Chile: »Plebiszit zur Deaktivierung der Revolte«
In den letzten Jahren hat es auf dem lateinamerikanischen Kontinent ziemlich geknallt. In Ecuador kommt es 2019 nach der Erhöhung der Benzin- und Dieselpreise zu einer Massenrevolte, ganze Stadtzentren werden besetzt, die Regierung verliert über Wochen die Kontrolle. Nach der Erhöhung der Metro-Fahrpreise kommt es nur wenige Wochen später in Chile zum größten Aufstand seit Jahrzehnten. Trotz Einsatz des Militärs und heftiger Repression kommt das Land nicht zum Stillstand. Sogar der wichtige UN-Klimagipfel COP 25 in Santiago de Chile wird wegen der Proteste abgesagt. Erst mit dem Beginn der Corona-Pandemie und der Angst vor dem Virus kann die Situation unter Kontrolle gebracht werden. Wegen steigender Lebensmittelpreise wird auch Kolumbien 2021 von beispiellosen Massenprotesten erfasst. Während sich die Pandemie auf der ganzen Welt ausbreitet, schwappt in Lateinamerika nicht nur die tödliche Seuche über jede Grenze, sondern auch die Proteste stecken sich gegenseitig an. So wird der Kontinent wieder zu einer Hoffnung für viele Linke weltweit.
Man könnte sagen, dass sich hier etwas wiederholt, was bereits zwanzig Jahre zuvor geschehen ist. So haben damals wie heute große soziale Bewegungen und Massenaufstände in Venezuela, Argentinien, Bolivien und Brasilien »linke« Regierungen an die Macht gespült; mit dem neuen »Hoffnungsträger« Lula in Brasilien sogar in der gleichen Person. Dass sich Geschichte immer zwei Mal wiederholt, »das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce« (Marx), scheint sich bemerkenswert am Beispiel der neuen »progressiven« Regierungen in Lateinamerika zu bestätigen. Dennoch erwarten viele Linke in Lateinamerika und auch hierzulande Großes von eben diesen neuen Regierungen; nicht wenige bekamen bei den Amtsantritten von Gabriel Boric (Chile), Gustavo Petro (Kolumbien) und Ignacio Lula da Silva (Brasilien) feuchte Tränen in den Augen. Der Freitag titelte kürzlich zu der Entwicklung in Lateinamerika: »Im Aufbruch: Ein ganzer Kontinent schöpft neue Hoffnung«. Nur kurze Zeit später war Bundeskanzler Scholz mit einer Entourage deutscher Unternehmer auf Shopping-Tour in Südamerika. So werden die offenen Adern Lateinamerikas (Galeano) auch heute weiter ausbluten; gegenwärtig lächzt das deutsche Kapital vor allem nach den riesigen Lithium-Vorkommen, um die deutschen Autobahnen mit Elektroautos am Leben zu halten.
Neben der Hoffnung, die viele mit den neuen »linken« Regierungen in Lateinamerika verbinden, rückte vor wenigen Monaten die Abstimmung über den Entwurf zu einer neuen Verfassung in Chile in den Fokus. Von linksradikal bis linksliberal wurde der Entwurf als die »fortschrittlichste Verfassung« der Welt hochgejazzt und ein neuer Aufbruch emanzipatorischer Politik in dem Land erwartet, wo einst der Diktator Pinochet mit der Hilfe der Chicago Boys neoliberale Wirtschaftsreformen einläutete und fast alle Sektoren – Bildung, Rentensystem, Gesundheitssektor und Wasservorkommen im ganzen Land – privatisierte. Doch die Abstimmung über den Verfassungsentwurf scheiterte krachend. Entsprechen groß war die Katerstimmung bei den Unterstützer:innen. Der Grund war bald ausgemacht und wird vor allem in der von fake news gestützten Kampagne von reaktionären und rechtskonservativen Kreisen im Land gesehen.
In dem folgenden Interview mit den Genoss:innen aus Santiago de Chile vom Kollektiv Vamos Hacia La Vida sprachen wir über die Revolte von 2019, die neuen Linksregierungen in Lateinamerika und das Scheitern der Abstimmung über den neuen Verfassungsentwurf. In der Kampagne sehen sie vor allem eine Regierungsstrategie zur »Deaktivierung der Revolte«, welcher zum Höhepunkt des Aufstandes erfolgreich einen Keil in die Bewegung getrieben hat. Sie haben sich auch schon vor der Abstimmung sowohl kritisch zu der neuen Regierung unter Gabriel Boric als auch dem Entwurf der neuen chilenischen Verfassung geäußert. Sie schauen auf die Situation in Chile mit einer sozialrevolutionären Perspektive und haben eine politische Position jenseits von Parteipolitik und Gewerkschaftsbürokratie.
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Die Niederlage bei der Abstimmung zur neuen Verfassung war ziemlich klar. Und das obwohl ja tatsächlich viele wichtige Forderungen der Massenproteste von 2019 aufgenommen wurden: unter anderem das Recht auf Abtreibung, De-Privatisierung der Wasservorkommen, Stärkung der Rechte von Minderheiten etc. Warum wurde der Entwurf für die neue Verfassung so klar abgelehnt? War, wie von vielen Linken behauptet, daran primär die mediale Desinformationskampagne der Konservativen Schuld oder gab es auch tiefer liegende inhaltliche Gründe den Entwurf abzulehnen?
