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Die Entstehung der sozialistischen Bewegung in Russland

Die Entstehung der sozialistischen Bewegung in Russland

22. August 2022

Der fünfte Teil unserer Reihe zur Geschichte der Arbeiterbewegung behandelt die Entstehung der russischen Sozialdemokratie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Die Entstehung der sozialistischen Bewegung in Russland

Die revolutionäre Sozialdemokratie in Russland stand in ihrem Anfang nicht in Konkurrenz mit bereits bestehenden Traditionen innerhalb der Arbeiterschaft, wie dies beispielsweise in England oder in Frankreich der Fall gewesen war, wo die revolutionäre Sozialdemokratie u.a. mit gemäßigten Gewerkschaften und Proudhonisten um die ideologische Vorherrschaft unter den Arbeiter:innen konkurrierte. Stattdessen entstand die revolutionäre Sozialdemokratie dort in Auseinandersetzung mit einem spezifisch russischem Agrarsozialismus, der sich dadurch auszeichnete, dass er von den Bäuer:innen und nicht von den Arbeiter:innen als revolutionärem Subjekt ausging. Dieser Agrarsozialismus, dessen Anhänger:innen Volkstümler genannt wurden, entstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts und wurde von Alexander Herzen begründet. In den achtziger und neunziger Jahren entstanden dann unter dem Einfluss der westeuropäischen Sozialdemokratie die ersten Zirkel, die ihre Propaganda stärker auf die Arbeiter:innen ausrichteten. In der Folge wurde eine theoretische Debatte zwischen der volkstümlerischen und der sozialdemokratischen Tendenz entfacht, in deren Zentrum die Frage nach der Entwicklungsfähigkeit des Kapitalismus in Russland und der Lebensfähigkeit der Dorfgemeinde stand. Mit dem Aufkommen einer größeren Streikbewegung wich das Zirkelwesen, das in der Frühphase der sozialdemokratischen Bewegung dominierte und das sich vor allem der theoretischen Bildung der Arbeiter:innen verschrieb, schließlich neuen strategischen Prinzipien, die aus der Streikbewegung in der Peripherie des Reiches heraus entstanden und unter dem Schlagwort der Agitation verhandelt wurden.

Die Ursprünge des russischen Sozialismus

In Russland entstand in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ein spezifisch russischer Sozialismus, der in der Bewegung der Narodniki 1 mündete und als dessen Begründer Alexander Herzen und Nikolai Tschernischewski gelten. Herzen, der bereits in seiner Studentenzeit in Moskau mit der Obrigkeit in Konflikt geriet, hatte 1847 Russland verlassen und bewegte sich fortan in den Kreisen der radikalen europäischen Intelligenz. Zusammen mit Proudhon gab er kurzzeitig die Zeitung Die Stimme des Volkes heraus. In Auseinandersetzung mit den damals in Westeuropa vorherrschenden Spielarten des Sozialismus entwickelte er eine eigene, auf die russischen Verhältnisse gemünzte Variante desselben. Tschernischewski wiederum, der einige Jahre nach Herzen dessen Ideen aufgriff, war ein bedeutender Vertreter einer an der französischen und deutschen Tradition geschulten materialistischen Philosophie. Ende der fünfziger Jahre wandte er sich verstärkt politökonomischen Themen, und dabei insbesondere der Agrarfrage, zu. In seinem 1863 in der Peter-und-Paul-Festung geschriebene Roman Was tun? beschreibt er die Schaffung von sozialistischen Genossenschaften auf Grundlage der russischen Dorfgemeinde (russisch mir oder obschtschina). Im Winter 1864 wurde er zu sieben Jahren Straflager und lebenslanger Verbannung nach Sibirien verurteilt.

Grundpfeiler des von Herzen und Tschernischewski begründeten russischen Sozialismus war das im Zentrum des russischen Reiches und in den östlichen Schwarzerdegebieten vorherrschende gemeinschaftliche Eigentum an landwirtschaftlichen Nutzflächen. Weideflächen, Wiesen und Wälder waren in diesen Dorfgemeinden in gemeinsamen Gebrauch. Das verfügbare Ackerland wurde darüber hinaus unter den Bäuer:innen regelmäßig und in Abhängigkeit von der Familiengröße neu verteilt, weshalb die obschtschina im deutschsprachigen Raum auch Landumteilungsgemeinde genannt wurde. Ausgehend von dieser Eigentumsstruktur bewerteten die russischen Sozialisten die Dorfgemeinde als zutiefst egalitäre und demokratische Institution. Den Bäuer:innen wurden wegen der Vorherrschaft des Gemeineigentums eine revolutionäre Veranlagung attestiert. Auf Grundlage dieser Annahmen kamen Herzen und Tschernischewski zu dem Schluss, dass Russland dem kapitalistischen Stadium der Entwicklung, anders als die westeuropäischen Länder, entgehen und direkt in den Sozialismus übergehen könne. So entstand in Abgrenzung zum westeuropäischen ein spezifisch russischer Sozialismus.

Die Ideen von Herzen und Tschernischewski führten bereits in den frühen sechziger Jahren zur Gründung einer Organisation namens Land und Freiheit, die aus kleineren Zirkeln in mehreren russischen Städten bestand. Eine ihrer wesentlichen Forderungen war die Einberufung einer ständelosen Volksversammlung. Die Mitglieder von Land und Freiheit hofften darauf, dass die Abschaffung der Leibeigenschaft zu einem großen Bauernaufstand führen würde. Zu diesem Schluss gelangten sie, da die anvisierten Reformen die Lage der Bäuer:innen kaum verbesserten, weil die Bedingungen, unter denen die Bäuer:innen ihre neu gewonnene Freiheit erhielten, von ihren ehemaligen Herren diktiert wurden. Im Manifest über die Abschaffung des Leibeigenenrechts hatte Alexander II angeordnet, dass für jede Dorfgemeinde eine Urkunde ausgearbeitet werden solle, in der sowohl die Größe des den Bäuer:innen dauerhaft zur Bearbeitung zur Verfügung gestellten Landes als auch die aus dieser Landüberlassung resultierenden Schulden festgehalten werden sollten. Der Grundherr hatte dabei de facto das Recht, die Höhe der Schulden willkürlich festzusetzen.

Die Abschaffung der Leibeigenschaft führte dazu, dass den Bäuer:innen nach der Reform weniger landwirtschaftliche Nutzflächen zur Verfügung standen als zuvor. Zudem waren sie durch den Landkauf hoch verschuldet. Trotz der mageren Bilanz der Reformen erfüllten sich die Hoffnungen auf einen Bauernaufstand jedoch nicht. Das liberale Lager, das Vertrauen in die von der Obrigkeit initiierten Reformen setzte, versagte den Revolutionär:innen die Unterstützung und Land und Freiheit löste sich 1864 auf.

