalismus und Internationalismus. Er war zum einen, in seiner Frühphase, eine rein aschkenasische Bewegung; zum Beispiel durften jemenitische Arbeiterinnen und Arbeiter bis 1948 nicht Mitglied der Histadrut werden. Obwohl sie Juden waren! Arabische Proletarier nahm man natürlich ohnehin nicht auf. Zum anderen verbirgt er seinen chauvinistisch-kolonialen Charakter im Grunde bis heute hinter sozialistischen Floskeln. Du hast ja anfangs schon ganz richtig angesprochen, dass sich ab den 1920er Jahren eine sozialistische Besiedelung beziehungsweise Kolonisierung vollzog, die historisch wohl einmalig ist. Um jüdische Besiedelung und Sozialismus unter einen Hut zu bekommen, musste der sozialistische Zionismus einiges an intellektuellen Verrenkungen begehen. Darin sind Sozialisten aber ja geübt. Ber Borochow, einer der Mitbegründer der zionistischen Sozialdemokratie und ihr großer Theoretiker, schrieb über die Bewohner Palästinas ganz ähnlich wie der bürgerliche Zionismus, sie hätten keine eigenständige Nationalkultur oder Ökonomie, seien fragmentiert und ethnisch heterogen – eben kein Volk im eigentlichen Sinne. Diese Hinterwäldler sollte nun der zionistische Sozialismus befreien. Hier wendet Borochow dann die „eisernen Gesetze“ der Zweiten Internationale an: Der Zionismus werde zunächst eine Nation mit einem Proletariat schaffen, die dann in den Sozialismus übergeht. Borochow schreibt: „Es werden die jüdischen Einwanderer sein, die die Entwicklung der Produktivkräfte in Israel vorantreiben werden und die lokale Bevölkerung von Eretz Israel wird sich bald ökonomisch und kulturell assimilieren.“ Folgerichtig hieß es dann im Programm der Sozialdemokraten von 1906: „Die Geschichte ist eine Geschichte von nationalen und Klassenkämpfen.“ Da der nationale Kampf jedoch immer Vorrang vor dem Klassenkampf hatte, musste man das arabische Proletariat erstens aus der sogenannten „hebräischen Arbeit“ und zweitens aus den Klassenkämpfen ausschließen. So führte die Histadrut zum Beispiel Kampagnen durch, um die Briten dazu zu bewegen, vor allem jüdische Proletarier zu beschäftigen, und jüdische Zitrusfarmer dazu, Araber zu entlassen und stattdessen Juden anzustellen, was natürlich auch zu massiven Spannungen innerhalb des Jischuw führte. Gleichzeitig kam es in den 1920er Jahren unter anderem bei der Eisenbahn zu gemeinsamen Streiks von Juden und Arabern. An der Basis wurde die nationale Borniertheit oft überwunden und die Forderunglaut, dass sich die Gewerkschaft auch für die arabische Bevölkerung öffnen müsse. Eine Forderung, der der sozialdemokratische Zionismus und seine Gewerkschaft jedoch nie wirklich nachkamen.9