Um die Wahlniederlage vom »Apruebo« zu verstehen, müssen mehrere Elemente berücksichtigt werden, und es ist nicht so einfach zu sagen, wie sie zusammenwirken. Aber als erstes müssen der Inhalt und die tatsächliche Tragweite des am 4. September abgelehnten Verfassungsentwurfs geklärt werden. Obwohl er als der fortschrittlichste Verfassungstext der Welt bezeichnet wurde, sogar in ihrer eigenen Logik, bekräftigte er in mehreren Aspekten nicht nur die kapitalistische Logik selbst, die keine Magna Carta jemals in Frage stellen kann, sondern auch den ausgeprägten neoliberalen Charakter der chilenischen Wirtschaft und Gesellschaft. In Bezug auf den Abbau der natürlichen Ressourcen beispielsweise war der Entwurf nicht weit von den Forderungen der Unternehmerschaft entfernt. Was den Kupferbergbau angeht, den wichtigsten Wirtschaftszweig des Landes, wurde in den Verfassungsvorschlag im Wesentlichen das übernommen, was der Bergbaurat, in dem die größten Bergbauunternehmen des Landes vertreten sind, gefordert hat. Und was die vielen emanzipatorischen Momente in dem Vorschlag betrifft, so können wir das Scheitern damit erklären, dass hier ein bunter Forderungskatalog in aufgeblasener Akademikersprache präsentiert wurde, dessen Vorstellungen viel weniger ehrgeizig waren als das, was in den ersten Tagen des Aufstands auf der Straße entworfen wurde.
Der erste Teil eurer Frage geht also von einer Annahme aus, die so nicht stimmt. Eine Analyse des Inhalts des Entwurfs zeigt, dass er weit entfernt von den Ansprüchen selbst gemäßigter linker Kreise war. Während des gesamten Prozesses gab es Kontroversen über die endgültige Form verschiedener Artikel des Textes, die im Allgemeinen für die Interessen der Kapitalistenklasse ungefährlich waren, und auch über die Mechanismen der Vertretung der politischen Lager im Verfassungskonvent, der schließlich die Macht dem rechten Flügel und den Parteien der früheren Concertación-Regierungen (Mitte-links-Bündnis div. Parteien) gab, trotz ihrer vernichtenden Niederlage bei den verfassungsgebenden Wahlen.
Nun liegt der Triumph der Ablehnung natürlich nicht darin, dass die Mehrheit der Bevölkerung diese Wertschätzung des Textes teilt. Tatsächlich haben nur sehr wenige Menschen, selbst Anhänger von »Apruebo«, den Entwurf gelesen, obwohl die Regierung selbst Hunderttausende Kopien zur Verteilung gedruckt hat (wobei Hunderte Millionen Pesos an die Druckerei »El Mercurio«, den Tempel der rechten Presse, gezahlt wurden).
Dies stellt in Teilen den Kontext dar, in dem auch die anderen Faktoren ins Spiel gekommen sind, die die Niederlage der reformistischen Bestrebungen verursacht haben.
Es besteht kein Zweifel daran, dass sich die gesellschaftlichen Kontexte auf nationaler und internationaler Ebene zwischen den Ereignissen des ersten Plebiszits (2020) und dem jüngsten am 4. September 2022 stark unterscheiden. In diesen Monaten waren die Auswirkungen der allgemeinen Krise des Kapitals in der Region stark zu spüren, mit einer sehr hohen Inflation und einem fast unerträglichen Anstieg der Lebenshaltungskosten. In diesem Sinne schien die vorgeschlagene neue Verfassung in einem Klima allgemeiner Unsicherheit die Instabilität zu erhöhen. Angesichts der Krise war die Stimmung, konservativ zu wählen, weit verbreitet. Das hängt mit der Wahrnehmung der allgemeinen Situation und der Regierung selbst zusammen. Nach einer anfänglichen Ablehnung der traditionellen Politik bei den letzten Wahlen schien diese sowohl innerhalb des Verfassungskonvents als auch in der Regierung und im Kongress wieder die Oberhand zu gewinnen, wodurch die Begeisterung und Unterstützung für progressive Vorschläge zurückging. Hinzu kam, dass die Stimmabgabe unter Androhung einer Geldstrafe obligatorisch war. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Regierung selbst in den vergangenen Monaten die Bedeutung des Plebiszits heruntergespielt hat, indem sie erklärte, dass, unabhängig vom Ergebnis, der Kongress dem Entwurf seine endgültige Fassung geben sollte: »Ich garantiere, dass diese Vereinbarung [der Regierungsparteien zur Reform des Textes] im Falle der Zustimmung, dass die wichtigen darin enthaltenden Verbesserungen für die Bevölkerung sowie die Beseitigung der sozialen Ungleichheit in der Bevölkerung umgesetzt werden« (Boric). Es war auch Teil der kollektiven Intuition, dass der Vorschlag in vielerlei Hinsicht unhaltbar war, da er abstrakte Rechte versprach und gleichzeitig wirtschaftliche Aktivitäten sicherstellte, die deren Erfüllung verhinderten. Außerdem wäre die Umsetzung langsam und teuer, was wiederum von einem großen Teil der Bevölkerung als negativ empfunden wurde, und dies waren sicherlich Elemente, die vom rechten Flügel und seiner Ablehnungskampagne genutzt wurden.
Es ist auch ein Votum der Missbilligung der ersten Regierungsmonate, in denen unter dem Vorwand der Haushaltsverantwortung eine noch berüchtigtere Sparpolitik betrieben wurde, als unter der (rechten) Vorgängerregierung Piñera.