Der Gang in das Volk

In den folgenden Jahren wuchs die Popularität des russischen Populismus innerhalb der russischen Intelligenz und eine neue Generation von Theoretikern erarbeitete eine politische Strategie, mit deren Hilfe das sozialistische Ziel in die Tat umgesetzt werden sollte. Einig waren sich Intellektuelle wie Michail Bakunin und Pjotr Lawrow darüber, dass aufgrund der Existenz der Dorfgemeinde die Revolution in Russland vom Land ausgehen und durch das Volk selbst durchgeführt werde müsse. Bei der kommenden Revolution würde es sich weniger um eine ‚politische‘ als um eine ‚ökonomische‘ Revolution handeln. Nach Lawrow sollten die Produktionsmittel in die Hände der Produzent:innen selbst übergehen und nicht in die einer neuen Regierung. Ähnlich wie Bakunin betrachtete er politische Macht als korrumpierend. Worin sich die Haltung der beiden jedoch deutlich unterschied, war ihre Perspektive auf strategische Fragen: Während Lawrow die Auffassung vertrat, dass die Intelligenz beharrlich Propaganda unter den Massen betreiben müsse, um diese für ihre sozialistischen Ideale zu gewinnen, war Bakunin der Überzeugung, dass in den Massen selbst schon das richtige Bewusstsein vorherrschend sei, so dass der Intelligenz lediglich die Aufgabe zukomme, den revolutionären Funken im Volk zu entfachen. Während ersterer dem kritischen Denken einen hohen Stellenwert beimaß und die Aufgabe der Intellektuellen gerade darin sah, das Volk aufzuklären, sah Bakunin das Ziel darin, das Volk zum Aufstand gegen die zaristische Herrschaft anzustacheln.2

Einfluss nahmen die Ideen von Bakunin und Lawrow auf eine in den frühen siebziger Jahren ihren Höhepunkt erreichende Bewegung, die ‚Gang in das Volk‘ genannt wurde: Etwa 2000 junge Männer und Frauen zogen mit der Absicht, sich der Bauernschaft anzunähern, aufs Land. Sie versuchten die Bäuer:innen mit den sozialistischen Lehren vertraut zu machen, sie unter Verweis auf den Landmangel und die hohen Steuerlasten gegen die Obrigkeit aufzuwiegeln oder ihnen revolutionäre Lieder beizubringen. Die Bewegung erstreckte sich über etwa vierzig Provinzen, insbesondere auf die Wolgaregion und auf Südrussland. Das Unterfangen offenbarte jedoch, dass die Bäuer:innen kaum empfänglich waren für die Parolen der radikalen revolutionären Intelligenz. Zudem wandte die Regierung ihre Aufmerksamkeit den Revolutionär:innen zu und begann mit Repressalien gegen sie vorzugehen. Hunderte Menschen wurden verhaftet, einige Dutzend Revolutionär:innen vor Gericht gestellt. Die Bewegung förderte weder die Entstehung von Bauernunruhen noch konnten nachhaltige Verbindungen zur Landbevölkerung aufgebaut werden. Ein wesentlicher Grund für das Scheitern der Bewegung lag in der Geisteshaltung der Bäuer:innen begründet:

„Aber aus allen Berichten über den Gang in das Volk 1874 geht hervor, dass die Revolutionäre mit erheblichen Hindernissen konfrontiert waren. Unter den Bauern war beispielsweise der Glaube weit verbreitet, dass der Zar sich die Belange des Volkes zu Herzen genommen habe und generell gesprochen wurde Kritik am Zar nicht gebilligt. Es waren Gerüchte im Umlauf, dass der Zar selbst die Aufteilung des Landes, unter Absehung des sozialen Standes, anordnen würde. Die Propagandisten beklagten darüber hinaus, dass der Kopf des Bauern voll von Vorurteilen und Aberglaube sei und dass religiöse Überzeugungen immer noch einen mächtigen Einfluss auf ihn ausübten. Manchmal machten sich die Bauern sogar selbst für ihr Unglück verantwortlich. Sie müssten Mühsal, Beleidigungen und schlechte Behandlung ertragen, weil sie selbst durch und durch Säufer seien und Gott vergessen hätten.“3

Land und Freiheit

Ende 1876 entstand in St. Petersburg eine ebenfalls den Namen Land und Freiheit tragende Organisation, welche auf theoretischer Ebene zwar den Grundprinzipien der Narodniki treu blieb, jedoch durch ihre Praxis dem russischen Sozialismus eine neue Richtung wies. Im ersten Programmentwurf der Organisation wurde erneut bekräftigt, dass das russische Volk von Natur aus sozialistisch sei, dass die Revolution vom Land ausgehen werde und dass eine Entwicklung Russlands hin zu kapitalistischen Verhältnissen verhindert werden könne und müsse. Davon ausgehend beschritt man im Jahr 1878 abermals den Gang in das Volk, wobei man diesmal bestrebt war, dauerhafte Stützpunkte auf dem Land aufzubauen, statt von Dorf zu Dorf umherzuziehen, wie dies beim ersten Gang in das Volk noch der Fall gewesen war. Jedoch trug der Gang in das Volk auch dieses Mal keine Früchte.

In Reaktion auf den repressiven Umgang der zaristischen Behörden mit oppositionellen Bestrebungen begann Land und Freiheit sich im Laufe des Jahres 1878 auf Grundlage von Geheimhaltung, Disziplin und Zentralisierung organisatorisch neu auszurichten. Die Gruppe bestand aus unterschiedlichen Zirkeln, die circa 200 Personen umfassten. Es wurden Regeln aufgestellt, welche die Verpflichtungen der einzelnen Mitglieder und deren Verhältnisse untereinander festlegen sollten. Mitglieder hatten sich den Entscheidungen ihres Zirkels unterzuordnen, darüber hinaus gab es einen ‚Basiszirkel‘, welcher die Aktivität der anderen Zirkel kontrollierte. Der ‚Basiszirkel‘ hatte außerdem die Befugnis, Individuen Aufgaben zuzuweisen, für die sich keine Freiwilligen fanden. Bei Austritt aus der Gruppe sollte man diese zwei Monate im Voraus darüber informieren.

Neben diesen straffen Organisationsprinzipien begannen einige Mitglieder der Organisation ihre revolutionäre Tätigkeit in verstärkten Maße vom Land weg hin in die Stadt zu verlagern. Mitglieder der Organisation begannen zunehmend Propaganda unter den Arbeiter;innenn der Industrieregionen zu betreiben. Darüber hinaus solidarisierte sich die Organisation mit Studentenprotesten, die im Winter 1877-78 ausbrachen. Die Prozesse gegen Revolutionär:innen, die zur selben Zeit stattfanden, beförderten zudem, aufgrund der harten Urteile und der heroischen Verteidigung der Angeklagten vor Gericht, die in gedruckter Form weite Verbreitung fanden, die Popularität der revolutionären Bewegung.

