„Diese neue junge Generation hat eine Menge Wut in sich“
Im Herbst 2020 legte die Bewegung gegen das geplante Abtreibungsverbot Polen regelrecht lahm. Es kam nicht nur in den Städten, sondern auch in ländlichen Regionen zu großen Protesten wie auch in Teilen zu solidarischen Blockadeaktionen von Bauern und Bäuerinnen. Das katholische Polen war scheinbar plötzlich zum Schauplatz einer breiten feministischen Mobilisierung geworden. Die Proteste schlossen jedoch an vergangene Proteste an. Bereits im Jahr 2016 brachten christliche Fundis eine Gesetzesentwurf im Parlament ein, der auf ein absolutes Abtreibungsverbot abzielte. Gegen diese Gesetzesinitiative, die durch die erste Lesung des polnischen Parlaments (Sejm) ging, regte sich jedoch schnell erheblicher Widerstand. Es entstand das Netzwerk Strajk Kobiet (Frauenstreik), es gab zahlreiche dezentrale Aktionen und europaweit wurde zur Solidarität mit den Kämpfen in Polen aufgerufen. Das Gesetz wurde schlussendlich zurückgezogen, womit dem Protest eine Art Zwischensieg gelang. Mit der Gesetzesinitiative vom Herbst 2020 und den Protesten dagegen ging der Konflikt in die zweite Runde. Die Gesetzesinitiative der Fundis wandte sich nun nicht mehr ans Parlament, sondern im Zusammenschluss mit Parlamentarier:innen direkt an das oberste Verfassungsgericht in Polen. Dieses gab der Initiative Recht und urteilte, dass das Abtreibungsrecht umfassend eingeschränkt werden müsse. Damit wurden die demokratischen Institutionen umgangen und das Verfassungsgericht wirkte direkt politisch. Doch wie der reaktionäre Block zu härteren Bandagen griff, so auch die Bewegung gegen das Abtreibungsverbot. Die feministischen Proteste weiteten sich aus, gingen über die Mobilisierungen von 2016 hinaus, und plötzlich blockierten des Feminismus eigentlich unverdächtige Fahrzeuge wie Traktoren polnische Landstraßen in Solidarität mit der Bewegung gegen das Abtreibungsverbot.
Wir haben mit Pawel und Magda über die Bewegung gegen das Abtreibungsverbot, die Geschichte des polnischen Kapitalismus und Katholizismus, den liberalen Feminismus sowie die Probleme einer Linken in einem postsozialistischen Land gesprochen. Pawel und Magda arbeiten und leben in Leipzig und sind seit Jahren aktivistisch wie akademisch mit der polnischen Gesellschaft verbunden.
Das Interview führten Charlotte Mohs und Thomas Ernest von der translib aus Leipzig.
: Für uns kamen die feministischen Proteste in Polen zumindest in der ersten Welle von 2016 recht überraschend. Wir waren beeindruckt von der Größe und Vehemenz. Man kannte solche Proteste eher aus Lateinamerika und dann waren sie plötzlich ganz nah. War die Bewegung für euch ebenso überraschend oder hatte da schon länger was geschwelt?
Pawel: Also am Anfang möchte ich sagen, dass ich ein Mann bin und dass ich versuche, mich bei meinen Ausführungen viel auf meine feministischen Freundinnen und Genossinnen aus Polen zu beziehen. Das finde ich sehr wichtig. Eigentlich war es nicht so überraschend. In den 90er Jahren kam es schon mal zu großen Protesten, als Abtreibung nach dem Ende des Sozialismus verboten wurde. Diese Proteste geraten heute manchmal in Vergessenheit. Ich sehe eigentlich mehrere Phasen der feministischen Bewegung in Polen nach der politischen Wende. Dieser Protest Anfang der 90er Jahre war die erste Phase. Nach dem Ende des Realsozialismus konnte die Kirche viel Macht zurückerobern, weil viele Gegner:innen des sozialistischen Systems während des Realsozialismus eng mit der Kirche zusammengearbeitet hatten. Dafür mussten sie sich nun revanchieren. Dadurch hat die Kirche zum einen viel Legitimität und zum anderen viele materielle Ressourcen bekommen. Es kam zu einer Art Deal zwischen der stark neoliberalen Regierung und der Kirche nach dem Motto: „Ihr habt uns geholfen, also helfen wir euch jetzt und verbieten Abtreibung.“ Die Antwort darauf war diese erste Welle des Protests, in der auch schon etliche Magazine, Gruppen etc. entstanden.
Dann in den 2000er Jahren wurden viele Initiativen gestartet, eine der wichtigsten ist die Porozumienie Kobiet 8 Marca (Frauenvereinbarung 8. März). Diese Gruppe initiierte die größte jährliche feministische Demonstration in Polen – die Manifa, die bis heute eine der größten und wichtigsten feministischen Veranstaltungen des Landes ist.