Abschließend möchten wir klarstellen, dass das Ergebnis des Plebiszits für uns keinen allgemeinen Trend zur Rechten in der Bevölkerung bedeutet, wie ein breites linkes Spektrum behauptete, das in den Tagen nach dem Plebiszit gegen die »ignorante Bevölkerung« wetterte. Es manifestiert sich hier vielmehr eine Stimmung, die durch die Aktivität der Linken in der Regierung und ihrer »kritischen Unterstützer« in einem spezifischen sozialen Kontext der globalen Krise angeheizt wurde. In jedem Fall wurde die Niederlage von »Apruebo« nicht als großer Sieg des Volkes empfunden. Es gab keine Massenveranstaltungen in den Stadtzentren und schon gar nicht in den Randgebieten. Die offen reaktionären und rechten Lager bewerteten den Sieg als Erfolg, aber selbst in ihren Reihen waren viele vorsichtig, wenn es darum ging, alle Stimmen der siegreichen Option im Plebiszit für sich zu beanspruchen.
Die Diskussion über eine neue Verfassung begann unmittelbar nach (oder während) der Revolte von 2019 und fand im ganzen Land immer auf lokaler Ebene statt, in den sogenannten cabildos [Gemeinderäten]. Hier wurde Repräsentanten offizieller Parteien zumeist wenig Vertrauen geschenkt. Außerdem war die Erstellung einer neuen Verfassung das politische Ziel eines Großteils der chilenischen Gesellschaft oder der sozialen Bewegungen seit dem Ende der Ära Pinochet. Warum bezeichnet ihr die Abstimmung dennoch als »Show« und als »politische Farce«? In welchem Verhältnis standen die Basisinitiativen zum letztendlichen Prozess der Ausarbeitung der Verfassung?
Man muss betonen, dass die Forderung nach einer neuen Verfassung weder seit dem Beginn der Revolte vorhanden noch das Motiv für deren Ausbruch war. Es stimmt, dass sie sich früh als eine wichtige Forderung manifestiert hat, aber nicht in den ersten Tagen. Sie wurde vielmehr von außen, durch politische Organisationen und die Gewerkschaftsbürokratie, die nicht direkt in den diversen frühen Ausprägungen der Revolte involviert waren, in Stellung gebracht. Vor allem von verschiedenen Gewerkschaftsbürokratien, die hauptsächlich mit der Kommunistischen Partei (Partido Comunista) verbunden sind und sich in einem amorphen und flüchtigen Gremium namens Soziale Einheit zusammengeschlossen und versucht haben, die enorm breit gefächerten Energien der ersten Wochen auf die Forderung nach einer neuen Verfassung zu lenken. Man muss auch zwischen den sogenannten »cabildos« und den wirklichen Asambleas Territoriales (oder Asambleas Populares, Volksversammlungen, wie sie in einigen Bezirken von Santiago heißen) unterscheiden. Zu Beginn waren diese Namen der auftauchenden Organe zur Koordination von Versammlungen ein wenig konfus, aber die so genannten cabildos wurden schnell auf institutionelle Einrichtungen beschränkt, insbesondere auf die Gemeinden, die sich im ganzen Land zusammenschlossen und sich dann sogar feierten ihre eigenen Wahlen abzuhalten. Die cabildos, die sehr in der Minderheit waren, bestanden fast ausschließlich aus der Forderung nach einem verfassungsgebenden Prozess. Bei den Asambleas Territoriales verlief der Prozess ganz anders, sie fungierten als Versammlungsräume für die Organisation von Aktivitäten in den Vierteln, für Debatten über den Kontext, die Vorbereitung von Demonstrationen, die Reaktion auf die konkreten Bedürfnisse der Gebiete usw. Es ist auch nicht so, dass eine neue Verfassung eine historische und massive Forderung in der chilenischen Gesellschaft gewesen wäre. Es war immer ein Slogan der eher institutionellen Linken und bestimmter Bürgerinitiativen, des Reformismus eben, aber nicht unbedingt eines großen Teils der radikaleren Linken oder des anarchistischen Milieus. Und diese Forderung war auch nicht in der Mehrheit der Bevölkerung integriert. Die Niederlage des »Apruebo« bestätigt das auch.
Der Prozess war keine »Farce« oder ein »Spektakel«, nur weil er unzureichend war oder weil er aus dem hinter verschlossenen Türen ausgehandelten »Abkommen für den sozialen Frieden« (Acuerdo por la Paz Social) hervorging, sondern weil er als der beste Weg zur Deaktivierung der Revolte dargestellt wurde. Die Bemühungen des Progressivismus, die aufständischen Massen zum Nachgeben zu bewegen, waren berüchtigt. Es wurden grauenhafte Hymnen komponierten (wie die Beleidigung von Victor Jaras »El derecho de vivir en paz«) sowie Videos für Soziale Medien produziert, es wurde sich in Versammlungsräume reingeschmuggelt usw.
Es ist auch offensichtlich, dass die Forderung nach einer neuen Verfassung mehr den traditionellen politischen Parteien im Kontext einer politischen Krise eigen ist als eine spontane Forderung der Bevölkerung generell.
Es ist notwendig die Mythologie, die die kapitalistische Linke über die Revolte konstruiert, zu dekonstruieren. Ihrer Meinung nach sei sie ein generell friedlicher Ausbruch der unzufriedenen Mittelschicht, der durch gewaltvolle Handlungen (wie hauptsächlich Plünderungen) der Ultralinken, des Lumpenproletariats und von Banden von Drogenhändlern gestört wurde. Der logische Weg war dann, dass der Verfassungsprozess angeblich wegen der fake news der Rechten oder einer breiten politischen Unreife verloren wurde.