Das taktische Merkmal, das der Entwicklung der nächsten Jahre jedoch am stärksten seinen Stempel aufprägte, wurde im Parteiprogramm ‚Arbeit der Desorganisation’ genannt. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre kam es zu einer Reihe von terroristischen Anschlägen auf Polizeibeamte, Spione und andere Vertreter des staatlichen Repressionsapparats. Der wohl bekannteste dieser Anschläge ist die Attacke Vera Sassulitschs mit einem Revolver auf den Stadthauptmann von St. Petersburg Fjodor Trepow. Dieser hatte zuvor die Wut der Revolutionär:innen auf sich gezogen, weil er einen politischen Gefangenen, der sich weigerte, vor ihm seine Kopfbedeckung abzunehmen, mit einer Prügelstrafe belegt. Obwohl für ein derartiges Vergehen eine Strafe von fünfzehn bis zwanzig Jahren Gefängnis vorgesehen war, wurde Sassulitsch in der Gerichtsverhandlung freigesprochen.

Volkswille

Innerhalb von Land und Freiheit kam es angesichts der wachsenden Bedeutung des Terrors zu Streitigkeiten hinsichtlich der strategischen Ausrichtung der Organisation, die auf dem Kongress in Woronesch zur Spaltung der Organisation führten. Während die ‚Hinterwäldler‘4 um Plechanow sich dafür einsetzten, den Schwerpunkt weiter auf die Propaganda unter der Landbevölkerung zu legen, plädierten die Anhänger:innen der als ‚politisch‘ bezeichneten Linie dafür, die terroristischen Aktivitäten der Gruppe auszuweiten. In der Folge gründete der terroristische Flügel eine neue Organisation mit dem Namen Volkswillen, während die Hinterwäldler sich in der Organisation Schwarze Umverteilung zusammenschlossen. Die Gründer des Volkswillen neigten zunächst dazu, die Aufgaben der neuen Partei weit zu fassen und den Terror lediglich als ein Mittel des politischen Kampfes zu fassen. Ziel der Organisation war es, die Regierung zu demokratischen Reformen zu nötigen, in Folge derer der Kampf für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft offen geführt werden könne. In späteren Stellungnahmen äußerten Mitglieder der Gruppe gar die Hoffnung, dass durch den Terror ein Volksaufstand initiiert werden könne. Im Parteiprogramm trat die Organisation für die Einberufung einer konstituierenden Versammlung, die regionale Selbstverwaltung, die Übergabe des Lands an die Bäuer:innen, weitreichende politische Freiheiten sowie die Übergabe der Fabriken in die Hände der Arbeiter:innen ein, wobei jedoch die letztendliche Entscheidung über die Umgestaltung der Gesellschaft dem Volk überlassen bleiben sollte. Von der früheren Generation der Volkstümler unterschied sich der Volkswille also dadurch, dass bei ihm politischen Forderungen in den Mittelpunkt rückten. Die Anhänger:innen des Volkswillen gingen davon aus, dass die vorrangige Fokussierung auf Propaganda unter den Massen angesichts der repressivem Bedingungen im zaristischen Russland wenig erfolgsversprechend sei.

Trotz des breiten programmatischen Selbstverständnisses der Organisation lag der Schwerpunkt der Organisation seit den Anfängen des Exekutivkomitees auf der Ermordung von Zar Alexander II. So wurden auf der Zugstrecke zwischen der Krim und St. Petersburg drei erfolglose Anschläge auf den Zaren verübt, zudem wurde im Winterpalast eine Bombe gelegt, bei der elf Wächter zu Tode kamen. Die Schlüsselfigur der konspirativen Aktivitäten des Volkswillen war Aleksandr Michajlow, der Untergrunddruckereien und Dynamitwerkstätten aufbaute, für die Finanzierung der Organisation sorgte und Kontakt zu einem revolutionären Agenten in der Polizeibehörde unterhielt. Als Reaktion auf den Terror verschärften die zaristischen Behörden ihrerseits ihre Bemühungen. Die Polizeibehörden wurden reformiert und die Verfolgung von Revolutionären wurde strenger. Zahlreiche Mitglieder des Exekutivkomitees wurden festgenommen.

Am 13. März gelang es einer Gruppe von Revolutionären schließlich, Zar Alexander II. auf offener Straße zu ermorden. Kurz nach dem Attentat wurden die meisten aktiven Mitglieder des Volkswillen verhaftet. Bei dem bald darauf stattfindenden Prozess gegen die am Anschlag beteiligten Revolutionäre wurden alle sechs Angeklagten zum Tode verurteilt. Marx schreibt in einem Brief an seine Tochter Jenny Longuet vom 11. April 1881 ehrerbietig über die am Attentat auf Alexander II. beteiligten Mitglieder der Organisation:

„Hast Du die gerichtlichen Verhandlungen in St. Petersburg gegen die Attentäter verfolgt? Es sind durch und durch tüchtige Leute, sans pose melodramatique, einfach, sachlich, heroisch. Schreien und Tun sind unversöhnliche Gegensätze. Das Petersburger Exekutivkomitee [des Volkswillen], das so energisch handelt, erläßt Manifeste von raffinierter ,Moderation’.“5

In Folge des Attentats kam es von Seiten der Polizeibehörden zu einer Ausweitung der Repression gegenüber den revolutionären Kreisen. Die erhofften Konzessionen seitens der Regierung blieben dagegen aus. Ebenso wenig kam es zu größeren Unruhen, welche den Bestand der zaristischen Herrschaft gefährdet hätten. Im Gegenteil wurde durch die Krönung Zar Alexander III. eine Phase der düsteren Reaktion eingeleitet. Durch das Scheitern seiner Strategie des Terrors und die Verhaftung zahlreicher führender Mitglieder wurde der Volkswille in eine tiefe Krise gestürzt. Während ein Teil der Führungsriege sich stärker jakobinistisch orientierte, also einen politischen Umsturz ohne Beteiligung der verloren gegebenen Massen anvisierte, konzentrierten sich zahlreiche Unterstützer:innen der Organisation auf die Propaganda unter den Industriearbeiter:innen, die zwar schon seit Land und Freiheit ein Betätigungsfeld der Volkstümler darstellte, aber in den programmatischen Erklärungen bis dato keine sonderlich große Rolle einnahm. Die Propaganda unter den Industriearbeiter:innen zeitigte dabei mehr Erfolge als die früheren Versuche die Landbevölkerung für sich zu gewinnen, was in der besonderen Stellung der Arbeiter:innen im gesellschaftlichen System der Arbeitsteilung begründet lag:

„Es war als würde die Ausbeutung in den Fabriken die Perspektive der einfachen Leute erweitern und ihre Widerstandskraft stärken. Ihr Elend gab sich deutlicher als das Produkt menschlicher Gier und einer ungerechten sozialen Ordnung zu erkennen als die Erschwernisse der Bauern auf dem Land, wo beispielsweise Naturkatastrophen für menschliches Leid verantwortlich gemacht werden konnten oder wo der Bauer in jedem Fall glaubte, dass er das Land besäße, das er bestellte.“6