Die nächste Welle kam dann 2016, der sogenannte schwarze Protest und die letzte dann 2020. Der Treiber für die Bewegung letztes Jahr waren neben der Entscheidung des Verfassungsgerichts über das Abtreibungsverbot nur drei Monate davor organisierte antifaschistische und queere Proteste gegen die Verhaftung und Kriminalisierung von Aktivistinnen, die Regenbogenfahnen auf Warschauer Denkmälern aufgehängt hatten. Dabei wurden 50 Menschen festgenommen und es gab ein hohes Level an Polizeigewalt. Viele Leute sagen, dass diese Erfahrungen den Protest gegen das Abtreibungsverbot mitgeprägt haben. Der Protest von 2020 war in vielerlei Hinsicht anders als der von 2016. Neu war zum Beispiel, dass in der Bewegung viel mehr junge Leute teilnahmen – junge, noch nicht politisierte Leute, 16, 17, 18 Jahre alt, die nicht mit einer politischen Gruppen oder irgendeiner politischen Partei verbunden waren.
Magda: Zum Stichwort Neoliberalismus möchte ich noch ergänzen, dass es in den 1990er Jahren in Polen eine große wirtschaftliche und soziale Umwälzung gab. Es wurde quasi eine „Schocktherapie“ durchgeführt, die mit einer krassen Kürzung der Sozialleistungen usw. einherging. Das hat unter anderem dazu geführt, dass Leute seitdem vielmehr auf familiäre Strukturen angewiesen sind. Und was hier auch wichtig ist: Als 1993 das Abtreibungsrecht verschärft wurde, haben auch liberale und einige linke Politiker:innen dem zugestimmt.
Das heißt, es war auch damals schon kaum möglich abzutreiben?
Magda: Im Vergleich zu heute war der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen relativ einfach. 1 Auch wenn es de facto verboten war, gab es Zeitungsanzeigen, aus denen hervorging, welche Ärzt:innen welche privaten Leistungen anboten, wozu meist auch Abtreibungen gehörten. Und da Abtreibungen vorher in der Volksrepublik Polen akzeptiert waren, gab es auch in den 1990er Jahren noch genug Ärzt:innen, die Abtreibungen durchführten und auch wussten, wie es geht. In den drei Jahrzehnten danach ist dieses Wissen und auch die Bereitschaft, Abtreibungen durchzuführen, jedoch stetig gesunken und der Zugang zu Abtreibungen hat sich rapide verschlechtert. Es gibt zwar immer noch die Möglichkeit, ins europäische Ausland zu fahren, aber innerhalb Polens ist es nicht mehr so zugänglich wie Anfang der 1990er Jahre.
Pawel: Um das Abtreibungsverbot zu umgehen, haben viele Ärzt:innen damals Anzeigen veröffentlicht, in denen die Leistung für eine Abtreibung oft umschrieben wurde mit „Ich will meine Tage wieder“ oder ähnlichem. Die Bedingungen, unter denen diese Abtreibungen durchgeführt wurden, waren allerdings aus humanitärer und medizinischer Sicht ein Albtraum.2 Heute gibt es das zwar nicht mehr so, dafür gibt es aber seit Dezember 2017 eine aktivistische Struktur und Kollektive wie Aborcyjny Dream Team (Abortion Dream Team) oder Aborcja Bez Granic (Abtreibung Ohne Grenzen), die das Wissen um eine medikamentöse Abtreibung verbreiten und Unterstützung anbieten. Die Kollektive organisieren medikamentöse Abtreibung, Selbsthilfe und Solidarität unter den Frauen und möchten die Enttabuisierung von Abtreibungen vorantreiben. Dadurch hat sich das Wissen darüber, wie man mit Hilfe von Pillen abtreiben kann, sehr verbreitet. Um diese Möglichkeiten bekannter zu machen, hat man zum Beispiel bei Protesten die Telefonnummern für Unterstützungsstrukturen an die Wände von öffentlichen Gebäuden geschrieben – bevorzugt Kirchen und Ministerien. Wenn Frauen oder schwangere Personen dort anrufen, erhalten sie Informationen zum medikamentösen Schwangerschaftsabbruch, oder wenn dies bereits zu spät ist, erfahren sie, wie man eine Abtreibung im Ausland machen kann. Das ist dann natürlich auch wieder eine Klassenfrage. Reiche Leute können es sich eher leisten, nach England oder in die Slowakei zu fahren. Die Slowakei bietet sich aufgrund der ähnlichen Sprache an und die private Infrastruktur ist dort sehr gut entwickelt. Da kommt z. B. ein kleiner Bus zur Grenze und holt die Person ab. Die ärmeren Personen sind dagegen auf die aktivistischen dezentralen Strukturen in Polen selbst angewiesen, die sich seit 2020 sehr stark verbreitet haben.
Kommen wir nochmal auf die Proteste von 2016 und vom letzten Jahr zurück. Von wem und wie wurden denn diese Proteste organisiert und wie funktioniert die Struktur des Strajk Kobiet?
Magda: Der Protest war von Anfang an sehr dezentral. Es gab viele Politiker:innen, teilweise auch aus dem Sejm – dem polnischen Parlament –, die die Proteste unterstützten, wie zum Beispiel Barbara Nowacka. Daneben gab es andere Aktivist:innen wie Marta Lempart, die hervorgetreten sind. Sie ist auch eine der Initiator:innen des Netzwerks Strajk Kobiet (Frauenstreik). Dieser Strajk Kobiet ist nach lokalen Gruppen organisiert. Man kann das mit Fridays for Future vergleichen. Es gibt ein Logo und jeder kann sich diesem Logo anschließen, wie wir uns jetzt auch FFF Connewitz nennen und bei der Bewegung mitmachen könnten. So ähnlich läuft es auch mit dem Strajk Kobiet. Diese Gruppen gibt es auch in sehr kleinen Städten.