Macht ihr es euch nicht etwas zu einfach? Also bei der absoluten Maximalforderung, Revolte und soziale Revolution zu bleiben (was uns erstmal sehr sympathisch ist). Man könnte ja auch sagen, durch eine neue Verfassung würde sich die Situation der Lohnabhängigen an einigen Stellen verbessern, wenn auch unter bürgerlichem Recht und bürgerlichen Bedingungen. Eine neue Verfassung bzw. ein Ende des chilenischen Neoliberalismus schien doch das Zentrum der Bewegung gewesen zu sein. Daher nochmal etwas anders gefragt: Bezieht sich eure Kritik auf den bestimmten Prozess der Verfassungsgebung oder auf das Ziel einer neuen Verfassung selbst? Welche Mehrheiten und Möglichkeiten gab und gibt es für eine revolutionäre Politik, hat die revolutionäre Linke gar Chancen verpasst, sich während der Revolte stärker aufzustellen und in den Prozess einzubringen? Wie habt ihr euch als Sozialrevolutionäre in den Prozess nach der Revolte eingebracht?
Ein Gemeinplatz zur Rechtfertigung des reformistischen Weges ist der Vorwurf des Maximalismus, wann immer sich die Möglichkeit eines revolutionären Bruchs ergibt. Wie wir weiter oben argumentiert haben, hätte das Projekt einer neuen Verfassung in keinster Weise eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Lohnabhängigen garantiert, weder unmittelbar noch auf lange Sicht. Dies bedeutet nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Vorschlag auf genau diese Art verstanden hat, aber sie hat es auch nicht geschafft, darin eine konkrete Lösung zu sehen. Verschiedene historische Vorbilder der sozialistischen Bewegung (von ihren unschlüssigsten bis zu den radikalsten Varianten) haben schon vor mehr als einem Jahrhundert einige entscheidende Lektionen über diese Prozesse gelernt, insbesondere im Zusammenhang mit der revolutionären Welle von 1848. Hierbei wird die Nichtigkeit des Strebens nach der Ausarbeitung einer neuen Verfassung deutlich, wenn die »realen Mächte, die das Land regieren“ nicht auch verjagt werden. 1 In diesem Rahmen nährt sich unsere Kritik am chilenischen verfassungsgebenden Prozess von Diskussionen und Erfahrungen aus verschiedenen Ebenen.
Man muss mit Deutlichkeit auf den Ursprung dieses Prozesses hinweisen, welcher in einem Pakt der chilenischen politischen Elite hinter verschlossenen Türen zu suchen ist. Mit dem expliziten Ziel, »das Feuer« der Revolte »zu löschen«. Da seine Ausarbeitung in der Verantwortung der offiziellen Parteien liegt, war seine Tragweite von Beginn an begrenzt und deren Interessen untergeordnet.
Unsere Kritik an dem Prozess (für eine neue Verfassung) zielt zum einen auf die historische und grundlegende Rolle der Staatsmaschinerie, zum anderen ausdrücklich auf den reaktionären Charakter des Verfahrens in Chile und seiner praktischen Unmöglichkeit, bedeutsame, oder selbst kleinere, Verbesserungen der Lebensbedingungen unserer Klasse zu bieten.
Zusammengefasst ist unsere Argumentation folgende: Uns interessiert es nicht, fertige Ideen zu propagieren, unter die die Massen und ihre Kampferfahrungen sich fügen müssen. Unser Standpunkt ist zu versuchen, die realen Verbesserungsmöglichkeiten unserer Lebensbedingungen auszumachen. Der gesetzestreue Weg verlangt die Integration, oder zumindest die Domestizierung in irgendeinem Grad, was automatisch die relative Autonomie der Rückforderungskämpfe zerstört, die wiederum die Garantie dafür ist, besagte Forderungen durchzusetzen. Begibt man sich mit dem Streben danach, reale Ziele zu erreichen, auf das Gebiet bürgerlicher Legalität, wird die einzige Machtquelle, die dem Staat und dem Unternehmertum unmittelbare Verbesserungen entreißen kann, unterminiert. Das ist keine pure Abstraktion. Die vergangenen drei Jahre haben unzählige Beispiele dieser Dynamik geliefert. Als erstes wurden die Asambleas Territoreales, die sich in Organe zu verwandeln begannen, durch welche die sozialen Aktivitäten in den Bezirken organisiert wurden (Räume für Versammlungen, Gespräche, Aufstellen von Forderungen und Kämpfe, Vermittlung unterschiedlicher Kampfformen, Solidarität gegen die Repression usw.), von innen heraus zerschlagen, sowohl durch die Auferlegung von Gesetzesdebatten als auch durch das wachsende gegenseitige Misstrauen, das vor allem deswegen entstand, weil im Hinterzimmer Kandidaturen für die Wahlen angeboten wurden. Die Asambleas Territoreales wurden so zu Propagandaorganen für die Wahlen degradiert. Eine der radikalsten und tiefgreifendsten Ausdrucksformen, die während der Revolte entstanden waren, löste sich auf und zerbröckelte, um sich der Wahlagenda zu widmen. Trotzdem war zum ersten Mal für die Wahlen der Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung die Bildung von Wahlgruppen außerhalb der offiziell eingeschriebenen Parteien erlaubt. In den besagten Wahlen waren die Ergebnisse auch etwas überraschend. Die Rechtsparteien und die Parteien der ehemaligen Concertación (Mitte-links-Bündnis div. Parteien) verzeichneten eine schallende Wahlniederlage, wohingegen die schon fast vergessene Lista del Pueblo, die sich vor allem aus Personen zusammensetzte, die sich an Demonstrationen beteiligten und denen Parteipolitik fremd war, sowie andere Wahlgruppen aus den sogenannten »sozialen Bewegungen« einen hohen Stimmenanteil verbuchen konnten. Die Lista del Pueblo gab nach ihrem Triumph bekannt, dass sie sich nicht zum Verhandeln hinsetzen würde bis es eine wirkliche Lösung in Bezug auf die politische Gefangenschaft gäbe. Diese Forderung zerschlug sich absolut im Nichts. Im Zuge nationaler Skandale wie dem von Rodrigo Rojas Vade, der seine Wahlkampagne damit begründete, krebskrank zu sein, was sich als Lüge herausstellte, und mafiöser Konflikte innerhalb der Liste zerfiel die Lista del Pueblo schnell.
