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Die Suche nach dem kleineren Übel - Das Zimmerwald-Komitee legt Widerspruch ein

Die Suche nach dem kleineren Übel - Das Zimmerwald-Komitee legt Widerspruch ein

11. März 2025

Bernd Gehrke kritisiert in seinem Artikel „Uns aus dem Elend zu erlösen“ in der Ausgabe 706 von „analyse & kritik“ die Positionen der von Gewerkschaften organisierten Tagung „Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg. Zur Rolle der Gewerkschaften in der Friedensbewegung“. Die im Tagungsband gegen die Ampel-Regierung und Gewerkschaften erhobenen Vorwürfe des Bellizismus und der Militarisierung seien „im Ungefähren bleibende Begriffe“, denen die analytische Schärfe fehle, um zu unterscheiden, ob das Handeln der bundesdeutschen  Regierung tatsächlich „Kriegslüsternheit“ oder „die panische Reaktion des politischen Establishments auf eine durch die russische Invasion der Ukraine massiv veränderte politisch-militärische Lage Europas“ sei. Nur so lasse sich, „wie in der Innenpolitik, auch in der Militärpolitik unterscheiden, welche Aktivitäten des bürgerlichen Staates toleriert und welche bekämpft werden sollten“.

Gleichzeitig warnt Gehrke davor, dass gerade der „begriffslose […] Antimilitarismus oder Antibellizismus“ dafür sorge, dass die eigentlichen Bellizisten nicht erkannt werden. Die Aufrüstung der NATO beschränke sich „keinesfalls nur auf dessen [des „Russischen Expansionismus“] Abwehr“, sondern es gehe eigentlich um die „Sicherung der globalen Vorherrschaft des US-Imperialismus“.

Darum sollten Linke laut Gehrke solidarisch mit den ukrainischen Arbeiter*innen und Gewerkschaften sein, deren Kampf gegen die geplanten Maßnahmen der eigenen Regierung, aber auch gegen den „Russischen Imperialismus“ unterstützen, also Waffenlieferungen an den ukrainischen Staat befürworten. Sie (die Linken in der Bundesrepublik) sollten sich auch endlich von ihrem veralteten Denken („während des Kalten Kriegs eingeübt“) verabschieden, dass „der eigene […] Block am schlimmsten von allen ist“. Schließlich gebe es „weitere imperialistische Staaten [...], die auf globaler oder regionaler Ebene die US-beherrschte unipolare Weltordnung durch eine noch reaktionärere ersetzen wollen.“

Gehrkes Argumentation ist widersprüchlich:

- Er plädiert dafür, im Handeln der Ampel-Regierung nicht „Kriegslüsternheit“, sondern nur die Reaktion auf eine von Russland hervorgerufene Situation zu sehen. Linke müssten sauber unterscheiden, „wo klassische staatliche Verteidigungspolitik aufhört und eine imperialistisch intendierte oder sogar geradezu abenteuerliche Militärpolitik beginnt“. Bei dem im Text beschriebenen Konflikt geht es aber keinesfalls um einen deutschen Verteidigungsfall, sondern um die Lieferung von Waffen an einen anderen Staat. Es handelt sich also bei der „panischen Reaktion“ keinesfalls um Verteidigung, sondern um Entscheidungen, die hinsichtlich der fortdauernden Eskalation in der Ukraine (der Beinahme „Dritter Welt-“ zu diesem Krieg wird von den Entscheidungsträger*innen meist noch vermieden) sehr viel mit „geradezu abenteuerliche[r] Militärpolitik“ zu tun haben.

- Gehrke warnt in seinem Text auch vor der Aufrüstung der „USA und ihrer Nato-Vasallen“, die „keinesfalls“ nur auf die Abwehr des „Russischen Expansionismus“ beschränkt sei. Gleichzeitig solle die „emanzipatorische“ Linke sich endlich von ihrem veralteten Denken („während des Kalten Kriegs eingeübt“) verabschieden, dass „der eigene […] Block am schlimmsten von allen ist“. Schließlich gebe es „weitere imperialistische Staaten [...], die auf globaler oder regionaler Ebene die US-beherrschte unipolare Weltordnung durch eine noch reaktionärere ersetzen wollen.“ 
Sowohl Russland als auch „dem Westen“ (USA und „NATO-Vasallen“) bescheinigt Gehrke Imperialismus. Wenn er seine und die Aufgabe aller „emanzipatorischen Linken“ tatsächlich in der Bekämpfung JEDER Art von „Imperialismus und Tyrannei“ sieht, dann müsste er zu anderen Schlüssen kommen als dem, das kleinere Übel zu wählen. Dazu unten mehr.