Pawel, du hattest erwähnt, dass sich der Protest vom letzten Jahr gegenüber 2016 nochmal stark verändert hat, dass z. B. die Protestierenden deutlich jünger wären. Wie ist denn überhaupt die Klassenzusammensetzung in den Protesten? Beteiligen sich da vor allem Leute aus der Mittelschicht und was bedeutet das für die Dynamik der Bewegung?
Pawel: Was auf mich den größten Eindruck gemacht hat, wenn es um die Klassenfrage geht, sind zwei Sachen. Erstens war der Protest von 2020 sehr stark in der Provinz angesiedelt. Es protestierten da viele junge Frauen aus der Arbeiter:innenklasse. Dazu gibt es ein sehr legendäres kurzes Video aus einer kleinen Stadt, Szczecinek. In dem Video ist eine junge Frau zu sehen, vielleicht 15 oder 16 Jahre alt und eher aus der Arbeiter:innenklasse kommend, die einen Priester beschimpft. Das Video wurde zu einer Art Skandal. Und von dieser Art gab es mehrere. Selbst prominente Politiker:innen sind in die Kirche gegangen und haben dort protestiert und waren den Repressionen der Polizei ausgesetzt. Aber vor allem haben junge Menschen vom Land ihre Wut geäußert und das hat viele Leute sehr ermutigt und mitgerissen. Vor zehn Jahren hätte es eine solche Szene, wo eine junge Frau einen Priester anschreit, nicht gegeben. Das ist eine neue Qualität. Ich denke, diese jungen Menschen – das klingt vielleicht ein bisschen stereotyp – sind heute stärker von einer globalisierten Welt geprägt. Der polnische Katholizismus ist für sie etwas Veraltetes. Gott spielt weniger eine Rolle und der medizinische Fortschritt ist stärker als die Tradition, die versucht, Frauen zu kontrollieren. In der kleinen Stadt, aus der ich komme, haben auch viele meiner Freundinnen an den Protesten teilgenommen und sich dadurch politisiert. Das ist natürlich die optimistische Version.
Der zweite Punkt ist, dass die Bewegung sehr divers und damit verbunden auch sehr widersprüchlich ist. Meine Freundinnen haben mir erzählt, dass die Stimmung der Proteste 2020 in Warschau einem Straßenfest glich. Leute aus verschiedenen Klassen und Milieus sind zusammengekommen und haben gemeinsam Polizeiautos kaputt gemacht und Wände mit feministischen Slogans beschmiert. Der Protest wurde einerseits von den Aktivistinnen und Leuten aus der bürgerlichen feministischen Bewegung getragen. Das sind sehr junge Leute – die Kinder der seit der Wende neu entstandenen, relativ unpolitischen Mittelschicht, die sich seit den 90er Jahren auf den sozialen Aufstieg konzentriert hat, also letztlich darauf, einen guten Job zu bekommen. Diese neue junge Generation – das war auf den Straßen sehr sichtbar – hat eine Menge Wut in sich. Denn sie werden sich allmählich bewusst, dass die katholische Kirche in Polen zu viel Macht hat und sogar an Macht gewinnt und mit der rechtspopulistischen Bewegung zusammenarbeitet, mit den Politiker:innen der PiS-Partei und der Konfederacja-Partei. Andererseits kamen viele Leute aus der Arbeiter:innenklasse, die einfach auf die Straße gehen wollten, um ihre Wut auf die PiS-Partei zu artikulieren. Das war auf jeden Fall eine wichtige Veränderung gegenüber 2016.
Es gab dann diesen Moment, wo die Bewegung zu einer allgemeinen Widerstandsbewegung gegen die PiS-Partei wurde, was zu einem Problem führte. Die Aktivist:innen, die die Bewegung initiiert hatten, waren gegen eine solche Verallgemeinerung. Sie haben gesagt: „Uns geht es um Abtreibungsrechte und nicht einfach nur gegen PiS allgemein.“ In dem Moment, wo die Massen in die Bewegung kamen und ihre Wut ausgedrückt haben, wurde die dezentrale Struktur für die feministische Bewegung zu einem Problem. Die Aktivistinnen befürchteten dann, dass der Fokus der Bewegung – das Recht auf und der Zugang zu Abtreibung – verloren gehen und nun alles in der leeren Forderung „PiS – hau ab!“ aufgehen würde.
Ihr habt beide jetzt schon angesprochen, dass die Bewegung einerseits sehr dezentral funktioniert, andererseits auch stark in kleinen und mittleren Städten verortet ist, also in Orten, wo man den gegenwärtigen Feminismus vielleicht zuerst weniger vermutet. Ich habe auch von Aktionen von Agrararbeiter:innen gelesen, die sich mit der Bewegung solidarisiert und mit Traktoren die Straßen blockiert haben. Das fand ich sehr interessant und es hat mich auch ein wenig gewundert, dass das in Polen passiert – und auch in anderen Ländern wäre das verwunderlich gewesen, wenn sich Bauern mit der feministischen Bewegung solidarisieren. War das tatsächlich so der Fall und inwiefern gab es in der Peripherie Solidarität mit der Bewegung bzw. welche gesellschaftlichen Gruppen sind mit der Bewegung solidarisch?