Stattdessen ging man vor allem ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre eine Ehe mit der eigenen Bourgeoisie ein, die man nach wie vor brauchte, um die Produktivkräfte zu entwickeln. Die Geldgeber standen dem sozialistischen Projekt zwar skeptisch gegenüber, sahen aber auch, dass die hochmotivierten Sozialistinnen und Sozialisten am effektivsten waren, wenn es darum ging, Land zu erschließen. So besiedelte zum Beispiel die Kibbuzim-Bewegung als erste die Negev-Wüste und Galiläa, was nur möglich war, da sie eben nicht dem Profitinteresse folgte. Zweitens war die Arbeiterbewegung offenbar in der Lage, neue Einwanderer ins Gelobte Land zu bringen. Der israelische Soziologe Michael Shalev spricht in diesem Zusammenhang von einer „praktischen Allianz zwischen einer Siedler-Bewegung ohne Siedler und einer Arbeiterbewegung ohne Arbeit“.10 Es waren genau solche Sozialisten, die 1948 an der Nakba beteiligt waren und 1967 begeistert an der Klagemauer standen, nachdem sie Ostjerusalem eingenommen hatten. Während ihr Anführer David Ben Gurion in den 1920er Jahren noch davon sprach, dass der jüdische Arbeiter den arabischen dazu „erzieht, ein ordentliches und kooperatives Leben der Arbeit, Disziplin und gegenseitiger Verantwortung zu führen“11, verbargen seine Parteigenossen auf einer Sitzung im Jahr 1949 ihre Verachtung der angestammten Bevölkerung nicht mehr hinter sozialistischer Floskelei. Ein sozialistischer Abgeordneter freute sich über die Vertreibung: „Ich genieße es, besonders wenn ich zwischen Haifa und Tel Aviv unterwegs bin und keinen einzigen Araber zu Gesicht bekomme.“ Und ein anderer sorgte sich um die verbliebenen Araber: „Wenn es eine Möglichkeit gäbe, das Problem durch einen Transfer der verbliebenen 170.000 Araber zu lösen, würden wir dies tun…“.12 Wenn der ehemalige rechte israelische Ministerpräsident Naftali Bennett nun sagt: „Ich habe in meinem Leben viele Araber getötet, und daran gibt es nichts auszusetzen“13, dann ist das fraglos eine neue Qualität sprachlicher Gewalt. Doch zugleich, könnte man sagen, spricht er in seiner rechtsradikalen Schamlosigkeit eben die Gewalt aus, die mit der Besiedelung und Vertreibung einhergeht.

Der sozialistische Zionismus hatte, wie fast alle Parteien der Zweiten Internationale, von „seiner“ Bourgeoisie die Aufgabe erhalten, die eigene Arbeiterklasse zu organisieren und disziplinieren und gegen die revolutionären Teile der Bewegung vorzugehen. Zugleich musste er diese bürgerlich-jüdische Nation erst noch erkämpfen. Daher kam es zu diesem bizarren exklusiven Sozialismus in einer Wüstensiedlung.

Dass der Sozialismus seine eigenen Feinde gebiert, ist natürlich nichts Neues und kein Privileg des Zionismus.

 

Nikola: Dieser Partikularismus, der leider auch die zionistischen Sozialistinnen und Sozialisten erfasste, muss aber auch als das Ergebnis eines großen Versagens der Arbeiterbewegung betrachtet werden. Sie vermochte es nicht, das jüdische Proletariat zu integrieren. Das lag einerseits an dessen besonderer Klassenlage. Juden waren oft in einem unter dem fortschreitenden Kapitalismus leidenden Handwerk tätig oder aber arbeitslos. Viele verließen deshalb ihre Heimatstädte. Auf diese besondere Form jüdischer Proletarisierung reagierte die Arbeiterbewegung kaum adäquat. Sie zielte schließlich primär auf die Organisation der Industriebeschäftigten ab. Entsprechend gab es seitens der Parteien der Zweiten Internationale auch kaum Proteste gegen den Ausschluss von Jüdinnen und Juden durch die polnische Partei. Und die österreichischen Sozialisten hatten leider auch wenig Probleme mit dem Antisemitismus der Massen. Hätten die sozialistischen Parteien wirklich gegen den Antisemitismus gekämpft und es geschafft, die jüdischen Proletarier massenweise zu integrieren, dann wäre es wahrscheinlich nicht zum zionistischen Verrat am Internationalismus und zum „Sozialismus in einer Siedlerkolonie“ im Heiligen Land gekommen.