- Er bestärkt die von französischen Gewerkschaften formulierte Forderung nach „...konkrete[r] Solidarität mit den ukrainischen Werktätigen und ihren Gewerkschaftsorganisationen [...] in ihrem Kampf gegen den russischen Imperialismus.“ Jede:r weiß, dass im Krieg vor allem Lohnabhängige zum töten und getötet werden losgeschickt werden. Spätestens nach drei Kriegsjahren, das wird anhand der Zahlen der Desertierenden, den immer heftigeren Maßnahmen zur Rekrutierung und dem Ausmaß der Zerstörung in der Ukraine deutlich, ist „die konkrete Solidarität“ in Form von Waffenlieferungen und Kriegsmaterial für den Kampf „gegen den russischen Imperialismus“ ein schreiender Zynismus für alle ukrainischen Werktätigen. Warum der Sieg der ukrainischen Nation wichtiger sein soll als das Leben der Menschen dort, wollen wir uns nicht einleuchten lassen.

Um seinen Argumenten mehr Gewicht zu verleihen, verweist Gehrke auch auf die italienische CGIL, die allerdings nur humanitäre, gewerkschaftliche Solidarität erklären, aber ausdrücklich nicht für Waffenlieferung und Aufrüstung plädieren. Soweit wir wissen, schwieg sich die CGIL bisher zu den basisgewerkschaftlichen Hafenprotesten gegen Waffenlieferungen in Italien aus.

- Es ist unübersehbar, dass Gehrke die EU geradezu verharmlost. Er sieht die EU-Staaten von „russischem Expansionismus“ bedroht. Über die Beziehungen des Bündnisses zu den USA schlägt er sogar die selben Töne an wie das BSW.  Er spricht von den „USA und ihre[n] Nato-Vasallen“ und der Sorge über die „Forderung von Pistorius und Kanzler Olaf Scholz nach der Stationierung von US-Erstschlagwaffen auf deutschem Boden“. Die EU, seit Ende des Kalten Krieges zunehmend als Gegenprojekt zur Übermacht der USA fungierend, hat aber, wenn auch mit Überschneidungen, ganz eigene Interessen beim Durchfechten des Krieges in der Ukraine. Die Gegensätzlichkeit der Interessen von Russland und der EU werden schon lange und häufig von EU-Politiker*innen offen benannt. Außerdem: was macht die politischen Ziele der französischen und der deutschen Regierung weniger imperialistisch als die der US-amerikanischen und russischen?

Für am folgenschwersten aber halten wir die verwendeten, „stets im Ungefähren bleibenden Begriffe“, mit denen Bernd Gehrke seinerseits „die Denunziation politischer Gegner*innen“ betreibt:

Auffällig ist bereits im ersten Satz, dass bei den „Aufgaben“ für Linke die Kritik und Abschaffung des Kapitalismus in keiner Weise genannt wird. Auch eine Kritik an Nationalstaaten wird im Text nirgendwo auch nur angedeutet. Wenn es Gehrke um eine Kritik der Verhältnisse geht, in denen die Interessen der Lohnabhängigen immer zu kurz kommen (und das legt er durch die ständige Betonung seiner Gewerkschaftsnähe nahe), sind diese Kategorien aber grundlegend:

Staaten stehen IMMER in Konkurrenz zueinander. Warum sonst ist die Frage nach Staatsgrenzen und der Zugehörigkeit von Menschen so wichtig? Auch wenn gerade keine Waffen im Einsatz sind, ist das Verhältnis der Staaten untereinander eines der gegenseitigen Be- und Ausnutzung (die „jahrelange Fossilkumpanei“ der deutschen und der russischen Regierung, die Gehrke so empört, ist hier ein passendes Beispiel und keinesfalls ein Widerspruch zur gegenseitigen Feindseligkeit). Wer dabei die Bedingungen setzt, wer bestimmen kann, wie der „regelbasierte“, „friedliche“ Umgang miteinander aussieht, liegt an den jeweiligen Gewaltmitteln. Aufgrund ihrer militärischen und/oder wirtschaftlichen Fähigkeiten haben unterschiedliche Staaten unterschiedliche Mittel, ihre Interessen in der Konkurrenz durchzusetzen. Die beiden Aspekte bedingen sich gegenseitig: Wer viel Geld zur Verfügung hat, kann sein Militär gut ausstatten. Und wer ein starkes Militär hat, der hat mehr Möglichkeiten, ganz ohne Waffeneinsatz die Spielregeln des wirtschaftlichen Umgangs mitzubestimmen.