Magda: Was für die meisten Frauen eine große Rolle hinsichtlich der neuerlichen Verschärfung, bzw. des De-facto-Abtreibungsverbots spielt, ist, dass dieses Verbot auch dann gilt, wenn das zukünftige Kind eine chronische Krankheit oder Beeinträchtigung haben wird. Dagegen protestieren viele Frauen gerade aus ärmeren Milieus, die sich eine Pflege für ihr Kind gar nicht leisten können. Die Schocktherapie Polens hatte ich ja schon erwähnt und die Folgen sind bis heute zu spüren. Man bekommt unglaublich wenig Unterstützung, wenn man eine Person betreuen muss. Daher bedeutet es ein großes finanzielles Risiko. Und während der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen extrem erschwert wird, werden die Sozialleistungen nicht etwa erhöht. So kommt es, dass das Verbot in allen Schichten ein Thema ist und auch, ganz platt gesagt, Baggerfahrer und Busfahrer, die als Väter ja auch direkt davon betroffen sind, ihre Wut auf die Straße tragen.
Pawel: Die Agrarbewegung in Polen ist sehr ambivalent, eigentlich eher nationalistisch und katholisch. Sie machen zwar viele Aktionen, aber sie sind leider sehr reaktionär. Als unterstes Glied in der kapitalistischen Nahrungskette sind sie sich selbst überlassen. Aber sie haben gemerkt, dass sie viel mediale Aufmerksamkeit bekommen können, wenn sie mit den Frauen zusammen protestieren. Und es gab diesen besonderen Moment – ich habe schon von dem Straßenfest erzählt, wo auch Busfahrer große Solidarität zeigten – da hat auch die Agrarbewegung gesagt: „Wir gehen mit“, um Warschau lahmzulegen. Man könnte sagen, das war ein Moment der Massen – wenn man diese alte Kategorie nutzen möchte.
Und noch etwas fällt mir ein, wenn wir über die Solidarität mit der Bewegung sprechen: Ich will nicht zu optimistisch sein, aber seit 2019 gibt es wieder linke Abgeordnete im polnischen Parlament. Zuvor gab es über fünf Jahre keine linke Repräsentation mehr. Und diese neuen Abgeordneten, vor allem Frauen, sind auch aufs Land gefahren und haben dort Leute, die von Polizeirepression betroffen waren, unterstützt. Bekannt wurde etwa ein 15-jähriger Junge, der fast vor Gericht musste, weil er auf Facebook einen Beitrag über einen Protest in seiner kleinen Stadt veröffentlicht hat.
Diese neuen linken Abgeordneten sind allgemein sehr sichtbar in den Protesten und werden auch regelmäßig von der Polizei angegriffen. Es hat sich eine Art Solidarität zwischen der bürgerlichen parlamentarischen Linken und der sozialen Bewegung gebildet. Diese Verbindung wird insbesondere durch junge Politikerinnen gebildet, vielleicht vergleichbar mit Jule Nagel in Leipzig oder AOC in New York. Klar, man sollte das auch nicht idealisieren, sie versuchen letztlich, ihren Erfolg auf die Unterstützung sozialer Bewegungen aufzubauen. Aber ihre Rolle in der Bewegung war auch wichtig. Und der Diskurs über die Polizei hat sich sehr geändert. Plötzlich sagen alle: „ACAB“, weil alle alles filmen. Es gibt viele Beweise über die Repressalien der Polizei. Selbst die Mittelklasse – Bildungs- und Kleinbürger:innen – sind heute schockiert, dass die Polizei das Gewaltmonopol des kapitalistischen Staates besitzt. Hier hat auch eine Art Desillusionierung stattgefunden.
Im öffentlichen Diskurs hat sich außerdem das Sprechen über Abtreibung verändert. Hier fand eine Enttabuisierung statt. 2018 erschienen Mitglieder des schon erwähnten Abortion Dream Team auf dem Cover eines der größten feministischen Mainstream-Magazine Wysokie Obcasy (High-Heels) mit dem Slogan „Abortion is OK“. Ihre Arbeit hat den polnischen Diskurs über reproduktive Rechte stark verändert. Viele bürgerliche Journalist:innen waren vorher auf dem Standpunkt: „Abtreibung ist immer etwas Schlimmes, etwas Verwerfliches.“ Seit 2016 hat sich das verändert, der Diskurs wurde von den Aktivist:innen deutlich radikalisiert.
Was sind denn die konkreten Forderungen und Ziele der feministischen Bewegung?