 

Conny: Da ist sicherlich was dran, aber so unverrückbar und vorherbestimmt war die Situation ja doch nicht. Ich denke, dass das Projekt der Besiedlung Israels kontroverser verhandelt worden ist als die Besiedlung des Horns von Afrika im 17. Jahrhundert. Große Teile des jüdischen Sozialismus kritisierten die Unterwerfung unter das zionistische Projekt scharf und blieben einem Internationalismus treu. Zum einen kritisierten Gruppierungen wie der jüdisch-sozialistische Bund, dass man die Proletarier zur Flucht statt zum Kampf motiviert. Und zum anderen wurde unter anderem von der Kommunistischen Partei Palästinas der Nationalismus der Linkszionisten vehement angegriffen. Ich zitiere hier mal die PKP, die kurz zuvor wegen „subversiver Aktivitäten“ aus der Histadrut ausgeschlossen wurde. In einer 1923 verabschiedeten Resolution hieß es: „Der Zionismus ist die Bewegung der jüdischen Bourgeoisie, die für sich selbst Märkte schaffen will und zu diesem Zweck romantische nationalistische Vorstellungen ausnutzt. Der Zionismus hat sein Schicksal an den britischen Imperialismus geknüpft, und jedes Projekt der zionistischen Kolonisierung basiert wirtschaftlich auf Ausbeutung. Alle Aktivitäten der zionistischen Institutionen bereiten den Boden für die kapitalistische Kolonisierung auf Kosten der ausgebeuteten Massen. Alle Parteien, die von sozialistischer Kolonisierung sprechen, erleichtern den bürgerlichen Zionisten die Verwirklichung ihrer Ziele.“14 Die, fraglos bald autoritär- stalinistische, PKP zielte deshalb immer darauf ab, arabische wie jüdische Menschen zu organisieren und gemeinsame Kämpfe zu führen.15
 

Nikola: Nun wird jedoch von zionistischer und antideutscher Seite immer gerne behauptet, dass der Zionismus im Grunde gar nicht kolonial, sondern antikolonial sei, da er sich auch gegen die britische Mandatsmacht durchsetzen musste. Und zugleich sei auch die militärische Aufrüstung und Repression vonnöten, um sich gegen den arabischen Antisemitismus zur Wehr zu setzen. Was sagst du dazu?

 

Conny: Das mit den Briten ist meines Wissens Unfug. Sie hielten ja weitestgehend ihr Versprechen von 1917, eine „nationale Heimstätte“ für das jüdische Volk in Palästina zu schaffen. Sie öffneten das Land für die massive Einwanderung von Jüdinnen und Juden, bis 1948 nahm der jüdische Bevölkerungsanteil um mehr als das Zehnfache zu. Ihm wurde es unter den Briten gestattet, Land zu erwerben, Landwirtschaft zu betreiben, Industrien zu errichten und Banken zu gründen. Die zionistische Bewegung gründete Schulen, eine Armee und besaß gewählte Institutionen.16 Das waren die Voraussetzungen für den Sieg über die Araber, die nichts Vergleichbares besaßen. Der große arabische Aufstand der 1930er Jahre legt ja u.a. davon Zeugnis ab. Er protestierte gegen die Bevorzugung der jüdischen Einwanderer durch die Briten. Klar reagierten die dann auch auf die arabischen Unruhen und schlugen mit dem Vorschlag der Peel-Kommission eine Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat vor, der jedoch nach wie vor den Transfer von rund 230.000 Arabern vorsah.

Antisemiten im klassischen Sinne waren verrückterweise die Briten. Sie gingen ja wirklich in klassisch antisemitischer Manier davon aus, dass das Judentum eine weltumspannende Macht sei. Und diese Macht wollten sie auf der Seite des Empire haben17. Chaim Weizmann, eine der großen Führungsfiguren des Zionismus, nutzte dies oft aus und konstruierte den Briten gegenüber eine jüdische Weltmacht, um in Verhandlungen zu reüssieren.

Natürlich gab und gibt es Antisemitismus auch auf Seiten der arabischen Bevölkerung. Das steht außer Frage. Man denke nur an den Mufti von Jerusalem in den 1930er Jahren, der damals die durch die Briten eingesetzte höchste politische und religiöse Autorität der Palästinenser war. Er war Mitglied der Waffen-SS und versuchte, den Holocaust voranzutreiben. Unter Nasser fanden in Ägypten Die Protokolle der Weißen von Zion massive Verbreitung und er sprach ständig von der Vernichtung Israels. Und in der Grundsatzerklärung der Hamas von 1988 wird von einem Endkampf zwischen Muslimen und Juden schwadroniert.