Die von Gehrke geforderte Unterscheidung zwischen »verteidigungsfähig« und »kriegstüchtig« wirft die Frage auf, was da genau verteidigt wird. Die Sicherheit des einen Staates bedeutet Unsicherheit für dessen Konkurrenz. Macht sich ein Land durch ein Raketenabwehrsystem für die anderen unangreifbar, ändert es die Kräfteverhältnisse, Verhandlungspositionen, Chancen für den einen oder anderen Kriegsausgang. Die Unterscheidung zwischen „Angriffs-“ und „Verteidigungskrieg“ ist eine ideologische Setzung. Sie basiert auf dem Gedanken, die Gewalt der Staaten gegeneinander lasse sich objektiv in „legitim“ und „illegitim“ teilen. Der „Aufbau eines demokratischen und kollektiven Sicherheitssystems“, den die Autor*innen des Aufrufs „Für einen solidarischen Antiimperialismus“ (auf den Gehrke sich bezieht) fordern, ist in einer Welt der Staatenkonkurrenz nicht möglich, in einer ohne nicht nötig.

Ausgangspunkt für die wirtschaftliche Stärke der Staaten ist die Möglichkeit der gewinnbringenden Ausbeutung der Lohnabhängigen. Ob es genug Arbeit gibt, ob diese mehr oder weniger gut bezahlt wird, hängt davon ab, ob sich mit dieser Arbeit Gewinne machen lassen. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der „Werktätigen“ unterliegen also immer auch der Kalkulation der Staaten beim Vorankommen in der Staatenkonkurrenz. Dass in einer krisenhaften Situation sich als erstes die Umstände der Lohnabhängigen verschlechtern, ist kein Automatismus, aber durchaus eine aus staatlicher Perspektive folgerichtige Entscheidung.

Da Gehrke aber die Analyse der Klassenverhältnisse und des Wesens der Nationalstaaten nicht wichtig findet, ist die Unschärfe der Begriffe von Imperialismus und Tyrannei nur eine logische Folge. Wer sich nicht klar machen will, dass die Lohnabhängigen (und auch der Rest des Volkes) das Material der Staaten sind, um deren Interessen zu verfolgen, der kommt wohl an den Punkt, zu überlegen „welche Aktivitäten des bürgerlichen Staates toleriert und welche bekämpft werden sollten“.

Dann verwundert es auch nicht, dass, im Sinne der Wahl des kleineren Übels, den westlichen Waffenlieferanten vorgeworfen wird, es mit ihrer Feindschaft zu Russland nicht ernst genug zu meinen (siehe auch den von Gehrke zitierten Aufruf „Für einen solidarischen Antiimperialismus“). Wer da wem die Feindschaft erklärt, und wer diese Feindschaft mit den gelieferten Waffen durchzukämpfen hat, ist für Gehrke nicht der Differenzierung wert. Dass es auf allen Seiten die „Werktätigen“ sind, die die Werktätigen mit anderem Pass umzubringen scheint keine Rolle zu spielen.

An diesem Punkt ist auch Gehrkes Begriff der „Internationalen Solidarität“ sehr zweifelhaft. Warum sollen sich hiesige Gewerkschaften mit den ukrainischen Gewerkschaften denn solidarisieren? Einfach weil sie halt ähnliche Vorhaben und Interessen innerhalb ihres jeweiligen Staates haben und man sich darum sympathisch ist? Oder gibt es bei Gehrke doch ein Bewusstsein dafür, dass Lohnabhängige in dem Konstrukt der jeweiligen Nationalstaaten wenig zu gewinnen haben (er deutet es ja an bei der Forderung, den Kampf der ukrainischen Gewerkschaften gegen den „neoliberalen“ Kurs der Regierung zu unterstützen), sondern sich international solidarisieren und organisieren sollten, um tatsächlich ihre Interessen durchzusetzen? Dann müsste er sich aber auch die Frage stellen, warum das nicht für die russischen Lohnabhängigen gilt? Denn die sind ja auf russischer Seite die Hauptleidtragenden, die als erste töten und getötet werden sollen.