Magda: Die Forderungen sind natürlich auch sehr divers, wie die Bewegung selbst. So wie es nicht die zentrale Organisation und den zentralen Ort gibt, gibt es auch nicht die zentralen Forderungen. Das Netzwerk Strajk Kobiet hatte nach einer Zeit einen Forderungskatalog auf seiner Webseite, in dem es zu großen Teilen um Abtreibungs- und Reproduktionsrechte ging, also konkret um den Zugang zu Abtreibung, um den Zugang zu medizinischen Indikationsmöglichkeiten aber auch um soziale Themen, die die Erhöhung von Sozialleistungen für Leute, die sich auch in schwierigen Lagen dafür entscheiden, ein Kind zu kriegen. Das könnte man ein bisschen als Forderungskatalog ansehen, aber die Forderungen hängen auch immer von der Gruppe und der Stadt ab, die gerade etwas organisiert.3
Mit welchen Problemen hat die polnische Bewegung gegen das Abtreibungsverbot bzw. der polnische Feminismus überhaupt zu kämpfen? Verlaufen die Konflikte innerhalb der Bewegung entlang derselben Linien, die auch den hiesigen Feminismus immer wieder aufreiben?
Pawel: Während der Bewegung von 2011 spielte die Diskussion bzw. der Streit um Gender noch keine Rolle. Mit dem Frauenstreik hat sich nun alles verändert. Das lag daran, dass die Bewegung größer und dieser Streit plötzlich überhaupt möglich war. Es ist auch in Polen ein schwieriger Streit, der die Bewegung zu großen Teilen erfasste. Auf der einen Seite sind da die Antifas, Anarchist:innen und Queers, diese Gruppen bilden mehr oder weniger den Zusammenhang des Grassroots-Aktivismus. Sie stehen alle für einen queeren Radikalismus und Fragen der Identität spielen eine große Rolle. Zugleich sind sie auch alle Antifaschist:innen. Hinsichtlich des Frauenstreiks sieht es anders aus. Hier hat man es eher mit liberalem bzw. bürgerlichem Aktivismus zu tun. Diese Diskussion kommt nun verspätet in Polen an und die Debatte wirkt oft eher wie eine Nachahmung dessen, was sich Westen über Jahrzehnte hinzog. Ich hab zwar etwas Angst, das so hart auszudrücken, aber darin drückt sich der periphere Charakter von Polen als Staat wie als Gesellschaft aus. Die Positionen der polnischen Akteur:innen in dieser Diskussion über Identity Politics, über Queerfeminismus, über Sexarbeit etc. sind anders als in Deutschland. Das meiner Meinung nach größte Problem ist, dass es keinen marxistischen Feminismus in Polen gibt, der diese Diskussion in einer Weise formen könnte wie es hier in Deutschland der Fall war. Neben der fehlenden Tradition einer autonomen Aneignung des Marxismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Kräfte, die diesen nicht durch die autoritär-orthodoxe Brille des Staatssozialismus lesen mussten, ist es vor allem der massive Antikommunismus, der die feministische Debatte beeinflusst. Das ist wahrscheinlich nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Polen ist, wie viele vielleicht wissen, das Zentrum des globalen Antikommunismus. Zu diesem grassierenden Antikommunismus gibt es keine Alternative eines westlichen Marxismus, die hier einspringen und diesen kritisieren könnte. Die Leute sind vom Marxismus-Leninismus enttäuscht bzw. ist dieser diskreditiert, es gab jedoch keine neue Kraft innerhalb der Linken, die die Klassenfrage hätte übernehmen können. Daher gibt es leider nur den Queerfeminismus und neue sozialdemokratische Organisationen wie die Partei Razem, die ebenfalls einer antikommunistischen Ideologie anhängen. Der Antikommunismus vereint das gesamte politische Spektrum Polens.
Magda: Das sieht man oft in der Linken in den osteuropäischen Gesellschaften, die nach 1990 eine bestimmte Entwicklung durchmachten. Dort herrscht eine gewisse Gleichzeitigkeit von verschiedenen Ideen und politischen Strömungen, die sich z.B. in der BRD seit den 1960ern mit ihren ganzen Diskursen, Abspaltungen und Neugründungen entwickelt haben. So eine Entwicklung gibt es nur an ganz wenigen Stellen in Polen, deshalb existiert ein merkwürdiger Oldschool-Feminismus gleichzeitig zu einem literatur- und kulturwissenschaftlich geprägten Queerfeminismus und in beiden haben sich sehr hermetische Milieus gebildet. Das ist ein großes Problem. Zu den Kontroversen der Bewegung: Zu sagen, dass nicht nur Frauen, sondern auch Männer schwanger werden können, war für manche Leute sehr mindblowing. Das hat sich jetzt bereits verändert und auch auflagenstarke, große Zeitungen und Zeitschriften schreiben schon von „Personen, die schwanger werden können“ oder von „Personen mit einer Gebärmutter“.
Du hast ja bereits die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung, Recht auf Abtreibung etc. erwähnt. Aber zugleich scheint die Forderung nach dem Zugang zu Abtreibung ebenfalls sehr stark zu sein. In Deutschland steht diese Forderung ja eher im Hintergrund, hier geht es mehr um den Paragraphen. Mir erscheint es eigentlich recht fortschrittlich, wenn man die Zugangsfrage stärker hervorhebt. Wie präsent ist das denn in der Bewegung? Sind das Rechtliche und der Zugang zur Abtreibung gleich gewichtet?