Das frühe sozialdemokratische Zirkelwesen

Einige Mitglieder der Schwarzen Umverteilung, einer Organisation, die im Schatten des Volkswillens stand und keine größeren Erfolge vorweisen konnte, begaben sich nach der Beschlagnahme ihres Parteiorgans ins Exil nach Westeuropa, wo sie im Jahr 1883 die Gruppe Befreiung der Arbeit  gründeten. Der Fokus der Gruppe war dabei insbesondere auf die theoretische Arbeit ausgerichtet: Einerseits wollte man im Rahmen einer Bibliothek des modernen Sozialismus grundlegende marxistische Schriften veröffentlichen, anderseits widmete man sich der Kritik an der volkstümlerischen Tendenz, indem man die russischen Verhältnisse von einem marxistischen Standpunkt aus analysierte. Neben Schriften von Marx und Engels veröffentlichte die Gruppe Beiträge von Georgi Plechanow, ihrem wichtigsten Theoretiker. Plechanow war lange Zeit Anhänger der Narodniki und stark beeinflusst von den Schriften Lawrows. Bereits Ende der siebziger Jahre betrieb er in St. Petersburg Propaganda unter den Industriearbeiter:innen. Die terroristische Strategie des Volkswillen lehnte er ab, da diese seiner Auffassung nach in eine Sackgasse führen würde. Gegen Ende des Jahres 1881 war er dann zu dem Schluss gelangt, dass die Ausbreitung des Kapitalismus in Russland unausweichlich sei, was zu seinem Bruch mit der Tradition der Volkstümler führte. Die Befreiung der Arbeit stand unter anderem in Kontakt mit der in St. Petersburg aktiven Gruppe um Dimitar Blagoew, die sich selbst Partei russischer Sozialdemokraten nannte. Die Blagoew-Gruppe bestand aus radikalen Studierenden, die mehrere Zirkel mit Arbeiter:innen aus der Metall- und der Textilindustrie organisierte und auch über eine Bibliothek verfügte. Die Gruppe sah ihre Hauptaufgabe in der politischen Erziehung der fähigsten Arbeiter:innen, einem Zweck, der nicht nur durch die Bildungszirkel befördert wurde, sondern auch durch die Vervielfältigung sozialistischer Literatur und die Herausgabe einer Zeitschrift namens Der Arbeiter. Neben der Blagoew-Gruppe entstanden in Russland weitere derartige Gruppen wie beispielsweise die um Pavel Tochissky oder Michael Brusnew. Diesen frühen sozialdemokratischen Organisationen war gemein, dass sie sich in ihrer Tätigkeit zumeist auf die Propaganda unter den Arbeiter:innen beschränkten, welche insbesondere in der Form von kleinen Bildungszirkeln betrieben wurde.

Die theoretische Auseinandersetzung mit den Volkstümlern

Aufgrund der großen Popularität der volkstümlerischen Prinzipien innerhalb der sozialistischen Bewegung versuchten die ersten russischen Sozialdemokrat:innen den Volkstümlern ihre Gefolgschaft streitig zu machen, indem sie ihre theoretischen Grundprinzipien einer Kritik unterzogen. Von großer Bedeutung sind hierbei die Schriften Sozialismus und politischer Kampf (1883) und Unsere Meinungsverschiedenheiten (1885) von Plechanow, in denen er sich als einer der ersten Sozialdemokraten kritisch mit den in Russland vorherrschenden volkstümlerischen Prinzipien und Strategien auseinandersetzt. Anhand der Auswertung statistischen Materials aus der Moskauer Region kam Plechanow zu dem Schluss, dass die Dorfgemeinde bereits in sich feindlich gesinnte Gruppen reicher und armer Bäuer:innen zerfallen war. Plechanow vertritt in den genannten Schriften die Auffassung, dass sich die Dorfgemeinde, auf welche die Volkstümler ihre revolutionäre Theorie stützten, in einem Auflösungsprozess befinde. Ein entscheidender Katalysator hierfür war seiner Auffassung nach die Ausbreitung der Geldwirtschaft und die Ausdifferenzierung der Bauernschaft, Prozesse, die durch die Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahr 1863 beschleunigt wurden. Plechanow stützte seine revolutionären Hoffnungen dementsprechend nicht mehr auf die Bauernschaft, sondern sah im Proletariat die revolutionäre Klasse der Zukunft. Würden sich die volkstümlerischen Intellektuellen dies eingestehen, dann würden sie erkennen, dass durch die sozialdemokratische Strategie zahlreiche ihrer Ziele in die Tat umgesetzt werden könnten: Die Entstehung des modernen Industrieproletariats eröffne der Intelligenz die Möglichkeit, ihre lang andauernde Isolation von der Masse des Volkes zu überwinden. Dadurch, dass sich die Industriearbeiter:innen geballt in den großen Städten befanden, könne man diese viel leichter erreichen als die verstreute Landbevölkerung. Über die städtischen Arbeiter:innen könne zudem eine Brücke zu den Bäuer:innen geschlagen werden. Wie für die Angehörigen des Volkswillens war für Plechanow die Erringung demokratischer Freiheiten die Voraussetzung für breite Propaganda unter dem Volk.

Plechanows Analyse des sich in Russland entwickelnden Kapitalismus in den genannten Werken bildete den Auftakt einer Kontroverse zwischen Marxist:innen und Volkstümlern. Zu Beginn der achtziger Jahre trat in Russland eine neue Generation an populistischen Ökonomen um Wasilij Woronzow und Nikolai Danielson in Erscheinung, welche versuchten, die grundlegenden Prämissen des Populismus durch ökonomische Studien zu stützen und Auffassungen wie die Plechanows zu widerlegen. Danielson war in Russland vor allem als Übersetzer des Marxschen Kapitals bekannt. In seinen eigenen Forschungsarbeiten untersuchte er auf Grundlage statistischen Materials die Lage der russischen Landwirtschaft nach den Reformen Alexander II. Wie die Populist:innen vor ihm stützte er sich dabei auf die Dorfgemeinde, die es ermöglichen sollte, den schlimmsten Schrecken der kapitalistischen Ausbeutung zu entgehen, da sie in sich bereits den Keim einer sozialistischen Produktionsweise enthalte. Danielson glaubte, dass das ‚kapitalistische Stadium‘ der Entwicklung in Russland abgekürzt werden könnte, da die späte Entwicklung Russlands es ermöglichen würde, die neueste westliche Industrietechnologie zu übernehmen, ohne die soziale Entwicklung durchlaufen zu müssen, die diese Technologien hervorgebracht hatte. Danielson bezog sich dabei auf die Autorität von Marx und dessen Brief an die Redaktion der Vaterländischen Notizen, an dessen Veröffentlichung im Jahr 1888 er beteiligt gewesen war.