Doch mit dem ewigen Antisemitismus ist es nicht so einfach, wie von Prozionisten und Antideutschen immer behauptet wird. Es gab ja früher Friedensangebote von Syrien und Ägypten18, die beide von Israel abgelehnt wurden. Die arabischen Länder verfolgten auch nicht als geschlossener Block ein rein antisemitisches Vernichtungsinteresse, das ist doch Propaganda. Die arabischen Nationen hatten jeweils auch ganz eigene Interessen. Schauen wir uns zum Beispiel Jordanien an. Es gab noch im Jahr 1948 Kooperation und zahlreiche geplante Projekte zwischen Israel und dem jordanischen Königreich. Israel wollte Teile des Jordan pachten und Jordanien wollte sich israelischen Investitionen öffnen. Dann jedoch eroberte Israel im Unabhängigkeitskrieg massiv Gebiete und es kam zu Massakern wie im Dorf Deir Yasin. Daraufhin brach Jordanien den Kontakt ab. Schuld an dem Konflikt sind also nicht nur die bösen Araber, die den Judenhass schon immer in sich tragen.19

 

Nikola: Da stimme ich dir zu. Schon die zionistischen Sozialisten fürchteten sich in den 1920er Jahren vor dem Antisemitismus der arabischen Bevölkerung. Sie waren offenbar überrascht, dass diese eigenartigen Orientalen ein Nationalgefühl ausbilden konnten, das sich gegen das zionistische Projekt zur Wehr setzte. Das konnten sie sich offenbar nur mit dem Antisemitismus erklären. In den 1920er Jahren kam es zu Unruhen in Jaffa, Jerusalem oder in Hebron. Die waren sicherlich auch antisemitisch motiviert. Primär ging es aber doch um eine Auseinandersetzung zweier Nationalbewegungen beziehungsweise von arabischer Seite gegen das Projekt des Zionismus, das unter britischer Schirmherrschaft die Besiedelung Palästinas zulasten der arabischen Bevölkerung vorantrieb. Wer das alles nur als antisemitisch begreift, der erfasst den Widerstand gegen die zionistische Landnahme überhaupt nicht. Der tut so, als würden die Israelis noch in einem russischen Schtetl wohnen. In Anbetracht der Vertreibung von knapp 700.000 Menschen und zahlreicher Massaker während der Nakba20 war dieses Misstrauen ja durchaus gerechtfertigt. Der Kampf gegen den ihn umgebenden Antisemitismus und der Verweis auf den Holocaust dienen dem Zionismus, vor allem seit den 1960er Jahren, ja als universelle Rechtfertigungsideologie seiner expansiven Gewalt.21 In Deutschland wird daraus ebenfalls eine ganz paradoxe Form der Vergangenheitsbewältigung. Um eine Wiederkehr der Vergangenheit zu verhindern, bombardiert man entweder Serbien, rüstet massiv auf oder geht Allianzen mit ultrareaktionären Kräften ein. Das waren zuletzt die ukrainischen Verteidigungskräfte und ist gegenwärtig eben die israelische Regierung22.

 

Conny: Um nochmal auf die Apartheid und die Frage zurückzukommen, inwieweit Südafrika und Israel vergleichbar sind: Ganz allgemein unterscheiden sich Siedler dadurch von Migranten, dass sie nicht nur an einen anderen Ort ziehen, sondern dabei Land erobern und sozusagen ihre eigene politische Ordnung mitbringen oder etablieren.23 Siedler-Kolonialismus, wie er eben auch in Israel gegeben ist, zielt auf die Aneignung von Land ab, während beim „klassischen“ Kolonialismus die Ausbeutung von Arbeitskraft dominiert. Die ansässige Bevölkerung muss in irgendeiner Weise verschwinden, sei es nun durch physische Elimination, kulturelle Assimilation oder ähnliches. Die koloniale Ausbeutung von Arbeitskraft geschieht selbstverständlich auch hier, ist aber akzidentell.24 Manchmal ist sie ja sogar sehr umstritten, wie man am Beispiel des Linkszionismus sieht. Die beinahe vollständige Eliminierung der indigenen Bevölkerung in Nordamerika zeigt recht deutlich, welches verheerende Ausmaß der Siedlerkolonialismus haben kann.