Schließlich wollen wir Bernd Gehrke in einem Punkt recht geben. Es wäre tatsächlich falsch von einem „Burgfrieden“ in der Bundesrepublik zu sprechen. Immer häufiger gibt es gewerkschaftlich ausgerufene Arbeitskämpfe. Allerdings sind diese zunehmend Ausdruck einer Verzweiflung, die aufgrund des wirtschaftlichen Abstiegs, der eng mit der Kriegspolitik der BRD zusammenhängt, entsteht. Viele Lohnabhängige sind dann doch nicht bereit den Gürtel enger zu schnallen, ohne dass dabei Kritik an der „Zeitenwende“ artikuliert wird. Die anstehenden Massenentlassungen bei VW etc. machen noch einmal deutlich, wer die Kosten für die deutsche Kriegspolitik zu tragen hat. Anders als 1914 befürchtet aber niemand ernsthaft, die Interessenvertretungen der Arbeitnehmer*innen könnten versuchen mit Arbeitsniederlegungen gezielt die „Verteidigungsfähigkeit“ ihres Vaterlandes zu untergraben. Die Arbeitsplätze einiger großer Player wie Rheinmetall werden zum Glück sicherlich erhalten.

Das Zimmerwald Komitee hat sich gegründet aufgrund der Feststellung, dass nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine ein Großteil der radikalen Linken in kürzester Zeit bisher formulierte Positionen aufgegeben hat. Die einen rufen, aufgrund der Tatsache, dass Russland die Ukraine angegriffen hat, dazu auf, die eigene Feindschaft mit der deutschen Regierung mal beiseite zu lassen und letztere in ihrem Anliegen, die Ukraine mit Waffen und Russland mit Sanktionen zu beliefern, zu unterstützen. Die anderen sehen im Angriff Russlands die überfällige Gegenwehr gegen die Dominanz der USA und deren Partner in Europa. Die grundsätzliche Kritik an Staat und Nation, egal auf welcher Seite, wird fallen gelassen bei der Suche nach der richtigen Parteilichkeit. Wir halten diese Parteilichkeit, egal für welchen Staat sie ausfällt, für grundsätzlich falsch.

Daher ist es uns sehr wichtig, die Gleichsetzung von Staatsinteressen mit den Interessen der Bürger*innen, die unter deren Herrschaft fallen, offen und offensiv zu kritisieren. Uns geht es nicht darum, darauf zu verweisen, dass ganz viele Linke ja eigentlich immer schon ihren oder den gegnerischen Staat gut fanden und das jetzt erst ans Licht kommt. Wir glauben aber, dass die oben beschriebenen Positionierungen linker Gruppen und Organisationen keine Zufälle sind, sondern aus einer falschen oder fehlenden Auseinandersetzung mit dem, was einen Staat ausmacht und wie Staaten sich in der Welt (also zwischen und gegen andere Staaten) bewegen, resultiert. Der Text von Bernd Gehrke ist hierfür ein Beispiel.

Unsere Initiative richtet sich an diejenigen, die nicht als Material für ihren jeweiligen Staat fungieren wollen, nicht im Frieden und nicht in Krieg. Wer für „sein“ Land nicht töten und sterben will, hat keinen Grund, Aktivitäten zu Aufrüstung zu tolerieren. Leider sind wir aktuell viel zu wenige, um überhaupt großzügig-behäbig zu sagen „rüstet ihr mal in Maßen auf, wir tolerieren es gerade noch“. Die eigene Ohnmacht bei staatlichen Entscheidungen zu erkennen und zu benennen (und sich nicht in eine vermeintliche Mitbestimmungsmöglichkeit zu imaginieren), halten wir für eine wichtige Erkenntnis, um darauf aufbauend ernsthaft über den Aufbau einer wirkmächtigen Gegenbewegung zu sprechen.

Wir freuen uns daher über Kontakt zu anderen Gruppen und über Diskussionsbeiträge.

Schreibt uns gerne: z-k@riseup.net