Obwohl sich die Delegitimierung der traditionellen Politik selbst in Wahlveranstaltungen mit einer historischen Wahlbeteiligung widerspiegelte, wurde das Image der Convención Constitucional (Verfassungsgebende Versammlung) und der linken Gruppierungen durch die Unfähigkeit, Vertrauen in einen wirklichen Wandel zu schaffen, zunehmend beeinträchtigt. Gleichzeitig spielten sie eine führende Rolle bei der Demobilisierung der Straßen (es bestand keine Notwendigkeit, den verfassungsgebenden Prozess zu beschmutzen oder »den Rechten in die Hände zu spielen«) sowie bei der Zerstörung der autonomen Klassenorgane, indem sie jede Diskussion abwürgten, die sich der Wahlagenda oder der Verfassungsdebatte entzog. In diesem Sinne war die Fabrikation der Wahlniederlage auf diesem Weg im Gange.
Im Allgemeinen unterlag die Linke, sogar die, die sich als revolutionär versteht, und auch ein großer Teil der Anarchisten bereitwillig dem demokratischen Betrug, der sich auch ganz transparent als das entpuppte, was er wirklich war. In diesem Sinne synthetisierte und erklärte die »Linke des Kapitals« ihre historische Rolle als Agent der Erhaltung der kapitalistischen Verhältnisse. Darin hat sich auch unter vielen Genoss:inneneine große theoretische Flachheit und Unfähigkeit gezeigt. Was angesichts der Frage nach den Möglichkeiten einer revolutionären Vertiefung der Bewegung in jenem Moment und noch heute diskutiert wird, ist das eigentliche Revolutionskonzept im aktuellen Kontext, welches nicht dasselbe wie vor einem Jahrhundert sein kann. Wir denken nicht, dass sich in ein paar Monaten der Kapitalismus endgültig zerschlagen und sich ein sozialistisches Idyll errichtet hätte, wenn es keinen »Verrat« oder »Betrug« von Seiten des politischen Establishments gegeben hätte. Wir behaupten aber, dass die Perspektiven der radikalen Kritik am Kapital sich bemühen müssen, die realen Funktionen bestimmter Institutionen und Prozesse sichtbar zu machen. Und wir wollen betonen, dass es durchaus möglich war aufkommende autonome Netzwerke von Kampferfahrungen zu stärken, konkrete Verbesserungen in vielen Bereichen zu erreichen (mehrere, wenn auch nicht alle, der spezifischeren Forderungen waren im Rahmen der Verfassung der 1980er Jahre möglich), die Regierung zu stürzen und die Legitimität des Kongresses weiter zu untergraben. Die radikalen Gruppen, die zu Beginn der Revolte viele ihrer Ideen in einer Fülle von Slogans, Gesängen und Aktionen auf Tausenden von Mauern, Transparenten und Versammlungsorten zum Ausdruck brachten, die eine bewusste und allgemeine Ablehnung der kapitalistischen Normalität zum Ausdruck brachten, waren aus Gründen, die noch zu diskutieren sein werden, ebenfalls nicht in der Lage, dazu beizutragen, diesen Geist aufrechtzuerhalten und den Verlauf des demokratischen institutionellen Weges zu verhindern, abgesehen von der Klarheit der Warnungen.
Um über unsere Beteiligung zu sprechen, müssen wir erklären, dass wir, die als Vamos Hacia la Vida gehandelt haben, ein kleiner Kern von Genoss:innen sind, die in verschiedenen Städten und Orten Chiles leben. Aber wir waren an den gleichen Orten, an denen tausende andere Compañer@s ihre Energie gesteckt haben. Wir waren auf den Demonstrationen, haben uns der polizeilich-militärischen Unterdrückung widersetzt, an diversen Asambleas Territoriales teilgenommen und versucht, Propaganda zu machen sowie Begegnungs- und Diskussionsräume über die normalen Kanäle hinaus zu schaffen. Wir haben Pamphlete, Plakate und Berichte gedruckt. Wir haben uns auch in Versorgungsnetzwerken, Gruppen zur Unterstützung von politischen Gefangenen der Revolte, beteiligt. Worin wir zu einem bestimmten Zeitpunkt vielleicht am erfolgreichsten waren, war die Diskussion im radikalen Milieu voranzutreiben.
Die Revolte eröffnete einen Zyklus von Kämpfen, der heute mit einer konterrevolutionären Welle konfrontiert ist, der aber noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Schon gar nicht im Kontext einer verallgemeinerten globalen Krise, zu deren Ausdrucksformen gerade die imposante chilenische Sozialrevolte gehörte.