Magda: Mir kam dieser Forderungskatalog eher wie eine Wunschliste vor. Das Problem ist, dass sich hier einerseits eine sehr defensive Position ausdrückt, die andererseits im luftleeren Raum schwebt. Leider geben die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse ja nichts her. Es fehlt eine realpolitische Perspektive. Auch die letzte Präsidentschaftswahl ist sehr knapp zugunsten des PiS-nahen Kandidaten ausgegangen. Das wird nun wieder fünf Jahre so bleiben. Die politischen Mehrheitsverhältnisse haben auch Auswirkungen auf die Bildungspolitik, die in Polen sehr zentralisiert ist. So ist z.B. die Einführung von Religion als Pflichtfach im Abitur geplant. Das ist unglaublich! Und zudem wurden im Schatten der Coronakrise im April 2020 in einer sich bis in die Nacht ziehenden Sitzung im Sejm weitere geplante Gesetze diskutiert. So sollen etwa Kinder unter 18 Jahren bei der Jagd mit Waffen hantieren dürfen. Auch wurde diskutiert, eine Frist einzuführen, bis zu der Nachkommen und mögliche Erb:innen von Immobilien Entschädigungsforderungen stellen oder Eigentumsansprüche gelten machen können. Das betrifft insbesondere auch Eigentum von in der Shoa ermordeten jüdischen Pol:innen. Eine Entschädigung soll dann nach Ablauf dieser Frist nicht mehr möglich sein. Solche politischen Entwicklungen scheinen gerade während der Corona-Krise auf sehr vielen Ebenen zu passieren. Die Verschärfung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch, Homophobie und Hass gegen LGBTQI Personen sind nur die Spitze des Eisbergs.
Pawel: In Verbindung mit dem Gesetz zur Entschädigung muss auch von einer Zunahme des Antisemitismus gesprochen werden. Es gibt eine offene Kampagne gegen dieses Gesetz. 4 Während der Frauenstreik-Proteste kam es zu brutalen Szenen, in denen Faschist:innen, ausgestattet mit den Symbolen der Kampagne gegen die Entschädigung des Eigentums von Opfern des Holocaust in Polen, eine der protestierenden Frauen gewaltsam verschleppt haben. Da findet eine Verschmelzung von Antisemitismus und Antifeminismus statt. Man muss dazu sagen, dass der bereits erwähnte Antikommunismus eine eindeutige Verbindung zum Antisemitismus aufweist. Die ganze Schuld für den Kommunismus wird den Juden zugeschoben. Die polnische Imagination basiert auf diesem Stereotyp, dass es Juden waren, die den Kommunismus von außen gebracht haben. Das ist diese Verschwörungstheorie, die den Kommunismus externalisiert, indem sie ihn einerseits zu einer jüdischen Verschwörung macht und ihn gleichzeitig in den russischen Osten legt. Eine Kritik des Stalinismus ist in Polen daher sehr schwer, da man dazu immer auch den Antisemitismus kritisieren muss.
Die Stärke der PiS-Partei ist in Polen ja eine eher neue Erscheinung. Sie hat als konservative Partei auf den ersten Blick keine vergleichbare Tradition wie konservative politische Spektren in anderen westlichen Ländern. Woher kommt dieser doch recht späte Aufschwung einer erzkonservativen Partei?
Pawel: Meiner Meinung nach hat die ehemalige liberale Regierung den Weg geebnet. Vor der PiS war zehn Jahre eine liberale Partei an der Macht, die man mit der CDU vergleichen kann. Diese Partei sprach zwar viel mit den sozialen Bewegungen, doch daraus folgte nichts. Sie taten nichts für Minderheiten und waren in keiner Weise emanzipatorisch oder fortschrittlich. Zudem installierte die Partei totale kapitalistische Verhältnisse, die große Aufstiegsmöglichkeiten für die Mittelklasse bereithielten. Viele Leute haben gute Jobs vor allem in westlichen Firmen bekommen, die Arbeitsplätze in Polen geschaffen haben. Es kam sehr viel Kapital nach Polen. Die PiS hatte es danach einfach: Sie mussten dieser neuen Mittelschicht einfach nur ankündigen, dass sie Kindergeld einführen werden. Seit 1990 hatte es in Polen kein Kindergeld mehr gegeben.
Magda: Eine Folge der neoliberalen Schocktherapie war, dass die Sozialleistungen massiv gekürzt wurden, das betraf auch Sozialleistungen für Familien mit Kindern. Anhand der bereits erwähnten geplanten Gesetze in Bezug auf Restitutionen kann auf ein anderes Problem hingewiesen werden. Diese Gesetzgebung wurde u. a. deshalb unterstützt, weil die Häuser so im kommunalen bzw. staatlichen Eigentum verbleiben würden. Nur so können sie auch Sozialwohnungen bleiben. Dieser Gesetzesplan ist folglich verbunden mit dem polnischen Mietwohnungsmarkt, der völlig liberalisiert ist. Es gibt zudem eher die Tendenz zum Wohneigentum, was bedeutet, dass viele Pol:innen keine andere Möglichkeit für sich sehen, um Wohnraum für sich zu sichern, als einen hohen Kredit aufzunehmen, den sie dann jahrelang abbezahlen müssen, und sich eine Wohnung zu kaufen. Die wenigen Sozialwohnungen, die es gibt, sind für sehr arme Leute vorgesehen. Es gibt kein so großes Mietwohnungen-Segment, wie man das etwa aus Deutschland kennt. Da die Menschen häufig keine geeignete Mietwohnungen finden, leben sie auch bis ins hohe Erwachsenenalter bei ihren Eltern. Selbst wenn sie jemanden finden würden, der ihnen etwas vermietet, ist das völlig dereguliert. Man kann z. B. von einem auf den anderen Monat eine Kündigung erhalten und aus der Wohnung müssen. Aber kommen wir nochmal auf die PiS zu sprechen. Die schon erwähnte konservativ-liberale ehemalige Regierungspartei PO und die PiS haben gemeinsame Wurzeln. Beide entwickelten sich in der politischen Opposition der 1980er Jahre und aus der Solidarność-Bewegung. Die einen waren katholischer, während die anderen (wirtschafts-)liberal geprägt waren. Das sind letztlich die beiden Strömungen, die sich durchgesetzt haben. Bis vor ein paar Jahren gab es noch eine nennenswerte postkommunistischen Linke, vergleichbar etwa mit Sozialdemokrat:innen, die jedoch den großen Fehler begangen hat, eine neoliberale Politik à la New Labour umzusetzen. Sie hat sich dadurch total diskreditiert. Das ist sicher einer der Gründe, warum es heute keine Linke gibt, die als politischer Akteur ernst zu nehmen wäre.