Woronzow wiederum war Fürsprecher einer Ende der achtziger Jahre Auftrieb gewinnenden reformistischen Tendenz innerhalb des Populismus, der sogenannten ‚Theorie der kleinen Taten’. Ihre Befürworter:innen riefen die Jugend dazu auf, als Lehrer, Agronomen und Ärzte in den Zemstvos zu arbeiten, um dem öffentlichen Wohl zu dienen. Sie legten ein Programm zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung vor, indem sie Volkskredite und Versicherungen organisierten, den Erwerb von Land durch die Bäuer:innen erleichterten und verbesserte landwirtschaftliche Geräte verteilten. Die Anhänger:innen der Bewegung predigten eine ‚stille Kulturarbeit‘ und sahen in ‚kleinen Taten‘ eine Möglichkeit, die Lage der Arbeiter:innen zu verbessern. Woronzow war der Auffassung, die er in seinem Werk Das Schicksal des Kapitalismus in Russland darlegte, dass der Kapitalismus in Russland zum Scheitern verurteilt sei. Seine Untersuchung beruhte dabei auf der These, dass sich aufgrund der Disparität zwischen Produktion und Konsumtion in Russland kein angemessener Inlandsmarkt herausbilden könne. Angesichts der niedrigen Löhne der Arbeiter:innen seien diese nicht imstande, die Produkte der Heimindustrie zu kaufen, weshalb das Mehrprodukt nur im Ausland abgesetzt werden könne. Aufgrund der scharfen Konkurrenz um überseeische Märkte habe Russland als ökonomisch rückständiges Land aber keine Möglichkeit dazu. Selbst die Anwendung fortgeschrittener Technologien würde das zugrundeliegende Problem nur verschärfen, indem dadurch die Anzahl der Arbeiter:innen – und damit die Kaufkraft – im Verhältnis zu den angebotenen Gütern reduziert würde. Woronzow bezweifelte also, dass sich in Russland ein Heimatmarkt herausbilden könne. Darüber hinaus verwies er auf spezifische Nachteile Russlands im Vergleich zu den westeuropäischen Ländern – so verfüge das sich über eine gewaltige Fläche erstreckende Russland über kein Transportnetz und durch die klimatischen Bedingungen würde die Produktion zusätzlich über alle Maßen verteuert, was ihre Konkurrenzfähigkeit weiter beeinträchtige. In seinem Buch verweist er zudem darauf, dass die Zahl der in den Großbetrieben beschäftigten Arbeiter:innen tendenziell rückläufig sei. Daraus schloss er, dass der Kapitalismus trotz massiver staatlicher Subventionen aufgrund der Unwirtlichkeit der russischen Bedingungen im Rückgang begriffen sei.

Diese ökonomischen Theorien lieferten den Populist:innen Argumente gegen die ihnen die Vorherrschaft über die sozialistische Bewegung streitig machenden Sozialdemokrat:innen. Aufgrund der geringen Anzahl der Industriearbeiter:innen war es ihrer Auffassung nach verfehlt, die politische Praxis allein auf das Proletariat zu stützen. Die sozialdemokratische Theorie basierte ihrer Ansicht nach zudem auf einer falschen Anwendung Marxscher Theoreme. Russland müsse nämlich nicht denselben Weg einschlagen wie England. Die Beharrlichkeit des Gemeinbesitzes auf dem Land könne die Bauernschaft vor dem Einfall des Kapitalismus bewahren. Ziel müsse es sein, gegen die Politik der Industrialisierung von oben vorzugehen, wie sie von der Obrigkeit betrieben werde. Denn die Leidtragenden dieser Politik seien die Bäuer:innen. Diese mussten, so die Populist:innen, nicht nur überhöhte Ablösesummen für das von ihnen bewirtschaftete Land zahlen, nicht nur einen teuren, parasitären Adel und einen riesigen, privilegierten Beamtenapparat unterhalten, sondern auch die Rechnung für ein Programm der Zwangsindustrialisierung bezahlen, das ihnen keineswegs zugutekam, sondern zu höheren Abgaben und dem Ruin ihrer Handwerksbetriebe führte. Kein Wunder also, dass die Gemeinwirtschaft sich in einer Krise befand; das Wunder war, dass sie überhaupt überlebt hatte. Das Ziel, dass sich Populist:innen wie Woronzow setzten, war erstens Druck auszuüben, um die Regierung auf die Unvernunft ihrer Politik aufmerksam zu machen, und zweitens dem Wohl des Volkes zu dienen, indem man dazu beitrug, den zersetzenden Einfluss dieser verfehlten Politik abzuschwächen und insbesondere die bedrückenden Aspekte des kapitalistischen Fortschritts zu mildern.

Die schlagkräftigste Reaktion auf die Theorien von Woronzow und Danielson von sozialdemokratischer Seite wurde von Wladimir Iljitsch Lenin formuliert, der sich in den ersten Jahren seines publizistischen Schaffens der Auseinandersetzung mit der populistischen Tendenz verschrieb, so in Was sind die Volksfreunde und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten? (1894) und Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland. Die Entstehung des inneren Marktes für die Grossindustrie (1899). Die Entwicklung des Kapitalismus geht auf eine mehrjährige Forschungsarbeit zurück, für die Lenin nicht nur die damals verfügbare ökonomische Literatur, sondern auch die statistischen Daten auswertete, die von den regionalen Regierungsorganen, den Semstwos, erhoben wurden. Lenin wendete in dieser Arbeit die allgemeine Theorie der kapitalistischen Produktionsweise, wie sie Marx im Kapital entfaltete, auf eine konkrete gesellschaftliche Formation an.

Der grundlegende Fehler der populistischen Theoretiker bestand Lenin zufolge darin, dass sie die kapitalistische Produktionsweise nicht als in einen organischen Wachstumsprozess inbegriffen dachten, der in den verschiedenen Stadien seiner Entwicklung unterschiedliche Merkmale aufwies. Sie charakterisierten den Kapitalismus lediglich im Hinblick auf die typischen Widersprüche des fortgeschrittenen Industriekapitalismus. Sie argumentierten, dass, wenn der Arbeiter nicht vom Land entfremdet sei, wenn es wenig Anzeichen für maschinelle Großproduktion und damit eine hohen Grad der Vergesellschaftung der Arbeit gebe, also wenig Anzeichen für ein umfangreiches Proletariat im eigentlichen Sinne, dann könne man nicht behaupten, dass der Kapitalismus die vorherrschende Form der wirtschaftlichen Beziehungen in Russland sei.

Lenins Analyse konfrontierte die Populist:innen auf dem von ihnen selbst gewählten Terrain, indem er aufzeigte, dass die Auflösung der Dorfgemeinde auf dem Lande ein Prozess war, der auch ohne Bezug auf äußerliche Faktoren wie das Eindringen ausländischen Kapitals oder die Förderung der kapitalistischen Produktion durch den Staat erklärt werden konnte. Die Basis für die Entwicklung des Kapitalismus in Russland sah Lenin in der natürlichen Differenzierung der Bauernhaushalte anhand der Familiengröße und der sich daraus ergebenden Größe des Landanteils, die sich mit den Reformen Alexander II. noch verstärkte.

Durch die Reform wurde die Dorfgemeinde von der Obrigkeit bewusst für ihre Zwecke eingespannt. Das von den Grundherren zum Kauf angebotene Land wurde von diesen nicht an die einzelnen Bäuer:innen verkauft, sondern dem Dorf als Ganzes zugeteilt, wodurch die Gemeinde als Zwischenglied fungierte, indem sie das Land an die einzelnen Bäuer:innen weitergab. Dadurch, dass der Dorfgemeinde weitere administrative Funktionen übertragen wurden, wie beispielsweise die Einziehung von Steuern, befanden sich die Bäuer:innen in einem ausgeprägten rechtlichen und monetären Abhängigkeitsverhältnis von der Dorfgemeinde. 