In Deutschland (und Europa) haben viele Linke hoffnungsvoll die Wahl der neuen Verfassung verfolgt und diese schon vor der Abstimmung als die »fortschrittlichste« der Welt gelobt. Als einige Monate zuvor der ehemalige Studentenanführer Boric an die Macht kam, waren die Reaktionen ähnlich: Die neue Regierung wurde als »feministisch« und als großer Hoffnungsschimmer der Linken in Lateinamerika gefeiert. Wie bewertet ihr die ersten Monate von Borics Regierung?
Zuerst muss darauf hingewiesen werden, dass Boric immer die Rolle des Feuerwehrmannes innehatte. Er hat bereits als »Studentenführer« die radikaleren Strömungen innerhalb der Studentenbewegung, der er selbst angehörte, eingedämmt. Und heute an der Spitze des Staates erfüllt er eine ähnliche Aufgabe: Es hat nicht lange gedauert bis die Regierung Boric eine brutale Kontinuität zur vorherigen Regierung an den Tag gelegt hat, sowohl bezüglich der Repression als auch bei der Umsetzung einer Politik, die eine kapitalistische Umstrukturierung auf Kosten unserer ohnehin schon prekären Lebensbedingungen begünstigt. Es konnte auch nicht anders kommen, denn man darf nicht vergessen, dass Boric ein zentraler Akteur bei der Umsetzung des konterrevolutionären »Abkommens für den sozialen Frieden und für eine neue Verfassung« war, das am 15. November 2019 unterzeichnet wurde. Damit sollte der Aufstand in institutionelle Bahnen gelenkt und ein Prozess der kapitalistischen Erneuerung eingeleitet werden, dessen Mittelpunkt die neue Verfassung war und dessen Konsequenzen wir heute mit aller Härte erleiden.
Keines seiner Wahlversprechen, von denen viele Reformen strukturellen Charakters waren, wurde bis jetzt umgesetzt und es gibt auch kein Anzeichen dafür, dass dies in naher Zukunft geschehen wird. Zumal seine Koalition alles darauf gesetzt hatte, nach dem von ihr erwarteten positiven Ausgang des Referendums »die großen Veränderungen, die Chile braucht«, zu verwirklichen. Wie wir bereits wissen, ist das nicht nur nicht passiert, sondern auf ganzer Linie gescheitert. Das hat Spannungen innerhalb der Regierung erzeugt, vor allem mit der »kommunistischen« Partei (PC), aber auch große Enttäuschung und Lähmung in der Linken verursacht, die die Regierung »kritisch« unterstützt hat und in einigen sozialen Bewegungen präsent ist.
Konkret hat die Regierung am Vorabend des dritten Jahrestages des Aufstandes über die Regierungssprecherin Camila Vallejo bekannt gegeben, dass der Gesetzesentwurf über eine Amnestie für die politischen Gefangenen der Rebellion von 2019, von denen viele schon zu extrem langen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, »vorerst« nicht mehr als »äußerst dringlich« eingestuft wird. Repressive Maßnahmen wie das »Antiplünderungs- und Antibarrikaden-Gesetz« (Gesetz 21.208) wurden nicht aufgehoben und das Gesetz für Staatssicherheit wird weiterhin selektiv angewendet, wie im Fall von Héctor Llaitul, dem Sprecher der Coordinadora de Comunidades en Conflicto Arauco Malleco (CAM), der sich in Präventivhaft befindet. Der ununterbrochen andauernde Ausnahmezustand in der sogenannten »macrozona sur« und das in strategischen Gebieten stationierte Militär, bedeuten die direkte Kriminalisierung der autonomen Mapuche-Bewegung, die wie ein Feind im Innern behandelt wird, sich aber nicht einschüchtern lässt und weiterhin direkt gegen den Staat kämpft.
Darüber hinaus steht der Diskurs vom »harten Durchgreifen« gegen Kriminalität und »illegale« Migration dem der reaktionärsten Ultrarechten in nichts nach. »Regularisierung oder Ausreise« war Borics Ultimatum an die Geflüchteten, die sich irregulär in Chile befinden. Dazu kommt das Ausheben tiefer Gräben (zanjas) an der Grenze zu Bolivien, um »die Migrationskrise einzudämmen«. Genau das also, was Kast (José Antonio Kast, Gründer der rechtsextremen Republikanischen Partei) im Zuge seiner Wahlkampagne vorgeschlagen hat und was damals von der Linken kritisiert und lächerlich gemacht wurde, die ihm den Spitznamen »El zanjas« gab. »Straftaten werden wir gnadenlos verfolgen«, verkündete Boric, während die Regierung schon damit begonnen hat, die Umsetzung »mexikanischer Strategien« – mit allem, was das impliziert – zu prüfen, um die zunehmende Kriminalität zu bekämpfen. Zu alldem kommt noch die lächerliche Reform der Polizei, die sich auf das Herabsetzen der Einstellungsvoraussetzungen beschränkt: Von jetzt an können Menschen mit kleinerer Statur, Tätowierungen, Plattfüßen oder Karies Bullen werden. Die Polizei wurde von der Regierung bedingungslos unterstützt, so dass Hunderte Fälle von Polizeigewalt im Zusammenhang mit dem Aufstand, einschließlich Folter, sexuellem Missbrauch und Mord, komplett unbestraft geblieben sind. Diese staatliche Politik drückt sich konkret in den über 74 Anklagen aus, die das Innenministerium in diesem Jahr hauptsächlich gegen Schüler:innen eingereicht hat. Die haben nicht aufgehört, auf den Straßen und in den Schulen zu kämpfen; und das trotz der Versuche seitens der Jugendorganisationen der Parteien, die Mobilisierungen zu bremsen, und trotz der Repression durch die Polizeikräfte von Control y Orden Público (COP).