In einer der bekanntesten Passagen des Kommunistischen Manifests wird von seinen Verfassern verkündet, dass sich die Epoche der Bourgeoisie dadurch auszeichnet, dass „alles Heilige entweiht wird, und die Menschen endlich gezwungen sind, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“. Man hat im Falle Polens jedoch vielmehr den umgekehrten Eindruck. Es scheint hier eine Gleichzeitigkeit von kapitalistischer Durchdringung und Rückkehr des Katholizismus zu geben. Wie erklärt ihr euch diesen Machtzuwachs der katholischen Kirche in den letzten drei Dekaden und seht ihr umgekehrt auch Prozesse einer Säkularisierung?
Magda: Ich würde das sehr historisch beantworten. Die römisch-katholische Konfession ist dominierend. In Deutschland gibt es ja wenigstens zwei große christliche Konfessionen, die noch im Aushandlungsprozess sind. So etwas gibt es in Polen nicht. Es gibt die eine dominierende christliche Kirche, mit der einen Linie. Polen war aber nicht immer derart einheitlich, national wie religiös, wie es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist. In der Zwischenkriegszeit wie auch davor war die polnische Gesellschaft religiös und ethnisch heterogener.. Das ist sehr wichtig, um Polen zu verstehen. Das zweite Erwähnenswerte in diesem Zusammenhang ist die Entstehung von Solidarność in den 1980ern. Ende 1981 wurde in Polen das Kriegsrecht verhängt und alle leitenden Figuren verhaftet und interniert. Die meisten wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt und Solidarność wurde verboten. Dadurch kam die katholische Kirche ins Spiel, die der zerschlagenen Bewegung eine Infrastruktur bot. Das ist das moralische Kapital, das die Kirche in dieser Zeit gewonnen hat: Diesen Nimbus, dass der polnische Katholizismus den Kommunismus mitbesiegt hat.
Pawel: Viele Journalist:innen sagen, dass die katholische Kirche andernorts geschwächt wurde, da es starke bürgerliche Bewegungen gab. Der investigative Journalismus hat z. B. sehr viel Arbeit geleistet, um die sexuelle Gewalt in der Kirche zu denunzieren. Das hat die Säkularisierung gefördert. Aber in Polen gab es dies nicht. Es gibt jetzt diese verspätete neoliberale Säkularisierung, aber die ist in sich sehr fragil, es gibt nicht viel Strukturen dahinter. Kleine Gruppen von Journalist:innen produzieren durch Crowdfunding geförderte Filme über die sexuelle Gewalt der Kirche. Diese Filme sind Hits: Ganz Polen geht ins Kino und schaut sich diese sehr krassen Filme an. Die Frage ist jedoch, ob das genug ist, um eine Säkularisierung voranzutreiben. Denn auf der anderen Seite pumpt der Staat sehr viel Geld in die katholische Kirche. Die bittere Frage ist nun leider die, ob Netflix gewinnt oder die PiS-Regierung. Das ist die Frage in Polen: Das Kapital oder alte regressive Strukturen. Darum ist das nicht gespalten im eigentlichen Sinne bzw. in unserem kapitalismuskritischen Sinne. Denn die Spaltung ist eine zwischen Kapital und Kirche bzw. Nationalismus etc. Wenn man Kirche, Traditionalismus, Homophobie bekämpfen will, wird man automatisch den "progressiven" Neoliberalen zugeordnet. Aber sie alle teilen den Antikommunismus. Es ist daher sehr schwer, eine linke Praxis mit einer kommunistischen Perspektive zu entwickeln.
Wenn ich deine Einschätzung richtig verstehe, ist sie sehr pessimistisch: Auf der einen Seite gibt es die reaktionären Kräfte und auf der anderen die liberale Front, die zu neoliberal und daher eigentlich wenig progressiv ist. Ist das richtig?