Bäuer:innen, die die Dorfgemeinde verließen, weil sie von der Bewirtung ihres Lands nicht leben konnten und sich daher anderen Betätigungsfeldern zuwandten, mussten häufig weiter Steuern an ihre Gemeinde zahlen, da die Dorfgemeinde sonst die Herausgabe von Pässen verweigern oder die Bäuer:innen bei der Obrigkeit anschwärzen konnte. Einigen wenigen Bäuer:innen gelang es demgegenüber, ihre Viehbestände zu erweitern und zusätzlich zum Gemeinschaftsland private Anbauflächen zu erwerben.

War das Land innerhalb der Gemeinde über lange Zeit hinweg relativ gleich zwischen den ihr zugehörigen Bäuer:innen verteilt, so vertrat Lenin die Auffassung, dass sich durch die Ausbreitung des Kapitalismus in Russland eine Ausdifferenzierung der Eigentumsverhältnisse vollzog: Während ein Teil der Bäuer:innen immer größere Landflächen in seinen Besitz brächte und sich so in eine neue Ausbeuterschicht verwandle, gäbe es auf der anderen Seite Bäuer:innen, die ihres Landes verlustig gehen und sich so in Lohnarbeiter:innen verwandelten.

Die Bauernhaushalte sahen sich nun dazu genötigt, ihre durch die Landreform anfallenden Schulden mit Geld zu tilgen. Das Eindringen von Geldzahlungen in die alte Gemeindewirtschaft hatte enorme Auswirkungen, denn es nötigte die Bäuer:innen zunehmend für den Markt zu produzieren. Darüber hinaus entstanden neuartige Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Bäuer:innen. Ärmere Bäuer:innen waren gezwungen, sich von ihren Nachbar:innen Geld zu leihen und konnten als Gegenleistung nur ihre Arbeitskraft anbieten:

„In der Regel verpflichtete er sich, eine bestimmte Arbeit mit seinen eigenen Geräten und Zugtieren zu verrichten, und zwar oft genau zu dem Zeitpunkt, zu dem diese auf seinem eigenen Land am dringendsten benötigt wurden, das infolgedessen weiter verfiel. Allein die Tatsache, dass er durch eigenen Landbesitz über ein gewisses Maß an Unabhängigkeit verfügte, reduzierte wiederum die Löhne, die der Kulak und der Grundbesitzer zu zahlen hatten, so dass der Lohn für die geleistete Arbeit in der Regel weniger als die Hälfte des Lohn der für "freie" kapitalistische Lohnarbeit anfiel betrug.“7

Dadurch, dass die armen Bäuer:innen ihr eigenes Land vernachlässigen mussten, ergab sich eine zunehmenden Polarisierung der Eigentumsverhältnisse, so dass die reichen Bäuer:innen sich Land dazu kaufen konnten, wohingegen die armen Bäuer:innen sich zunehmend in Lohnarbeiter:innen verwandelten. Mit der zunehmenden Produktion für den Markt traten auch Händler:innen auf den Plan, welche den Bäuer:innen Geld liehen, ihnen ihre Produkte abkauften oder sie sogar mit Rohmaterialien versorgten. Unmerklich führte diese Phase der inneren Entwicklung des Handelskapitals dazu, dass die Aufkäufer:in der Handwerker:in direkt Materialien zur Weiterverarbeitung gegen eine bestimmte Bezahlung aushändigt, wodurch die Grundlagen geschaffen werden für die moderne kapitalistische Produktion.

„Das Handelskapital brachte eindeutig eine Ausdehnung des Marktes und eine zunehmende Vorherrschaft der Warenproduktion mit sich, aber es führte nicht, zumindest nicht in seinen frühen Formen, zu technischen Verbesserungen, zur Vergesellschaftung der Arbeit und nicht einmal zur Entfremdung der Bauernschaft vom Boden. In diesem vergleichsweise frühen Stadium der kapitalistischen Entwicklung befand sich die russische Landwirtschaft in den 1890er Jahren, in der Phase des Übergangs vom Handels- zum Produktionskapital. Mit anderen Worten: Das Kapital begann gerade erst, direkt auf das Produktionssystem angewandt zu werden, anstatt sich nur mit der Aneignung und Vermarktung seiner Produkte zu befassen.“8

Populist:innen wie Woronzow waren der Überzeugung, dass sich der Kapitalismus in Russland nicht ausbreiten könne, da sich der Lebensstandard der Bäuer:innen verringerte und sie so nichts konsumieren könnten. Lenin aber zeigte, dass die Bäuer:innen trotz ihrer Verarmung immer mehr Waren konsumierten, da sie sich von Selbstversorger:innen in Lohnarbeiter:innen verwandelten, die zunehmend auch als Konsument:innen in die Warenwirtschaft eingebunden waren.

Der Übergang von der Propaganda zur Agitation

Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands, der zunehmenden Alphabetisierung und nicht zuletzt der propagandistischen Bemühungen sowohl der volkstümlerischen als auch der sozialdemokratischen Intelligenz trat in den späten achtziger Jahren und frühen neunziger Jahren eine neue Generation von jungen Arbeiter:innen in Erscheinung, die sich durch einen großen Bildungshunger auszeichnete und die sich in den aus dem Boden schießenden Arbeiterzirkeln zusammenschlossen. Angeleitet wurden diese Zirkel zumeist durch dem Feudaladel oder den Mittelklassen zugehörige Studierende, einem Personenkreis also, aus dem sich die revolutionäre Bewegung bis dahin fast ausschließlich rekrutierte. Das Ziel dieser Zirkel war die Selbstbildung sowie die Verbreitung revolutionärer Ideen. Die radikalen Studenten, die sich in den Zirkeln engagierten, suchten die Nähe zu den Arbeiter:innen, den letzteren eröffneten die Zirkel die Möglichkeit, sich Wissen über gesellschaftliche und politische Fragen anzueignen. Ein Mittel, um den Kontakt zu den jungen wissbegierigen Arbeiter:innen herzustellen, waren die in den Arbeitervierteln in dieser Zeit entstehenden Abend- und Sonntagsschulen, die ein Sammelbecken für die revolutionäre Jugend bildeten und an denen radikale Lehrer:innen wie Nadeschda Krupskaja unterrichteten. Zu der Literatur, die man sich in den Zirkeln aneignete, gehörten hauptsächlich sozialistische Werke von Autoren wie Kautsky und Plechanow, aber auch Schriften von heute vergessenen Autor:innen. In manchen Zirkeln wurde dabei ein umfassendes Bildungsprogramm zu Grunde gelegt. Man setzte sich beispielsweise mit Naturwissenschaften oder Kulturgeschichte auseinander, bevor man sich dann der politischen Ökonomie zuwandte. Theoretisch reflektiert wurde die Praxis der Zirkel von Plechanow, der ihre Aufgabe in der gründlichen theoretischen Vorbereitung einer vergleichsweise kleinen Zahl von Arbeiter:innen sah. Er ging davon aus, dass diese kleine Elitetruppe dann in die Arbeiterklasse gehen und neue Arbeiterführer ausbilden würde.