Dazu kommt zum einen die prinzipielle Zustimmung zum Transpazifischen Handelsabkommen (TPP11), das von verschiedenen sozialen Organisationen abgelehnt wird – und das Boric selbst vor einigen Jahren abgelehnt hat – da es, neben anderen verheerenden Auswirkungen, das zerstörerische Modell des Extraktivismus ausbaut, die Nutzung von Saatgut privatisiert und die Arbeitsgesetzgebung außer Kraft setzt. Zum anderen ist der kürzlich vorgelegte Gesetzesentwurf einer »Rentenreform« zu erwähnen, der in keinster Weise die Grundlagen des kollabierten Rentensystems hinterfragt, das auf durch die AFPs 2 basiert. Das private Rentensystem zahlt Hungerrenten aus und durch die Beitragszahlungen der Arbeiter:innen werden auch noch große Unternehmensgruppen finanziert. Es ähnelt nicht einmal ansatzweise einem „Sozialversicherungssystem“, wie es in den westlichen Ländern besteht. Das sind nur zwei weitere Beispiele der Linie, die die Regierung Boric verfolgt.
In Kolumbien steht mit dem »Pacto Histórico« eine neue Linksregierung an der Macht. Lula ist mit der Arbeiterpartei wieder Präsident in Brasilien und auch in Chile steht mit Boric eine »linke« Regierung an der Spitze des Landes. Sowohl in Lateinamerika als auch in Europa haben viele die Hoffnung, dass die neuen linken Regierungen viel zum Besseren der ärmeren Bevölkerungsschichten verändern werden. Wie seht ihr diese Entwicklung?
In der Realität – mit Ausnahme des linken Milieus, das sich immer für den Weg der Wahlen entschieden hat – können wir weder eine große Begeisterung der Bevölkerung für die neuen Regierungen feststellen noch den Aufstieg charismatischer Persönlichkeiten, wie wir ihn vor Jahrzehnten erlebt haben. Noch in der ersten Welle »progressiver« Regierungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts konnte man eine größere Mobilisierung der Bevölkerung hinter den Regierungen erkennen, vor allem in Bolivien, wo die MAS (Movimiento al Socialismo) einen großen Teil der sozialen Bewegung effektiv zusammenbrachte und Evo Morales eine anerkannte Führungsfigur war. Die Mitte-Links-Regierungen in Chile, insbesondere die von Lagos und Bachelet, waren jedenfalls weit von dem lateinamerikanischen »Progressivismus« entfernt, der am besten von Evo Morales, Lula, Chávez, Mujica oder Kirchner repräsentiert wurde, da die Regierungen hier in Chile nie einen linken Diskurs im Sinne der anderen Regierungen geführt haben, sondern offen neoliberal waren. Die letzten Wahlen haben in einem Klima der Unsicherheit und allgemeinen Hoffnungslosigkeit stattgefunden (dasselbe Klima, das zur Niederlage von »Apruebo« geführt hat). Diese neuen Regierungen bieten nichts wirklich Neues. Einige, wie beispielsweise in Kolumbien, haben sich in Fragen der Integration auf den neuesten Stand gebracht, indem sie die Geschlechterparität im Staatsapparat fördern und beispielsweise Francia Márquez zur Vizepräsidentin ernannt haben, die zweite Frau und erste Afroamerikanerin in diesem Amt. Die ersten Worte Petros (kolumbianischer Präsident) nach seiner Wahl waren jedoch eindeutig: »Wir werden den Kapitalismus in Kolumbien entwickeln. Nicht, weil wir das so mögen. Aber zuerst müssen wir in Kolumbien die Vormoderne überwinden, den Feudalismus, die neue Sklaverei«. Diese Analyse, die schon vor einem Jahrhundert grundlegend falsch war, als sie von den schlimmsten Versionen des Marxismus und der Sozialdemokratie propagiert wurde, ist heute nicht nur anachronistisch, sondern auch furchtbar gefährlich, weil sie in Ländern wie dem unseren vor allem die unbestrittene Zunahme der Ausbeutung und des Raubbaus an den »natürlichen Ressourcen« bedeutet. Petro macht die ideologischen Prämissen und Regierungspläne sehr deutlich. Einige der neuen Regierungen haben sehr opportunistisch von den jüngsten großen sozialen Aufständen profitiert, vor allem in Chile und Kolumbien (2019 bzw. 2020). Und diese Prämissen sind der Vorwand, eine kleine nationale Industrie zu entwickeln, ein Ziel, das schon bald nach der Regierungsübernahme in den Müll geworfen und durch die Förderung ausländischer Investitionen vor allem im Bereich der Ausbeutung natürlicher Ressourcen ersetzt wird, was ein stabileres soziales Klima verspricht, einerseits durch Kooptation, andererseits durch mehr oder weniger verdeckte Repression.