Pawel: Ja, das ist meine Einschätzung. Ich würde nicht sagen, dass es in der polnischen Gesellschaft eine Spaltung gibt. Es gibt nur den Neoliberalismus, der alles aufgefressen hat. Und ein Teil davon ist der liberale Feminismus und der liberale Queerfeminismus. Die sozialen Fragen spielen deshalb häufig keine Rolle in der Bewegung. Es gibt zwar einen jungen Feminismus, der die Frage nach reproduktiven Rechten an die soziale Frage knüpft, aber das ist eine Minderheit. Die ist nicht stark genug. Es gibt natürlich in dieser neoliberalen Welt viele Spaltungen, aber auf der anderen Seite könnte man sagen, das ist nur eine Fassade. Am Ende tragen die Arbeiter:innen diese ganze Wirtschaft auf ihren Schultern. Und etwas verkürzt ausgedrückt hätten wir es auch nach der Liberalisierung von Homoehe oder der Abtreibung nach wie vor noch mit einem hardcore kapitalistischen Staat zu tun und eben auch mit den genannten Problemen, die dieser schafft. Ein strukturelles Problem, welches hinter dieser fehlenden linken Perspektive steckt, sind die enorm schwachen Strukturen der polnischen Linken. Ich war in Polen in der queeren und antikapitalistischen Linken aktiv, für mich war Klasse aber auch immer wichtig. Es gab jedoch keine Strukturen. Ich war sehr beeindruckt, wie viele Strukturen die Partei Die Linke in Deutschland hat. Es gibt hier Büros von linken Parteien. Es gab vor ca. 15 Jahren eine Organisation in Polen mit dem Namen „Młodzi Socjaliści“ (Junge Sozialisten), die durch die RLS gefördert wurde. Die hatte viele Strukturen. Dann hat sie sich jedoch aufgelöst und ist in der Razem-Partei aufgegangen, einer sehr kleinen Partei, die jetzt mit der postkommunistichen Linken verbunden ist. Sie ist vergleichbar mit Podemos und Syriza. Sie beziehen sich auf soziale Bewegungen, sind junge Leute und Städter. Doch leider fehlt die Infrastruktur und die marxistische Perspektive. Das ist ein Problem.
Magda: Noch ein Punkt, auf den wir noch nicht zu sprechen kamen, ist die Migration und Mobilität. Viele Leute ziehen einfach weg aus Polen. Ich glaube, das liegt auch daran, dass sie für sich wenig Möglichkeiten sehen, jenseits des klassisch kapitalistisch-patriarchalen Modells zu leben, d. h. Familie, 40-Stunen-Job etc. Alle Leute, die sich etwas anderes wünschen, versuchen entweder schnell reich zu werden, um ein unabhängigeres Leben in den Großstädten zu verwirklichen, oder sie gehen ins Ausland: Das sind vor allem Leute, die besser ausgebildet und daher etwas mobiler sind. Das ist ein Problem, aber zugleich verstehe ich das total, dass die Leute gehen. Ein Nebeneffekt ist dann aber auch, dass sich die polnische Gesellschaft homogenisiert. Die ganzen traditionellen Familien werden sich selbst überlassen und die katholische Kirche mit ihrer Kohle hat dort freies Spiel.
Wie sieht es jetzt gerade aus mit der Bewegung? Denkt ihr, sie könnte nach Corona nochmal in Schwung kommen? Und wie kann man sich als kommunistische Kraft in dieser widersprüchlichen Bewegung positionieren und einbringen?
Magda: Ich war seit Ausbruch der Pandemie nur selten in Polen und habe daher eine gewisse Distanz. Mein Eindruck ist, dass Corona politische Arbeit eher erschwert – allein schon im Hinblick auf Mobilität und physisches Zusammenkommen. Bis auf die Pride-Demos gab es in den vergangenen Monaten (Stand Mitte Juli 2021) keine größeren feministischen Demos gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts. Dieses ist Anfang 2021 in seiner verschärften Form veröffentlicht worden und somit in Kraft.
Pawel: Derzeit wird inhaltlichen Diskussionen innerhalb der feministischen Bewegung mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Diskutiert werden Themen der Identität, Sexarbeit, Rechte von Transmenschen etc. – ganz ähnlich wie in der feministischen Bewegung in Deutschland und anderswo. Parallel breitet sich die queere Bewegung weiter aus.
Pro-Choice-Aktivist:Innen leisten weiterhin viel harte Arbeit. Linke Parlamentarier:innen sind dabei, ein Gesetz zur Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes vorzubereiten. Ich hoffe, dass die Strukturen, die in den letzten Jahren während der Bewegung entstanden sind, stark genug sind, um Corona zu überdauern.
- 1. Mehr zu diesem Thema erfährt man in der Doku „Abortion Democracy“ von Sarah Diehl, frei zugänglich unter Abortion Democracy
- 2. Einen Eindruck der Bedingungen, unter denen Abtreibungen damals durchgeführt wurden, erhält man u. a. in der Doku „Podziemne Państwo Kobiet (The Underground State of Women)“ von 2009: Verrauchte Krankenhauskeller, Patientinnen, die während des Eingriffs selbst ihren Ärzten die Werkzeuge reichen müssen, Misogynie, Angst etc.
- 3. Die Seite strajkkobiet.eu ist mittlerweile offline, der Forderungskatalog ist hier zu finden.
- 4. Mehr Infos zum Gesetz und zur Kampagne gegen dieses Gesetz auf Wikipedia.