Im Gaza-Streifen leben seit 1948 vor allem Geflüchtete aus der Zeit der Nakba und ihre Nachfahren. Aus geostrategischen Gründen und schlichtem Größenwahn besetzte Israel im Siegesrausch des Sechs-Tages-Kriegs das vormals ägyptische Gebiet. Mit der ersten Intifada von 1987 und dem immer deutlicheren Siegeszug des Islamismus in Gaza endete die israelische Illusion einer „aufgeklärten Besatzung“. Weder verschwanden die Menschen aus Gaza noch assimilierten sie sich. Im Gegenteil: Sie wurden immer mehr und immer feindseliger. Das stellt natürlich ein massives und kaum lösbares Problem für den Siedler-Staat dar. Für die Ökonomie haben die Menschen dort nur eine untergeordnete Bedeutung; inzwischen stehen sie dem israelischen Kapital ja auch nicht mehr zur Verfügung, da sie als potentielle Bedrohung vom Kernland ferngehalten werden, und bilden so ein Surplusproletariat – überschüssige Arbeitskraft, die nur von internationaler Hilfe am Leben gehalten wird.

Die Abriegelung von Gaza ist zugleich für den Staat ein unglaublich teures Unternehmen. Aufgrund seiner ökonomischen Bedeutungslosigkeit kann man Gaza momentan einfach platt machen, die Menschen dort massenhaft umbringen und die Infrastruktur zerstören. Gäbe es dort eine Produktion oder Arbeitskräfte, die für die israelische Ökonomie wichtig sind, wäre das ja völlig unvorstellbar. Was dort gerade zerstört wird, ist lediglich ein sehr überschaubarer Markt für israelische Billigprodukte.

 

Nikola: Die von dir gerade beschriebene Situation im Gaza-Streifen bestätigt im Grunde meine eingangs formulierten Zweifel daran, dass das israelische Unterdrückungsprogramm, historisch wie gegenwärtig, mit der südafrikanischen Apartheid gleichzusetzen ist. Auch die Situation in Gaza widerspricht völlig dem Bild einer weißen Kolonie, die auf die Ausbeutung schwarzer Arbeitskraft abzielt. In Gaza bombardieren und töten weiße, schwarze und braune Israelis Palästinenserinnen und Palästinenser, die keinerlei ökonomische Bedeutung mehr für das israelische Kernland besitzen. Das ist ja eine völlig andere Art von Tragödie.

 

Conny: Ich gebe dir recht, dass der Begriff der Apartheid die besondere Dynamik der israelischen Gesellschaft inklusive ihres staatlichen Unterdrückungsapparats nicht erfasst. Meistens wird er ja verwendet, um eine genauere Diskussion zu unterbinden und sofort klarzustellen, welche Seite in dem Konflikt schuldig gesprochen werden muss. Durch solche plumpen Parallelen zum klassisch rassistischen Kolonialstaat Südafrika können wir die unterschiedlichen Gruppen in Israel, ihre Historie, ihre Rolle in der heutigen Gesellschaft, das Vorgehen des bürgerlichen Staates Israel oder die Situation im Westjordanland und Gaza aber nicht begreifen. Gleichzeitig gibt es selbstverständlich bestimmte Parallelen: das ausgefeilte System der kolonialen Unterdrückung und Entrechtung, die Ideologie einer abzuwehrenden asiatischen Barbarei oder bestimmte Strukturen des Rassismus, die zugleich auch innerhalb der israelischen Gesellschaft zur Geltung kommen.

Ich denke, wir müssen die spezifische Systematik der Gewalt und die materiellen Interessen, die hinter dieser Gewalt stehen, analysieren und vor allem für eine Verständigung zwischen den Proletarisieren eintreten, die in diesem Krieg zweier Nationalismen nur zerrieben werden können. Auch wenn eine solche internationale Verständigung angesichts dieses endlosen blutigen Konfliktes wie ein Wunschtraum erscheinen mag, führt kein Weg an ihr vorbei.