Die jüngste Geschichte Lateinamerikas und seine dem transnationalen Großkapital unterworfene Entwicklung lässt sich anhand der Umstrukturierung in den 1970er Jahren nachvollziehen. Die Krise des Kapitals in jenen Jahren zeigte bereits Symptome der Überproduktion. Die Rezession jener Jahre erforderte daher eine Umstrukturierung, die die Widersprüche, die sich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrem »goldenen Zyklus« der Akkumulation und dem als Keynesianismus bezeichneten Konsens zwischen Arbeit und Kapital aufgestaut hatten, auflösen sollte, was offensichtlich nur in den Zentren der Kapitalakkumulation möglich war. In diesem Sinne war der neoliberale Ansturm auf die Länder Lateinamerikas (aber nicht nur auf diese) mit zwei Phänomenen verbunden, die unsere derzeitige Situation erklären: Die Finanzierung von Infrastrukturen, die für die Ausbeutung von Ressourcen (Rohstoffe und Agrarindustrie) notwendig sind, was zu einer hohen Auslandsverschuldung beim IWF geführt hat, die allerdings von Land zu Land unterschiedlich ist; und die Proletarisierung der Bauernschaft, die den Prozess der Kapitalverwertung in dieser Region mit billigen Arbeitskräften überschwemmt hat. Die Situation, in der sich die Länder der »Dritten Welt« oder des »Globalen Südens«, wie sie oft genannt werden, befinden, ist das Ergebnis des Einflusses des IWF auf die Region – der Liberalisierung der Ressourcen und der »Strukturanpassung«. Die »Unterentwicklung« kann nicht durch »neo-developmentalistische« Prozesse überwunden werden, denn die aktuelle Krise des Kapitals zeigt sich als harte kommerzielle Konkurrenz zwischen China und den USA und in imperialistischen Kriegen. Sie impliziert daher eine geopolitische Neuordnung des Großkapitals, die jedoch die totale globale Interdependenz offenbart: Die aktuellen Ereignisse sind nichts anderes als der Ausdruck der US-Hegemonie in der Schwebe.
Es gibt inzwischen deutliche Anzeichen für eine Verlangsamung der industriellen Entwicklung oder sogar für eine Deindustrialisierung, so dass das Projekt der »Spätindustrialisierung«, das diese Regionen zu einer untergeordneten Rolle in der Wertschöpfungskette als Rohstoffproduzenten verdammt, zum Scheitern verurteilt ist - und wir halten es seit mehr als 50 Jahren für ein gescheitertes Projekt.. Die Rolle einiger Rohstoffe (wie Kupfer und Lithium) ist für eine angebliche »Energiewende« von entscheidender Bedeutung, so dass sich kapitalistische Projekte in der Region zweifellos in einer stärkeren Unterordnung unter das Diktat des »grünen Imperialismus« manifestieren werden. Diesen Weg haben die »linken« Regierungen zur Erzielung von Profiten übernommen, und zwar auf Kosten der Zerstörung von Land und der Vertreibung indigener und ländlicher Gemeinschaften. Außerdem führt dies nicht zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Lohnabhängigen, sondern ganz im Gegenteil: Die Proletarisierung vertieft sich inmitten einer Krise, in der es immer schwieriger wird eine reguläre Arbeit zu finden, Löhne durch die Inflation ausgehöhlt werden, die organisierte Kriminalität zunimmt, die soziale Zersetzung erheblich zunimmt usw.
Vor allem aber hat uns die Geschichte gezeigt, dass der Staat kein neutrales Organ ist, das mit emanzipatorischen Inhalten gefüllt werden kann, das vom guten Willen und der Führung der Einzelnen abhängt. Der Staat ist die Organisation des Kapitals als Garant und Vermittler der Klassenverhältnisse und der Reproduktion des Kapitals. In der gegenwärtigen Krise betrachten wir den Staat als eine erschöpfte Institution, die nicht in der Lage ist, minimal fortschrittliche Transformationen vorzunehmen - ein Phänomen, das nur in den Zentren der Kapitalakkumulation nach dem Zweiten Weltkrieg möglich war und das sich derzeit infolge der Krise auflöst. Wir halten diese demokratischen Illusionen für gefährlich, weil die Verteidigung des Staates und eines nationalen Projekts zu einer Neofaschisierung angesichts eines dauerhaften Krisenzustands führen kann. Die neue »rosarote Flut« in Lateinamerika hat angesichts der allgemeinen weltweiten Krise nicht viele Möglichkeiten, und bisher haben die Regierungen recht pragmatisch gehandelt, indem sie die neoliberale Politik beibehalten (und im Falle Chiles noch vertieft) und den juristisch-polizeilichen Apparat ausgebaut haben, um den Klassenkampf »ohne Form« zu ersticken. Und das während sie Teile der Lohnabhängigen in ihren unmittelbarsten Forderungen demobilisiert haben und ihnen vorgeworfen haben, »der Rechten in die Hände zu spielen« – alles zur Verteidigung der Demokratie und des nationalen Fortschritts.
- 1. Lasalle kommt in seinem Vortrag „Über Verfassungswesen“ (1862) zu dem Schluss, dass "die Ausarbeitung einer schriftlichen Verfassung am wenigsten wichtig und am wenigsten dringlich" war, verglichen mit der Arbeit, "die realen und effektiven Machtfaktoren im Land zu verändern und zu verlagern". Das war es, "was getan werden musste, damit die spätere schriftliche Verfassung mehr als nur ein Stück Papier ist". Deshalb schließt Lasalles Vortrag mit der Empfehlung an die Zuhörer: "Wenn Sie jemals wieder in der Lage sein sollten, sich eine Verfassung zu geben, hoffe ich, dass Sie bereits wissen, wie diese Dinge gemacht werden, und dass Sie nicht einfach ein Stück Papier aufsetzen und unterschreiben werden, ohne die wirklichen Kräfte, die das Land regieren, zu verjagen".
- 2. Die Administradoras de Fondos de Pensiones (AFP) sind private Rentenfonds. Das chilenische Rentenversicherungssystem wurde unter Pinochet privatisiert und auf das Kapitaldeckungsverfahren umgestellt.