Jedoch war unter den bewussten Arbeiter:innen Anfang der neunziger Jahre eine gewisse Skepsis verbreitet, was die Möglichkeit betraf, Propaganda unter den Arbeiter:innen zu betreiben. Denn die Mitglieder der Zirkel wurden von der Masse der Arbeiter:innen aufgrund ihrer Ansichten gemieden. „Wer sich von Gott und dem Zaren lossagt, was gibt es mit ihm noch zu reden?“, war eine verbreitete Haltung gegenüber den sozialistischen Arbeiter:innen. Darüber hinaus gab es in den ersten Jahren der neunziger Jahre kaum Streiks oder andere Formen des Protests gegen die herrschende Ordnung, so dass sich die Arbeiter:innen in den Zirkeln immer stärker auf die Selbstbildung fokussierten.

Dies schien sich jedoch Mitte der neunziger Jahre zu ändern. Mit dem Streik in der Semjannikow-Fabrik im Winter 1894 wurde eine länger andauernde Streikphase eingeläutet. In der Fabrik wurden Schiffe hergestellt und circa 3000 Arbeiter:innen beschäftigt. Auslöser des Streiks waren ausstehende Lohnzahlungen. Die Fabrikverwaltung hatte den Arbeiter:innen mehrfach den Lohn nicht ausgezahlt, was auch angesichts der anstehenden Weihnachtsfeiertage zu großem Unmut führte. Der Kontor der Fabrik wurde verwüstet, Fenster wurden eingeschlagen und man versuchte, das Haus des Verwalters in Brand zu stecken. Das Hauptgebäude der Fabrik wurde von Hunderten von Kosaken, Gendarmen und Polizisten abgeriegelt, die ihrerseits von mehreren Tausend Arbeiter:innen umringt wurden. In derselben Nacht übergaben die Gendarmen den Arbeiter:innen ihren längst fälligen Lohn. Die in der Fabrik beschäftigen Zirkelarbeiter:innen spielten bei den Unruhen keine besondere Rolle und schienen diesen gegenüber sogar ablehnend eingestellt gewesen zu sein. Nach den Unruhen versuchten die Sozialdemokrat:innen jedoch Einfluss auf die Arbeiter:innen in der Fabrik zu nehmen, indem sie Informationen über die Arbeitsbedingungen sammelten und die Forderungen der Arbeiter:innen  aufgriffen und daraus ein Flugblatt zusammenstellten.

Wenige Zeit später, während der Butterwoche, kam es zu weiteren Massenunruhen, diesmal auf der neuen Admiralität und auf der Galernyj-Insel. Den Arbeiter:innen dort wurde traditionell das Privileg eingeräumt, morgens und nach der Mittagspause eine Viertelstunde später zur Arbeit zu erscheinen. Im Januar 1895 schaffte der Hafenkommandant Werchowskij dieses Privileg ab, was einer Verlängerung des Arbeitstages um eine halbe Stunde gleichkam. Hinzu kam, dass kurz darauf neue Arbeitszeiten eingeführt wurden, die den Arbeitstag weiter ausdehnten: Die Arbeiter:innen sollten morgens eine halbe Stunde früher zur Arbeit erscheinen, die Mittagspause sollte um eine Viertelstunde verkürzt werden. Trotz dieser neuen Bestimmungen kamen einige der Arbeiter:innen zur alten Zeit zur Arbeit. Sie wurden jedoch nicht in die Fabrik hineingelassen und sollten für die Verspätung eine Strafe zahlen. Daraufhin brachen sie das Fabriktor auf und begaben sich in die Werkstätten. Dort wandten sie sich an die anderen Arbeiter:innen und forderten sie auf, ihre Arbeit niederzulegen, was diese auch sofort taten. Die Verwaltung rief die Polizei, die Arbeiter:innen jedoch blieben standhaft. Sie forderten, die Verlängerung der Arbeitszeit rückgängig zu machen, und legten auch am nächsten Tag die Arbeit nieder. Die Fabrik wurde daraufhin bis zum Ende der Butterwoche geschlossen. In der Folgewoche begannen die Arbeiter:innen ihre Arbeit wieder zur üblichen Zeit.9

In Petersburg zirkulierte im selben Zeitraum eine Broschüre, die innerhalb der sozialistischen Kreise hohe Wellen schlug, da sie die bisherige Praxis derselben in Frage stellte: „Uns auf unsere eigene Erfahrung und auf die Zeugnisse, die wir bezüglich anderer Gruppen haben, stützend, sind wir zu dem Schluss gelangt, dass die ersten Schritte der russischen Sozialdemokraten falsch waren und dass die Taktik im Interesse der Sache geändert werden muss,“ heißt es zu Beginn der Broschüre mit dem Titel Über Agitation, die von Arkadi Kremer unter Mitarbeit von Julius Martow verfasst wurde.10 Die Broschüre war das Produkt längerer Diskussionen innerhalb sozialdemokratischer Kreise in Vilnius. Die besser organisierten Arbeiter:innen im jüdischen Ansiedlungsrayon, die unter starkem Einfluss polnischer Sozialist:innen standen, hatten zu diesem Zeitpunkt bereits Erfahrungen mit der Organisation von Streiks gesammelt. Die sozialdemokratische Bewegung in der Peripherie des Reiches war in diesem Sinne deutlich fortgeschrittener als die hauptstädtische Bewegung. Kremer argumentierte in der Broschüre für die Abkehr von der Strategie der Propaganda, wie sie in den Arbeiterzirkeln verfolgt wurde und deren Praxis er abschätzig als bloße Kulturarbeit bezeichnete, die mit der Tätigkeit von Alphabetisierungskomitees vergleichbar sei. Kremer sah den Nachteil des Zirkelwesens darin, dass die Arbeiter:innen sich lediglich mit abstrakten Theorien beschäftigten, utopistische Vorurteile ausbildeten und gleichzeitig eine pessimistische Einstellung entwickelten. Darüber hinaus würden durch die Konzentration auf einige wenige bildungshungrige Arbeiter:innen diese aus ihrem Milieu herausgerissen, wodurch sie sich von ihren Kolleg:innen entfremdeten: „Propaganda hat eine direkt schädliche Seite - sie schwächt die intellektuelle Kraft der Masse. Wenn wir eine sozialistische Arbeiterintelligenz schaffen, die von der Masse entfremdet ist, schaden wir der Entwicklung des Proletariats, wir schaden unserer eigenen Sache.“11 In dieser Entfremdung sah Kremer die Ursache dafür, dass die durch die Zirkel gebildete Arbeiterintelligenz sich letztendlich zu einem Hemmschuh für die Arbeiterbewegung entwickele:

„Das ist der Grund warum die Mehrheit der ‚bewussten’ Arbeiter bei all ihrer Begeisterung für den wissenschaftlichen Sozialismus alle diejenigen Züge tragen, die in ihrer Zeit die utopischen Sozialisten auszeichnete – alle, bis auf einen: die letzten waren überzeugt von der allmächtigen Kraft der Predigt ihres neuen Evangeliums und glaubten, dass es nur von ihren eigenen Bemühungen abhinge, die Volksmassen auf ihre Seite zu ziehen, wohingegen unsere sozialdemokratischen Utopisten nur zu genau wissen, dass die Zurückgebliebenheit der russischen Industrie jeder sozialdemokratischen Bewegung enge Grenzen setzt, und diese Gewissheit raubt ihnen jede Energie in der Sache der Propaganda und zwingt sie ihre Tätigkeit auf den engen Kreis der entwickelteren Zirkel zu beschränken.“12

Kremer war der Überzeugung, dass die Arbeiter:innen durch Bildungsarbeit alleine nie zu einem politischen Selbstbewusstsein als Klasse gelangen könnten. Er war der Auffassung, dass der Bewusstwerdungsprozess mit dem alltäglichen Kampf um kleine Forderungen beginnen müsse. Dieser Kampf, den Kremer als erste Schule der Arbeiter:innen bezeichnet, spiele sich zunächst auf der Ebene der einzelnen oder einiger weniger Fabriken ab. Die Arbeiter:innen lernten in diesen kleinen Auseinandersetzungen, dass es notwendig sei sich zusammenzuschließen, um sich gegen die Fabrikherren durchsetzen zu können. Weiteten sich Streiks dann auf ganze Industriezweige aus oder stellten die Arbeiter:innen Forderungen, welche die Regierung nicht zu erfüllen bereit sei, nähme die Arbeiterbewegung nach und nach eine politische Färbung an:

„Sie schicken eine Delegation zum Fabrikinspektor ( ) überall abgelehnt, mancherorts mit einer Drohung, die bald reale Formen annimmt - werden Truppen zur Hilfe der Fabrikanten geschickt. Die Arbeiter erhalten ihre erste Lektion in Politikwissenschaft, dass das Recht auf der Seite des Stärkeren steht, dass gegen die organisierte Kraft des Kapitals die organisierte Kraft der Arbeit stehen muss. Die Bewegung weitet sich aus, umfasst ganze Industrien statt einzelner Fabriken und stößt mit jedem Schritt mehr auf die Staatsmacht, die Lektionen der politischen Weisheit werden häufiger, und jedes Mal, wenn sich ihre strenge Moral tiefer in die Köpfe der Arbeiter einprägt, entwickelt sich das Klassenbewusstsein, ein Verständnis dafür, dass alles, was das Volk begehrt, nur durch das Volk selbst erreicht werden kann. Der Boden für die politische Agitation wird vorbereitet. Diese Agitation erfasst nun die durch das Leben selbst organisierte Klasse mit einem stark ausgeprägten Klassenegoismus, mit einem Bewusstsein für die Gemeinsamkeit der Interessen aller Arbeiter und deren Gegensatz zu den Interessen aller anderen. Die Veränderung der politischen Ordnung ist dann nur noch eine Frage der Zeit. Ein Funke und das angesammelte brennbare Material wird explodieren.“13

Um die Entwicklung des Klassenbewusstseins zu fördern, schlug Kremer vor, sich vom Zirkelwesen zu verabschieden und sich auf die gezielte Agitation unter den Industriearbeiter:innen anhand konkreter Forderungen zu konzentrieren. Innerhalb des Jahres 1895 einigten sich die Sozialdemokrat:innen Petersburgs unter dem Einfluss der polnischen und jüdischen Sozialdemokratie darauf, die Arbeit der Zirkel neu zu strukturieren und auf die Agitation auszurichten. Man bemühte sich, mit Hilfe der Zirkel Arbeiter:innen verschiedener Fabriken zu vernetzen und anhand der konkreten Arbeitsbedingungen in den Fabriken Arbeiter:innen zu agitieren. Als übergeordnete Struktur für die Koordination der Tätigkeit zahlreicher Arbeiterzirkel entstand im Winter 1895 der sogenannte Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse, dem unter anderem Martov und Lenin angehörten. Im Winter, als sich die Streiks in Petrograd häuften, verschrieb sich die Gruppe ganz der Agitation unter den Arbeiter:innen. Im Sommer 1896 kam es dann zu den sogenannten Sommerstreiks, an denen sich schätzungsweise 30.000 Weber:innen und Spinnereiarbeiter:innen beteiligten. Anlass des Streiks war die Schließung der Textilfabriken anlässlich der Krönung des neuen Zaren Nikolaus II. Die Arbeiter:innen sollten für die beiden Tage, an denen die Fabriken geschlossen blieben, keinen Lohn bekommen. Der erste Streik, der am 23. Mai in der russischen Baumwollspinnerei begann, entzündete sich an der Frage der Entlohnung für diese beiden arbeitsfreien Tage. Am 27. Mai schlossen sich die Arbeiter:innen der Ekateringof-Textilfabrik und der Koenig-Fabrik an. Im Laufe der Streikbewegung stellten die Arbeiter:innen weitere Forderungen auf, unter anderem eine Verkürzung der täglichen Arbeitszeit. Anfang Juni hatten die Streiks zu einer faktischen Belagerung der Hauptstadt geführt. Der Kampfbund spielte dabei eine bedeutende Rolle innerhalb der Streikbewegung, da er durch Flugblätter den Forderungen der Arbeiter:innen Verhör verschaffte und durch die Etablierung von Streikkassen und die Vernetzung zwischen den Arbeiter:innen verschiedener Fabriken zur Koordinierung der Bewegung beitrug. Ende der ersten Juniwoche befanden sich 18 Textilfabriken im Streik. Die Regierung reagierte auf die Streiks mit einer Mischung aus Repression und verbalen Zugeständnissen. Mehr als 1.000 Arbeiter:innen sowie die meisten Angehörigen des Kampfbundes wurden verhaftet und ein großer Teil der Streikenden aus der Stadt verbannt. Trotz dieses herben Rückschlags flammte die Streikbewegung nach einigen Monaten erneut auf. Am 5. Januar wurde dann ein neues Gesetz über die Verkürzung des Arbeitstags in ganz Russland verabschiedet. Die Streiks in den Jahren 1885-87 leiteten dabei eine neue Epoche in der Geschichte der russischen sozialistischen Bewegung ein: Zum ersten Mal gelang es den russischen Sozialist:innen über den Kreis der Intellektuellen hinaus auch Arbeiter:innen in die Bewegung mit einzubeziehen und durch den Druck der Massen die Regierung zu Zugeständnissen zu zwingen. Wie K. M. Tachtarew schreibt, schien sich „St. Petersburg im Kriegszustand zu befinden. Man hätte meinen können, dass auf seinen Straßen eine Revolution stattfindet. Und tatsächlich fand eine Revolution statt, aber nicht auf den Straßen von St. Petersburg, sondern in den Köpfen der Petersburger Arbeiter.“14